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English Essays Memoir

Lena Dunham – Not That Kind of Girl

CN: Gaslighting, Misogynie, sexuelle Handlungen, Diät, OCD, Depression, Anxiety, Erwähnung von Suizid, Vergewaltigung


But I am a girl with a keen interest in having it all, and what follows are hopeful dispatches from the frontlines of that struggle.

Eines der Bücher, die sich am Längsten auf meiner Merkliste in der Libby-App befinden, habe ich nun mal gelesen. Da weiß ich dann schon nicht mehr, warum es überhaupt auf dieser Liste steht (in der Libby-App kann ich mir dazu leider keine Anmerkungen machen; in der anderen Liste, die ich nur unregelmäßig pflege, weil sie eh viel zu lang ist, habe ich dazu auch nichts gefunden). Ich vermute den Lila Podcast als Anknüpfungspunkt, da wurde die Autorin in mehreren Episoden erwähnt.

Der Untertitel „a young woman tells you what she’s ‘learned’“ deutet auf einen Lernprozess hin. Es handelt sich jedoch um einen impliziten Lernprozess, beinahe mehr einen Sozialisationsprozess, in dem die Autorin gelernt hat, wie die Gesellschaft mit jungen Frauen wie ihr umgeht.

„You can’t please everyone,“ my grandmother always said.
Yes, you can, I thought. If you just work hard enough.

Sie erzählt in thematisch gruppierten Essays von ihren Erfahrungen hinsichtlich Liebe, Freundschaft, Sex und Arbeit, von ihrem Umgang mit dem eigenen Körper und wie dieser Umgang massiv von den von außen auf junge Frauen einprasselnden Erwartungen beeinflusst wurde. Sie spart nicht mit peinlichen Situationen, von denen wir vermutlich als junge Menschen mit wenig Erfahrung alle einige erlebt haben dürften. Sie beschreibt die Situationen, die sie erlebt hat, wie zum Beispiel den Polizisten, der ihr nahelegt, dass sie doch nicht so nett zu dem Mann sein hätte sollen, der ihr nun nachstellt und sie bedroht. Kaum ein (anti-)feministisches Klischee wird ausgelassen, die Kritik bleibt jedoch zumeist zwischen den Zeilen stehen. Sie nimmt ihre eigenen (früheren) Annahmen über die Gesellschaft aufs Korn, ohne sie konkret zu widerlegen. Dadurch bleibt das Buch unterhaltsam, ohne zu sehr auf die Zehen zu treten. (Obwohl es laut Wikipedia doch einigen Menschen auf die Zehen getreten ist.)

I was a working woman. I deserved kisses. I deserved to be treated like a piece of meat but also respected for my intellect.

Vielleicht hätte ich mir etwas anderes erwartet? Erwartungshaltungen sind ja immer problematisch. Mehr Kritik, mehr Hilfestellungen für junge Frauen, mehr Anregungen für gesellschaftlichen Fortschritt, der die geschlechtlichen Ungleichheiten verringert?

Dazu ist das Buch aber nicht angetreten. Der Untertitel sagt es deutlich: eine junge Frau erzählt uns, was sie gelernt hat. Es kann nicht auch noch ihre Aufgabe sein, uns zu erklären, wie wir die Gesellschaft zu verbessern haben.

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Roman

Volker Kutscher – Transatlantik

CN: Gewalt, Mord, Gift, Nationalsozialismus, Drogenmissbrauch, Drogenverkauf, Feuer, Erwähnung Konzentrationslager, Erwähnung sexueller Missbrauch von Kindern


Was für ein beschissenes Geheimnis. Sie merkte, wie einsam sie dieses Geheimnis gemacht hatte. Mit niemandem über Gereon reden zu können.

Da ich letztens irgendwo gelesen habe, dass im Herbst der nächste (und letzte!) Rath-Roman erscheint, hat mich das daran erinnert, dass ich ja dann wohl jetzt Transatlantik in der Onleihe bekommen müsste. Eine Reservierung war notwendig, aber ich musste nicht lange warten. Und alle anderen Leseprojekte wurden vorläufig auf Eis gelegt …

Um nicht zu viel zu verraten, nur ein paar Beobachtungen im Telegrammstil:

  • Es wiederholt sich ein Muster: Menschen, die sich eigentlich nichts zuschulden kommen haben lassen (oder zumindest in bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben), werden erpresst. Oft werden ihre Angehörigen bedroht, wenn sie nicht spuren.
  • Selbst der härteste Gangster kann zu Fall gebracht werden. Wenn auch zumeist nicht von der Polizei sondern von der Konkurrenz.
  • Das Geheimnis-Zitat von oben deutet es an: wenn Menschen ihrem engsten Familien- oder Freund:innenkreis nicht mehr trauen können, können sie sich auch nicht gegen Schikanen wehren. Sie sind dem System ausgeliefert.
  • Neben Machtgewinn oder Machterhalt ist Rache ein wesentliches Antriebsmotiv, selbst für die Charaktere, die in diesen Krimis die Sympathieträger:innen sind.

Er hatte inzwischen etwas verstanden: dass die nationale Revolution, die nationale Einigung und soziale Befriedung Deutschlands, die Heilung eines kranken Landes, dass das alles eine riesengroße Lüge war, dass das nur in den Köpfen irgendwelcher naiver Schwärmer existierte, wie er einer war. Oder hoffentlich nicht mehr war.

Da ich über jedes Buch der Reihe hier schon geschrieben habe, dürfte klar sein, dass ich ein Fan bin. In gewisser Weise reicht dieser Band vielleicht nicht an die bisherigen heran. Und ist trotzdem noch herausragende Krimiliteratur in einem bedrohlichen historischen Kontext.

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Jugend Roman

Ursula Poznanski – Saeculum

CN: Gewalt, Waffen, Kampf


Von Ursula Poznanski hatte ich schon ein anderes Buch wegen eines Geocaches gelesen und dieses kam auch aus dieser Richtung zu mir.

Was für ein tolles Buch! Ein Thriller im Umfeld eines Live-Action-Roleplays: eine Gruppe junger Erwachsener fährt für einige Tage in einen verwunschenen Wald, in dem sie die nächsten Tage leben wollen, wie es im 14. Jahrhundert üblich war. Alles, was es damals noch nicht gab, ist verboten (unter anderem: die Brille des Protagonisten Bastian).

Die Stimmung verdüstert sich durch Gewitter, gefundene Rindenstücke mit Gedichten über einen Fluch darauf, Maden in den Essensvorräten und schließlich das Verschwinden von Menschen aus ihrer Gruppe. Ein weiteres Gewitter jagt die verbleibenden Rollenspieler:innen in eine Höhle, in der sich die Situation zunehmend zuspitzt und der Fluch so real zu werden scheint, dass ein Menschenopfer nicht mehr ausgeschlossen werden kann.

Ohne Spoiler kann ich wirklich nicht mehr schreiben. Da ich euch nicht das Lesevergnügen verderben will, werde ich das auch nicht tun und empfehle allen, die sich für Mystery am Rande von Wahrheit und Fantasie begeistern können, dieses Buch auf ihre Leseliste zu setzen.

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English Roman

Elizabeth Strout – Oh William!

CN: Trauer, 2. Weltkrieg, Konzentrationslager, PTSD, Depression, Fehlgeburt, Gewalt, Essstörung, Suizidgedanken

Unter der Buchbeschreibung: ein Exkurs zu Archiven mit historischen Speisekarten.


I feel invisible – as I have said – and yet in that situation I had the strangest sensation of both being invisible and yet having a spotlight on my head that said: This young woman knows nothing.

Aus Alltagsgründen ist dieser Post leider der Verschleppung zum Opfer gefallen. Die Autorin lässt hier eine ihrer bekannten Figuren auftreten: Lucy Barton (bisher hier gelesen und beschrieben: My Name is Lucy Barton). In diesem Buch dreht es sich hauptsächlich um Lucys ersten Ehemann William. Die Zeitebenen sind teilweise etwas verwirrend, denn Lucys zweiter Ehemann ist kürzlich verstorben. Beschrieben wird ihre jetzige Beziehung zu ihrem früheren Ehemann William und den zwei gemeinsamen Töchtern.

What a strange thing life is.

Wer diesen Erzählstil mag, wird sich darin unfassbar wohl fühlen. Es wird nicht gespart an lebenswichtigen Themen, doch zumeist aus der Zukunft in Rückblenden erzählt. Dadurch gewinnen selbst die dramatischen Ereignisse eine gewisse Ruhe im Sinne von „wir können alles überleben“. Lucy Barton beschreibt ihr Leben, ihre Begegnungen mit bekannten aber auch unbekannten Menschen und kommt letztlich zum Schluss, dass wir niemals einen Menschen wirklich kennen können. Nicht mal uns selbst. Diese Erkenntnis, die sich hoffnungslos anfühlen könnte, ist in Wirklichkeit das Versprechen, dass wir uns immer neu entdecken können. Uns selbst, aber auch die Menschen um uns, von denen wir glauben, sie zu kennen.

We do not know anybody, not even ourselves!


Kürzlich bin ich auf einen Artikel gestoßen, der sich mit den kulturellen Eigenschaften von Speisekarten beschäftigt (how to read menus as cultural texts?). Dabei wurden viele interessante Aspekte angesprochen:

  • Speisekarten können durch die Wahl der Sprache (mit)bestimmen, wer dort essen darf. Eine Speisekarte ausschließlich in französischer Sprache in einem nicht-französisch-sprachigen Land verlangt dementsprechend ein gewisses kulturelles Kapital von seinen Besucher:innen.
  • Früher stand eine ausführliche Speisekarte mit vielen Auswahlmöglichkeiten für die Qualität des Restaurants. Heute wird zumeist eine kürzere Speisekarte als hochwertig angesehen. Die Lieferrestauraunts, die Pizza, Schnitzel, Nudeln, Burger und was auch immer anbieten, machen oft genug nichts davon gut. Das weltberühmte Restaurant noma in Kopenhagen bietet überhaupt nur ein Menü für alle Gäste an.
  • In Japan ist es nicht nur üblich, Abbildungen der Gerichte in Speisekarten oder auf Plakaten abzudrucken. Es gibt auch viele Restaurants, wo Plastikmodelle der Speisen den Besucher:innen vorab zeigen, worauf sie sich einlassen. Die gleiche Praxis wird in den USA tendenziell als billig empfunden.

Schaufenster eines Restaurants in Japan, die angebotenen Speisen sind als Plastikmodelle in schräg zur Betrachter:in geneigten Tellern abgebildet

Reingekippt bin ich auf das Thema auch, weil mich in dem Stockerau-Buch die Speisekarte aus den 1970er-Jahren so amüsiert hatte. Am Ende des Artikels sind mehrere Büchereien genannt, die eine Sammlung von historischen Speisekarten haben und diese auch (zumindest teilweise) online zur Verfügung stellen.

  • Mit dem Angebot der New York Public Library konnte ich leider nichts anfangen. Die Suchfunktion gibt mir eine Fehlermeldung und wenn ich einzelne Speisekarten anklicke, werden die Bilder nicht angezeigt. Ist aber vielleicht nur bei mir so …
  • Mehr Erfolg hatte ich in der Conrad N. Hilton Library. Mit dem Suchbegriff „Austria“ hatte ich schnell eine Speisekarte des „Liesinger Stadtkellers“ aus dem Jahr 1950 gefunden. Wie auch die Speisekarte in dem oben genannten Buch, ist diese Speisekarte mit Schreibmaschine geschrieben, Basis ist eine Art Briefpapier, das in rot und schwarz gedruckt den Namen und die wichtigsten Informationen zum Lokal enthält. Zusätzlich in rot gedruckt sind einige dekorative Objekte an den Rändern links und rechts sowie eine Werbung für Swiss Air am unteren Rand der Seite.
    Die angebotenen Speisen sind zahlreich und sehr variabel. Allein schon die Liste der Vorspeisen ist international. Sie enthält unter anderem
    Hors d’ oevre varie de LUXE (sic!), eine Schwedenplatte, Russische s Ei (sic!), Ung. Eiersalat, Ital. Fleischsalat, Bayr. Ochsenmaulsalat und Strassburger Gansleber in Terrine m.Toast.
    Bemerkenswert ist auch, das die Preise sehr variieren: Mit 6.50 Schilling ist das Russische Ei die billigste kalte Vorspeise, demgegenüber stehen die Hors d’ oevre varie de LUXE mit 48.– Schilling. Dabei handelt es sich auch insgesamt um das teuerste Gericht der Karte, keine der Hauptspeisen schlägt mit mehr als 28.– Schilling zu Buche.
  • In der digital menu collection der University of Washington konnte ich nichts finden mit den Suchbegriffen nach europäischen Ländern. Also habe ich etwas herumgestöbert und fand hier Beispiele für die oben genannten Themen: das mexikanische Restaurant Casa Lupita in Seattle hatte im Jahr 1975 eine umfangreiche Speisekarte, das teuerste Gericht ist das Deluxe Mexican Dinner um 6.45 $. Bei Tacos, Burritos, Chalupas und Enchiladas kann aus mehreren Füllvarianten ausgewählt werden. Enchiladas ohne Fleisch sind günstiger als jene mit Huhn oder Rind.
    In einer deutlich anderen Liga spielt da der Seattle Yacht Club mit seinem luncheon menu, approximately 1975. Schon die Titelseite sticht heraus mit dem vielen Weißraum und der großzügigen Serifenschrift. Trotz Recherche mittels identifont und whatthefont konnte ich die Schriftart nicht einwandfrei identifizieren. Im Speisenangebot ist eine umfangreiche Auswahl an Sandwiches, „all the above served with fruit cup, cottage cheese or potato salad“. Auf der dritten Seite der Speisekarte werden dann verschiedene Speisen unter der Überschrift „This and That“ angeboten. Diese Speisekarte ist auf beigefarbenem Papier gedruckt mit mindestens drei Farben (rot, schwarz und grau). Die gesamte Aufmachung der Speisekarte wirkt deutlich wertiger als diejenige des oben genannten mexikanischen Restaurants Casa Lupita, obwohl bei den Preisen gar nicht so viel Unterschied besteht.

Die Recherche zu diesen historischen Speisekarten ist einer der Gründe, warum ich diesen Post verschleppt habe. Ich hätte mich noch ewig durch die Archive klicken können. Wenn ihr also eine ähnliche Begeisterung verspürt, rate ich euch, nehmt euch Zeit, ihr werdet sie brauchen.

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Roman

Radek Knapp – Herrn Kukas Empfehlungen

CN: Rassismus, Gewalt, sexuelle Handlungen

Weiter unten: Bericht über den Besuch des medizinhistorischen Museums Josephinum in Wien.


Gelesen für einen Literatur-Geocache, Parallelen entdeckt zu Alexandra Tobor – Sitzen vier Polen im Auto. Der Protagonist Waldemar, wohnhaft in Warschau, hat sich in den Kopf gesetzt, die Sommerferien „im Westen“ zu verbringen. Auf Empfehlung des titelgebenden Herrn Kukas – einer von Beginn an klar als zwielichtig zu erkennenden Gestalt, die jedoch den gesamten Verlauf der Geschichte prägt – reist Waldemar nach Wien.

Unwissend und suchend stolpert Waldemar durch das fremde Land, in dem er erst Erfolg hat, als er jede von Herrn Kukas Empfehlungen missachtet. Es lässt sich spekulieren, dass der Autor Radek Knapp in diesem Buch seine eigene Immigration nach Österreich verarbeitet bzw. zum Ausgangspunkt nimmt. Er lässt seinen Protagonisten von einer brenzligen Situation in die andere geraten, jedoch zumeist immer mit dem Schrecken davon kommen.

Ein kurzweiliger Roman, der zwischen den unterhaltsamen Geschichten durchscheinen lässt, wie einsam und verloren sich ein junger Mann in einem fremden Land, in einer unbekannten Gesellschaft fühlen kann.


CN Museumsbericht: Erwähnung von Gewalt, Ableismus, Nationalsozialismus, Rassismus, medizinische Details (inkl. Fotos von Wachsmodellen)

Kürzlich besuchte eine kleine Gruppe von Interessierten im Rahmen der 2. Hacktour das medizinhistorische Museum Josephinum in Wien. Anlass war die aktuelle Sonderausstellung „de auribus – 150 Jahre Ohrenklinik Wien“.

weißes Gebäude mit hohen Fenstern und klassizistischen Verzierungen, davor ein Brunnen mit der Statue einer Frau, die eine Schlange hält
Josephinum Wien, Gebäude aus dem Jahr 1785 im Stile eines klassizistischen Pariser Stadtpalais, entworfen von Isidore Canevale

In der spannenden Führung erfuhren wir unter anderem, dass das Josephinum von Kaiser Joseph II. 1785 als militärchirurgische Akademie gegründet wurde. Die Verbesserung des österreichischen Gesundheitssystems war ihm ein großes Anliegen. Joseph II. ließ in Florenz eine Unmenge an Wachsmodellen anfertigen, die angehenden Chirurgen als Lehrstoff dienen sollten. Die Wachsmodelle waren jedoch schon damals auch der Öffentlichkeit zugänglich, sie wurden als Kuriosität kontrovers diskutiert.

Raum mit Wachsmodellen, im Vordergrund liegt ein Ganzkörpermodell in einem Glaskasten, im Hintergrund an den Wänden sind verschiedene Modelle des Torsos in kleineren Kästen aufgereiht
Wachsmodelle in der Sammlung des Josephinums

Diese Wachsmodelle bilden heute den Kern der Sammlung des Josephinums. Sie stellen zumeist einzelne Körperteile dar, zB Schädel, Hände oder Organe. Einige Ganzkörpermodelle gehören ebenfalls zur Sammlung. Sie liegen in großen Glaskästen und veranschaulichen etwa den Verlauf des Lymphsystems im menschlichen Körper oder Muskeln und Sehnen. Die Modelle bestehen aus Wachs und müssen dementsprechend sicher und temperiert gelagert werden; laut unserer Guide-Person haben sie die Räumlichkeiten seit ihrer Lieferung nach Wien Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr verlassen. Es ist kühl im Museum, alle Fenster sind mit weißen Flächen verdeckt. Das gibt der Ausstellung eine besondere Stimmung. In den meisten Räumen stehen dekorative Kachelöfen, die vermutlich früher zur Beheizung der Räume im Winter gedient haben.

Nahaufnahme von Kopf und Oberkörper eines Wachsmodells, vom rechten Arm sind Knochen und Sehen zu sehen, der Körper liegt auf dem Bauch und scheint sich mit der rechten Hand nach oben zu stemmen
Nahaufnahme von Kopf und Oberkörper eines Wachsmodells

Wie wir im Rahmen der Führung erfahren durften, wurden die Wachsmodelle in Florenz von Künstlern gefertigt. Die Posen der Ganzkörpermodelle erinnern daher an Statuen, wie sie im Italien des späten 18. Jahrhunderts üblich waren. Sie liegen dramatisch drapiert in ihren Glaskästen, was zudem den Vorteil hat, dass je nach Pose spezifische Details des Körpers überhaupt erst sichtbar gemacht werden. Die Modelle bestehen vollständig aus Wachs, einzig die Augen sind aus Glas.

Raum mit Wachsmodellen, an der rechten Seite steht in der Raumecke ein weißer Kachelofen, er ist rund und hat unten mehr Durchmesser als oben und wirkt dadurch wie ein Türmchen
Raum mit Wachsmodellen und Kachelofen

Im Erdgeschoss widmen sich mehrere Räume der Geschichte der Medizin und vor allem ihrer Entwicklung. Von unserer Guide-Person erfuhren wir unter anderem, dass medizinischer Fortschritt oft mit Kriegen einher ging, zB wurde die plastische Chirurgie nach dem 1. Weltkrieg entscheidend weiter entwickelt.

Auch im Rahmen des 2. Weltkriegs wurde Forschung betrieben, damals jedoch zumeist unter grausamsten Umständen. Wir stehen in einem Raum, dessen drei innere Wände von Kästen bestellt sind. In den Kästen sind große, leere Gläser zu sehen. Sie dienten damals zur Aufbewahrung von Gehirnen ermordeter behinderter Menschen. Den Beschriftungen der Gläser ist zu entnehmen, dass die Forscher*innen versucht haben, die wahrnehmbaren körperlichen Behinderungen der Forschungsobjekte mit dem Zustand ihres Gehirns zu vergleichen und damit zu erklären. In Wien passierte dies in der Klinik Steinhof, die Abteilung für Kinder und Jugendliche wurde damals „Am Spiegelgrund“ genannt. Heute befindet sich am Steinhof unter anderem eine Gedenkstätte für die Opfer der NS-Medizinverbrechen.

Ausstellungsraum, im Hintergrund der im Text beschriebene Schrank mit leeren Gläsern, vorne ein Glaskasten, in dem eines dieser Gläser mitsamt seiner Beschriftung in den Vordergrund tritt
Ausstellungsraum mit leeren Gläsern, die während der NS-Zeit zur Aufbewahrung von Gehirnen ermordeter Menschen dienten

Erst zum Ende der Führung gelangten wir zur Sonderausstellung, die leider ziemlich klein ist. Ein Raum befasst sich mit der Gründung der weltweit ersten Ohrenklinik in Wien im Jahr 1873. In der Dauerausstellung sind Ausstellungsstücke, die mit der Ohrenklinik in Zusammenhang stehen, mit einem roten Sticker gekennzeichnet. In Folge der Gründung besuchten Ärzte aus der ganzen Welt die Ohrenklinik, um von den hier ansässigen Spezialisten zu lernen. Auch die Entwicklung von vielen Hörunterstützungen geht auf die Forschung an der Wiener Ohrenklinik zurück. Das heute weit verbreitete Cochlea-Implantat beruht unter anderem auf der Arbeit von Ingeborg und Erwin Hochmair in Österreich.

eine Wand mit mehreren Schaukästen, rechts oben ein Ohrenmodell in einem goldenen Rahmen, bei dem deutlich die Hörschnecke zu erkennen ist
Modelle aus verschiedenen Epochen, die die Funktionalität des Ohres illustrieren sollen

Auch die Gehörlosenbildung in Österreich geht auf Joseph II. zurück. Mit dem Taubstummeninstitut, nachdem heute die Taubstummengasse benannt ist, gründete er das erste Bildungsinstitut in Österreich für gehörlose Kinder.

Von der Sonderausstellung hatte ich mir tatsächlich etwas mehr erwartet. Für jene, die die Dauerausstellung des Josephinum bereits kennen, lohnt sich ein Besuch nur wegen der Sonderausstellung vermutlich nicht. Als Gesamtpaket auch mit der Führung durch das Museum war unser Besuch aber sehr interessant, gerade durch die Führung haben wir viele Details erfahren, die auf den Schautafeln nicht unbedingt erwähnt sind. Für mich ein gelungener Museumsbesuch zu einem Thema, mit dem ich mich vorher noch nicht befasst hatte.

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English Krimi Roman Thriller

Ruth Ware – Zero Days

CN: Mord, Gewalt, Beziehungsgewalt, Trauer


If they were [monitoring my emails already], there was nothing I could do about that now. I just had to keep going, putting one foot in front of the other.

Ruth Ware tauchte kürzlich in einem Lithub-Post auf. Ihr neuestes Buch One Perfect Couple ist in der Overdrive-eLibrary (noch?) nicht zu finden, daher griff ich stattdessen zu ihrem letzten Roman davor (2023). Obwohl mir die Bedeutung eines Zero-Days durchaus bekannt war, habe ich aus dem Titel keine Schlüsse gezogen. Umso besser, so konnte ich dieses Buch einfach genießen.

Protagonistin Jacintha „Jack“ Cross bricht beruflich in Gebäude ein, um die dortigen Schwachstellen im Sicherheitssystem aufzudecken. Als sie nach einer besonders langen Nacht nach Hause kommt, findet sie ihren Ehemann Gabe ermordet vor. Es dauert nicht lange, bis auch noch der Verdacht auf sie fällt. Von einem Moment auf den anderen ist Jack auf der Flucht. Die Polizei ist hinter ihr her, sie steht tagelang unter Strom und hat doch nur ein einziges Ziel: den wahren Mörder ihres Mannes zu finden.

Dieses Buch hat alles, was ich mir von einem Thriller wünschen könnte: eine starke und glaubwürdige Protagonistin, ein interessantes Umfeld (ihre Erfahrungen als Pen-Testerin helfen Jack immer wieder, ihre Verfolger:innen auszutricksen), überraschende Wendungen und ein Ende, das uns auch noch erzählt, wie es Jack ein Jahr nach den Ereignissen geht. Gute Unterhaltung für Freund:innen dieses Genres.

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Roman

Anna Weidenholzer – Weshalb die Herren Seesterne tragen

CN: Alkoholmissbrauch


Kürzlich habe ich für einen Literatur-Geocache ein anderes Buch der Autorin gelesen (Der Winter tut den Fischen gut). Da ich aus der Geocache-Beschreibung das Buch nicht eindeutig identifizieren konnte, hatte ich in der Bücherei alle drei Bücher von ihr in der Hand, bis ich das Richtige gefunden hatte. Die anderen beiden klangen aber auch interessant, also habe ich mir dieses mitgenommen.

Der Protagonist Karl fährt in ein zufällig ausgewähltes Dorf, um zufällig ausgewählte Personen zu befragen. Mit dem Fragebogen zum Bruttonationalglück aus Bhutan versucht er, den Grundlagen des Glücks und der Zufriedenheit nachzugehen. Er betrachtet sich als Forscher, der eine Distanz zu seinen „Forschungsobjekten“ behalten muss. Daher haben abgesehen von Karl und dem Hund Annemarie die Protagonist:innen dieses Buchs keine Namen, Karl bezeichnet sie als M1 und F1. Die Gespräche gleiten aber immer wieder vom Fragebogen ab und in die reale Lebenswelt der befragten Personen. Die Distanz lässt sich nicht aufrecht erhalten.

Vielleicht sind das Schlimmste diese Gerüchte, sagte die Wirtin, die sich halten und überdecken, was darunter liegt.

Warum Karl diese Reise antritt, wird nie konkret gesagt. Meine Vermutung ist, dass Karl mit seinem eigenen Leben unzufrieden ist und deshalb durch das Befragen anderer Menschen herausfinden will, was ihm fehlt. Die Gerüchte über ihn selbst sind es jedenfalls, die ihn schließlich zur überstürzten Abreise führen. Für die titelgebende Frage gibt es übrigens auch keine eindeutige Antwort. Da erzählt jede:r Dorfbewohner:in seine:ihre eigene Geschichte.

 

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Roman

Eva Menasse – Dunkelblum

Hinweis: Leider hatte ich Probleme mit dem ausgeborgten eBook und kann nicht mehr auf alle meine Notizen zugreifen. Die CNs sind daher aus dem Gedächtnis, ich hoffe, nichts vergessen zu haben.

CN: Krieg, Holocaust, Antisemitismus, Rassismus, Kriegsverbrechen, Mord, Gewalt, Nationalsozialismus, Zwangsarbeit, sexuelle Gewalt


Wieder mal ein Buch, auf das ich durch einen Literatur-Geocache gestoßen bin. Wäre das nicht so gewesen, ich weiß nicht, ob ich es vielleicht weggelegt hätte. Es ist so deprimierend, zu lesen, wie rund um den Mauerfall in einem burgenländischen Dorf noch immer alle über vergangene Kriegsverbrechen schweigen, weil damals halt alle irgendwie beteiligt waren. Das Rätsel wird nicht wirklich aufgelöst oder ich habe es überlesen, weil die hohe Anzahl der beteiligten Personen und der ständige Wechsel der Perspektiven einfach zu kompliziert war.

Natürlich dürfen wir gerade in der heutigen Zeit #NiemalsVergessen und müssen uns für die Demokratie einsetzen. Dieses Buch hat mich aber eher frustriert und deprimiert, als ein Zeichen für demokratisches Handeln zu setzen. Es erzählt eher, wie tief verwurzelt rassistische und antisemitische (sprich: menschenfeindliche) Einstellungen sind und legt nahe, dass sich das auch niemals ändern wird. Eine Perspektive, die natürlich wichtig ist, über die ich persönlich aber lieber aktuell nicht lesen möchte.

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Bildband Sachbuch

Ernst Lauermann, Wolfgang Maresch – Seinerzeit in Stockerau

CN: Weltkrieg, Holocaust, Antisemitismus


Das zweite Buch über meine Heimatstadt (über das erste habe ich hier geschrieben) ist aus einer Facebook-Gruppe entstanden, die während der Lockdowns in der Corona-Pandemie gegründet worden war. Es beinhaltet Bilder und Geschichten aus den Jahren 1930 bis 1990, eine Zeitspanne, die sich am Ende schon mit meiner Lebenszeit überschneidet. Dementsprechend kann ich mich tatsächlich an manche der erwähnten verblichenen Gaststätten oder Geschäfte noch erinnern (zB an die Spielwarenhandlung Falk, die zu Weihnachten immer eine Modelleisenbahn im Schaufenster hatte, die durch Knopfdruck von außen gestartet werden konnte). Etwas traurig bin ich immer noch, dass die Bäckerei / Greißlerei Schwarz, in der ich als Schulkind oft meine Jause gekauft bekam, nicht erwähnt ist.

Bestätigt fand ich meine Vermutung aus dem ersten Post, dass die Bahnlinie von Wien Richtung Nordwesten lange in Stockerau endete. Wikipedia weiß, dass ab 27. Mai 1979 die Strecke bis Hollabrunn befahren wurde. Davor endete die S3-Strecke in Stockerau.

Köstlich amüsiert habe ich mich schon beim ersten Durchblättern des Buchs über die abgedruckte Speisekarte des Gasthofs „Zum Goldenen Schwan“. Darauf wird zum Beispiel die Speise „Garniertes Ei o.Schinkenrolle“ um 7 Schilling angeboten. Schinkenrolle habe ich als Kind nach dem Hallenbadbesuch im Hallenbadrestaurant gern gegessen. Das teuerste Gericht auf der überschaubaren Karte ist „1/2 Backhuhn m. gem. Salat“ um 30 Schilling. Erstaunt hat mich, dass auf dieser Speisekarte aus den 1970er-Jahren bereits „Thunfisch garniert“ angeboten wird. Neben den Mehlspeisen ist das einzige vegetarische Gericht auf der Karte „Champignons gebacken m. Sauce Tartar“ um 19 Schilling – ganz schön teuer im Vergleich zum „Rindsgulyas“ um 14 Schilling (dabei sind allerdings keine Beilagen verzeichnet).

Mit den Stockerauer Festspielen verbindet mich eine eigene Geschichte. Im Rahmen eines Schulprojekts führte ich gemeinsam mit zwei Freundinnen an einem Abend eine Befragung der Gäste der Stockerauer Festspiele durch. Das war vermutlich das erste Mal in meinem Leben, das ich auf einer Bühne stand und in ein Mikrofon sprechen sollte. Die Ergebnisse der Befragung waren jedoch ein Erfolg und wir wurden auch ausgezeichnet benotet für unseren Einsatz. (In diesem Jahr wurde übrigens „The King & I“ unter der Intendanz von Alfons Haider gespielt.) Aus dem Buch habe ich erfahren, dass die Stockerauer Festspiele 1964 unter Otto Kroneder mit der Aufführung von „Jeanne oder Die Lerche“ erstmals dokumentiert sind.

im Vordergrund ein reich mit Gold verzierter Mann in einem roten Gewand mit kurzen Hosen, im Hintergrund hält eine Dame in einem ausladenden weißen Kleid ein offenes Buch vor sich
Szenenfoto aus „The King & I“, im Vordergrund Alfons Haider als König von Siam, dahinter liest die Darstellerin der Anna aus einem Buch vor

Mehr Trivia:

  • Erwähnt wird im Buch auch ein Auftritt von Drahdiwaberl und Falco am 19. Dezember 1981 in der Diskothek der Familie Gehnal. Auf dem dazugehörigen Plakat wird ein „Super – Show – Spektakel der Gruppe Dradiwaberl mit Falko“ (sic!) angekündigt. Vermerkt ist mit einem Stern außerdem „* Der Kommissar“.
  • Neu war mir auch, dass der Brunnen neben dem Rathaus im Jahr 1953 als Erinnerung an den alten Stockerauer Hafen errichtet wurde. Den Brunnen habe ich mir vorher noch nie genauer angesehen, ich hätte nicht sagen können, was für eine Figur da drauf steht.
Brunnen vor dem Rathaus, auf einem Steinsockel steht eine Person mit Umhang im Bug eines Bootes, der Bug ist von steinernen Wellen umkranzt
Donaubrunnen oder Schifferbrunnen, 1953 zur Erinnerung an den alten Stockerauer Donauhafen errichtet
  • „In Stockerau gibt es 60 registrierte Sportvereine.“
  • Die Texte, die in diesem Buch recht ausführlich sind und auch viele Zeitzeug:innen-Berichte enthalten, zeichnen sich stellenweise durch eine äußerst blumige Sprache aus:

Der Abriss [des alten Bahnhofsgebäudes] und der darauffolgende Neubau können als Werk von Kulturhunnen und Asphaltbarbaren bezeichnet werden.

  • In eine weitere Runde ging die Recherche zur ersten Ampel in Stockerau. In diesem Buch wird nämlich erzählt, dass am 3. September 1960 die erste Verkehrsampel am „Scharfen Eck“ in Betrieb genommen wurde. Das stellt einen Kontrast dar zu den Informationen, die ich im Rahmen meines Textes zum ersten Stockerau-Buch zum Kreisverkehr am Wimmer-Eck recherchiert hatte. Als dieser nämlich 2020 die dortige Ampel ersetzte, hieß es in vielen Artikeln, das wäre die älteste Ampelregelung Niederösterreichs gewesen. Belege für das eine oder andere konnte ich nach wie vor nicht auftreiben. Vielleicht finde ich in diesem Zuge noch heraus, wie so ein Stadtarchiv funktioniert …
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Fantasy Roman

Maike Claußnitzer – Tricontium

CN: Gewalt, Schlacht, Mord


Letzten Herbst habe ich auf Mastodon nach Empfehlungen gefragt (hier sind die gesammelten Empfehlungen). Als Erstes hab ich mir dieses Buch aus den Empfehlungen rausgesucht, das hat nichts mit meinen Gedanken über die Empfehlungen zu tun, sondern sich einfach so ergeben.

Bekommen habe ich eine Fantasy-Geschichte in einem Land, das ich in meinem Kopf irgendwie mit Großbritannien visualisiert habe, weil so viele Mittelalter-Geschichten, die ich in der Vergangenheit gelesen habe, dort spielen (zB meine geliebte Uthred-Reihe). Die im Roman auftretenden Charaktere sind alle fein gezeichnet, haben Hintergrund-Geschichten, die in vielen Rückblenden erzählt werden und ihren Entscheidungen eine Logik verleihen. Viel der Handlung spielt sich in diesen Rückblenden ab, was auch viele Kampf- oder Schlacht-Geschichten entschärft, weil die Leser:in einfach schon weiß, dass die Protagonist:innen die gefährliche Situation überlebt haben und jetzt davon erzählen können.

„Ob entschuldbar oder nicht, es ist erklärlich. Wenn man Angst hat, tut man viele Dinge, die man sonst lieber vermeiden würde.“

So wird Stück für Stück eine Verschwörung aufgedeckt, deren komplizierte Fäden ich beim Lesen mehr als einmal beinahe fast verloren hätte. Das langsame Fortschreiten mag für Liebhaber:innen von Action-Serien, wo in einer Episode so viel passiert, wie anderswo in einem ganzen Buch, nicht wünschenswert sein, für mich war es aber sehr entspannend. Männer- und Frauenrollen sind in diesem Buch nicht klar abgegrenzt, beide Geschlechter treten als Krieger:innen, aber auch als handarbeitende Personen auf.

Einziger Wermutstropfen für mich: der allerliebst mit sehr viel hündischem Charakter beschriebene Drache Gjuki hat keinen großen Auftritt. Ich hoffe sehr, dass die weiteren Romane der Autorin, die im selben Universum spielen, hier Abhilfe schaffen.

Gjuki regte sich im Schlaf und ließ ein Fauchen vernehmen; seine Drachenträume mussten unruhig sein.