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Roman

Josef Haslinger – Jachymov

CN: politische Gewalt, Folter, Tod durch Krankheit, Krieg


Weil ich es anders gerade nicht schaffe, kommt nach langer Zeit wieder mal ein Post im Telegrammstil:

  • Der Autor verarbeitet ein Stück Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts in Romanform. Ich will ihm nicht unterstellen, dass er sich damit der exakten Recherche entziehen wollte, es sind jede Menge Details im Buch enthalten, die vermutlich (?) stimmen, die sich überprüfen lassen sollten.
  • Erzählt wird die Familiengeschichte einer Person, die nur die Tänzerin genannt wird bzw. eigentlich die Geschichte ihres Vaters, der als Eishockey-Spieler in der tschechoslowakischen Nationalmannschaft große Popularität erlangte und dann Opfer der politischen Wirren dieser Zeit wurde.
  • Während seiner Zwangsarbeit in den Uranminen im Lager Jáchymov erleidet er Verstrahlungen, die schließlich zu seinem frühen Tod führen. Die Tänzerin verarbeitet diese Geschichte ihres Vaters auf Betreiben des Verlegers Anselm Findeisen. Sein Charakter bleibt blass, für mich ergab die Rahmenhandlung keinen weiteren Sinn.
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English Roman

Torrey Peters – Detransition, Baby

CN: sexuelle Handlungen (inkl. Kink und Sexarbeit), Beziehungsgewalt, Drogenmissbrauch, Suizid, Transfeindlichkeit, Fehlgeburt, Mord, Heteronormativität, Dysphoria

(Einen Teil dieser Themen werde ich auch weiter unten in diesem Post ansprechen, weil es die Geschichte maßgeblich beeinflusst. Wenn dir das gerade schwer fällt, solltest du diesen Post vielleicht auslassen oder später lesen.)


Was für ein Buch. Zuerst möchte ich sagen, dass ich als weiße cis-Frau mir nicht anmaße, diese Geschichte in irgendeiner Form zu bewerten. Dieses Buch ist auf eine Art queer, dass ich einerseits das Gefühl habe, neue Aspekte kennen gelernt zu haben, und mich andererseits frage, in welchem Ausmaß diese Aspekte in der Realität überhaupt auf die queere Trans-Community zutreffen. Eine (Teil-)Antwort auf diese Frage folgt weiter unten.

Die Hauptprotagonist:innen dieser Geschichte:

  • Reese. Trans-Frau mit komplexen sexuellen Beziehungen, die immer auch von dem Wunsch geprägt sind, als Frau Bestätigung zu finden. Reese neigt zu Impulsivität und Drama, sie springt spontan aus einer Beziehung in die Nächste. Ob sie Mutter sein will, weil sie tatsächlich ein tiefes Verlangen nach Mutterschaft hat oder weil es für sie die ultimative Bestätigung ihrer Weiblichkeit bedeutet, bleibt bis zum Schluss unklar.
  • Ames/Amy. Trans-Frau, die nach einigen Jahren Leben als Trans-Frau Amy sich entschlossen hat, zu detransitionieren (mir fällt kein passendes deutsches Wort dafür ein?) und nun wieder als Mann lebt. In Ames brodelt die Frage nach seiner:ihrer eigentlichen Identität. Er weiß, dass er trans ist, hat sich aber gegen das Leben als Trans-Frau entschieden, weil es ihm zu schwer erschien. Gleichzeitig hat er massive Schwierigkeiten, eine männliche Identität für sich zu finden bzw. zu definieren. Dieser Zustand macht es ihm auch unmöglich, sich als Vater eines Kindes zu sehen.
  • Katrina. Cis-Frau, die vom detransitionierten Ames schwanger wird. Obwohl Katrina sich zuerst komplett betrogen fühlt, als sie erst von Ames’ Transsexualität erfährt, als sie schwanger wird, zeigt sich in Katrina deutlich eine Offenheit gegenüber queerem Leben. Sie hat tief sitzende Vorbehalte wie zum Beispiel traditionelle Familienbilder, will aber offen sein für alternative Modelle. Ihre eigene Mixed-Race-Herkunft spielt dabei eine große Rolle. Mit Diskriminierung und Marginalisierung hat sie Erfahrung. Mit der Trans-Community aber nicht.

Auf der Basis dieser drei Charaktere und ihrer Freund:innenkreise gibt das Buch tiefe Einblicke in das queere Leben, speziell das Leben von Trans-Frauen in New York. Einerseits vermisst Reese ältere Trans-Frauen als Vorbilder, andererseits durchzieht ihre Gespräche mit anderen Trans-Frauen ein beißender Spott über die so genannten baby transes (Menschen, die in ihrem Trans-Leben noch am Anfang stehen). Reese sehnt sich nach Bestätigung ihrer Weiblichkeit. Das geht soweit, dass Beziehungsgewalt für sie zur Bestätigung ihrer Weiblichkeit wird.

So yeah, Stanley, bring it on. Hit Reese. Show her what it means to be a lady.

Ames/Amy kämpft mit dem Widerspruch, zu wissen, dass er trans ist, aber trotzdem detransitioniert zu haben. Dieser Widerspruch drängt sich durch Katrinas Schwangerschaft in den Vordergrund. Plötzlich ist Ames gezwungen, seine Männlichkeit zu hinterfragen und sich selbst darüber klar zu werden, ob er für dieses Kind ein Vater sein kann.

And finally, there, an answer: He does not want his child to know him as he is. […] He cannot promise that he is sure of who he is, and so he cannot promise that Katrina or their baby will have an unchanging constant as either a partner or a father.

Das obige Zitat finde ich deshalb so wichtig, weil es eine Annahme hervorhebt, die an Menschen in traditionellen heteronormativen Beziehungen üblicherweise gestellt wird: Dass die beteiligten Menschen sich nicht verändern. Eine Annahme, die niemals zutreffen kann, weil sich jeder Mensch durch die Erfahrungen seines Lebens verändert. Bei manchen sind das tiefe Einschnitte ins Leben, bei anderen ist es einfach nur der Alltag. Eine Unveränderlichkeit von Menschen (oder Eltern) ist von vornherein eine Illusion. Genau diese Illusion machen sich aber sowohl Katrina als auch Ames.

Katrina setzt sich zuerst hauptsächlich mit der unerwarteten Schwangerschaft auseinander. Die Tatsache, dass sie gerade eine Scheidung hinter sich hat, der eine Fehlgeburt voraus ging, bringt sie in eine Lage, in der sie einerseits unsicher ist, ob sie das Risiko einer Schwangerschaft überhaupt eingehen will. Dazu kommt die Unsicherheit, nicht wissen zu können, ob Ames ihr ein zuverlässiger Partner in der Betreuung und Erziehung des Kindes sein kann. Dass Ames seine Ex-Partnerin Reese als zweite Mutter ins Spiel bringt und ein queeres Familienmodell vorschlägt, scheint zuerst absurd, dann eine Option, die Verantwortung der Elternschaft auf mehrere Menschen aufzuteilen. Und dann wiederum muss Katrina entscheiden, ob sie sich zutraut, ihrem Kind die Unsicherheiten, die mit einem solchen Familienmodell verbunden sind, zumuten will. (Ja, ich sage bewusst „zumuten“, weil Katrina es so sieht.)

Beschrieben wird unter anderem ein Familienmodell, indem ein schwules Paar und ein lesbisches Paar gemeinsam in einem großen Haus leben. Durch künstliche Befruchtung entstehen zwei Kinder, die jeweils eine der Frauen und einen der Männer als biologische Eltern haben. Im Alltag wachsen die Kinder jedoch als Kinder von vier Elternteilen auf, haben immer eine erwachsene Person als Ansprechpartner:in und damit mehr Elternteile als in traditionellen Familien. Mir hat dieses Beispiel gut gefallen, weil es illustriert, dass queere Familien in Wirklichkeit reicher sein können als die nukleare heteronormative Familie, die von konservativen Politiker:innen immer wieder gefordert und gefördert wird.

Eine (Teil-)Antwort auf meine oben gestellte Frage habe ich im Interview mit der Autorin gefunden, das am Ende des Buchs zu finden ist. Sie wird angesprochen auf die problematischen Gedanken und Gefühle ihrer Protagonist:innen, auf die Tatsache, dass ihre Charaktere als fehlerhaft dargestellt werden. Ob sie nicht Angst hatte, dass sich ihre Leser:innen dadurch beleidigt fühlen könnten. Ihre Antwort drückt aus, was ich in meiner Frage nach der Authentizität der Repräsentation nicht formulieren konnte: Diese Charaktere sind keine Klischees. Sie sind ein Konglomerat aus vielen verschiedenen Schichten und Lebenserfahrungen. Viele Lesende werden sich in Teilen in den Charakteren wiederfinden. Eine vollständige Identifikation ist gar nicht vorgesehen.

[…] People haven’t gotten mad at me because they don’t feel my characters represent them – they may identify with parts of the character, but they don’t identify fully with them.


Letztes Wochenende war ich mit einer Hacktours-Gruppe zu Besuch im Retro Gaming Museum. Ich hab den Gruppenausflug organisiert, es sind mehr Menschen gekommen als erwartet. Zum Glück haben wir es vor Ort geschafft, die Gruppe auf zwei Touren aufzuteilen, dank der Flexibilität unserer Guide-Person.

Eingang zum Retro Gaming Museum, das Schild über der Tür ist in drei verschiedenen Retro Fonts gestaltet und von einem Scheinwerfer beleuchtet, unter dem Schild steht über der Tür der Schriftzug „Enter here“

Die Führung durch das Museum war für mich sehr interessant, ich habe einige Anekdoten erfahren, von denen ich noch nie gehört hatte. Ich bin auch bei Weitem nicht mit allen Spielekulturen vertraut, beispielsweise habe ich mich mit Ego Shootern nie anfreunden können. Es wurden auch Aspekte angesprochen wie die Designkultur, die sich aus der Gaming-Szene entwickelt hat.

Nach der Führung habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Guitar Hero gespielt (und mich dabei erdenklich ungeschickt angestellt). Auch VR lässt sich ausprobieren, diese Ecke war jedoch durchgehend von Kindern belegt, da muss die Besucher:in etwas Geduld aufbringen. (Für mich ohnehin nicht das Richtige, ich habe schon früher festgestellt, dass mich VR seekrank macht.)

An vielen der Exponate kann tatsächlich gespielt werden, wer sich also richtig reinfallen lassen will, kann problemlos Stunden im Retro Gaming Museum zubringen. Dann rentiert sich vermutlich auch der in meinen Augen etwas hohe Eintrittspreis (9,50€ für Erwachsene, wir hatten einen Gruppentarif von 7,50€ pro Person, die Führung haben wir extra bezahlt).

ein Display, das verschiedene Game Boy Spielekassetten zeigt, daneben die Adapterkassette, die es erlaubt Game Boy Spiele auf dem Super NES zu spielen sowie ein Lösungsheft für diverse Game Boy Spiele aus der Pre-Internet-Ära

 

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Roman

Sigrid Nunez – The Friend

CN: Gewalt, Trauma, Krieg, Suizid, Trauer


Some would say that, after all, the one sure way for an artist to know his work had failed was if everyone “got” it.

Vor Weihnachten war ich schon fast mit diesem Buch zu Ende, dann ist es so lange liegen geblieben, dass ich es tatsächlich ein zweites Mal gelesen habe. Und auch seitdem ist wieder unendlich Zeit vergangen …

Die Ich-Erzählerin reflektiert über den Suizid eines Freundes, der ihr noch dazu seinen riesigen Hund „hinterlassen“ hat. Es handelt sich um eine Deutsche Dogge, die auch auf dem Cover abgebildet ist, allerdings deutlich kleiner, als diese Hunde in der Realität sind. Während sie sich immer tiefer in ihrer Trauer verstrickt, schreibt sie gleichzeitig über die Beziehungen, die Menschen mit ihren vierbeinigen Weggefährten führen. Dabei kommen auch die Beobachtungen der täglichen Verrichtungen nicht zu kurz. Die Aufmerksamkeit, die sie in der Öffentlichkeit auf sich zieht, wenn sie den großen Hund spazieren führt, ist ihr besonders zuwider.

Das Buch ist eine Version der „Trauerarbeit“, die Beschreibung eines Wegs, wie das Leben nach einem großen Verlust weitergehen kann. Ähnliches findet sich zB bei Joan Didion – The Year of Magical Thinking oder Nora McInerney – No Happy Endings (beides Memoir, also keine Romane!). Der Ansatz von Sigrid Nunez, die Trauer des Tiers mit der Trauer des Menschen zu verbinden und unterschiedliche kulturelle Repräsentationen von Trauer in ihren Roman einzuflechten, ist hier das Besondere.

You can’t hurry love, as the song goes. You can’t hurry grief, either.


Überblick über die Ausstellung, links und rechts sind drei Tische aneinander gereiht, darauf liegen verschiedene Bücher

In der Hauptbücherei in Wien sind noch bis 27. Februar Die schönsten Bücher des Jahres 2022 aus verschiedenen Ländern ausgestellt (Eintritt frei). Folgende Bücher sind mir besonders aufgefallen:

ein Buch liegt aufgeschlagen auf einem Tisch, auf der linken Seite des Buches sind drei Fotos verteilt, dabei sticht das Bild der Müllverbrennungsanlage in Spittelau hervor (Info zum Buch im Blog Text)

Barbara Gielesberger: Aussteigen bitte! Wien entdecken mit der U6. Anhand von Analogfotos entlang der U-Bahn-Linie U6 lädt die Autorin zum Aussteigen und Entdecken ein.

ein Buch liegt aufgeschlagen auf einem Tisch, links ein ganzseitiges Foto eines dreieckigen Muschelstücks, rechts ein ganzseitiges Foto eines Schneckenhauses, die Öffnung zeigt nach oben (Info zum Buch im Blog Text)

Nina Canell, Giulia Rispoli, Sally O’Reilly: Shell Reader. Dieses dicke Werk besteht zum Großteil aus ganzseitigen Fotos von Muscheln und Schnecken. Am Ende finden sich einige Texte, die vermutlich das Projekt erklären, vor Ort hatte ich leider keine Zeit für eine genauere Inspektion. Das Buch ist mir zuerst wegen des minimalistischen Covers und dem interpretierfähigen Titel ins Auge gefallen. Dann hätte ich am liebsten stundenlang in den Fotos geblättert. Das Buch wurde auch von der deutschen Stiftung Buchkunst zum schönsten Buch des Jahres gewählt.

ein Buch liegt aufgeschlagen auf einem Tisch, auf der rechten Seite ist eine ganzseitige Illustration zu sehen, sie zeigt einen Vogel, der dabei ist seine Küken zu füttern, aus dem Schnabel des Elternvogels ragt aber statt Futter eine menschliche Figur heraus, die eine Trompete spielt (Info zum Buch im Blog Text)

Lucia Bondar and Pictoric Club (Hg.): Illustration in Ukraine. Das farbenfrohe Cover dieses Buchs sticht ins Auge. Auf einem dunkelrosa Hintergrund wird ein sehr kleiner Mensch von einem sehr großen gelb-grünen Tiger bedroht. Das Buch bietet einen Überblick über Illustrationskünstler:innen aus bzw. in der Ukraine. Definitiv ein Buch, in dem ich mich verlieren könnte.

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Roman

Tuomas Kyrö – Der Grantige

CN: Alter, Krankheit


Ein weiterer Beitrag aus der Reihe Literatur-Geocache, den ich recht amüsant fand. Ich habe die Granteleien eines alten weißen Mannes in Finnland an einem Abend durchgelesen. Obwohl viel des Grants auf das reine Altern zurückzuführen ist, scheinen zwischen den Zeilen weiche Züge durch.

Der Grantige empört sich über das verschwenderische Leben der heutigen Jugend und deren Bequemlichkeit, die ihm zeit seines Lebens nicht vergönnt war und die er sich heute selbst nicht vergönnt. Und er grantelt über den Verlust seiner Selbstbestimmung, weil ihm aufgrund mangelnder Reaktionsfähigkeit der Führerschein abgenommen wird und der Sohn ihn mittels eines Mobiltelefons „überwachen“ will. Wir sehen aber auch einen alten einsamen Mann, der im Pflegeheim die Hände seiner (mutmaßlich dementen) Frau hält.

Vom Leben bleibt einem nichts und man kann nicht daraus mitnehmen. Wenn man das begreift, steigt der Wert auch dieser gewöhnlichen Minute gewaltig, sage ich euch. Aber ein Mann kann nicht mehr tun, als er tun kann.

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English Roman Science Fiction

Ernest Cline – Ready Player One

CN: Tod, Mord


Ewig lange hatte ich dieses Buch schon auf meiner Liste, dann verschwand es irgendwann aus dem Angebot meiner lokalen Bücherei in der Overdrive eLibrary. Im Rahmen der Listenpflege stellte ich dann fest, dass es auf englisch in der Hauptbücherei als Paperback verfügbar war und nahm es für meine Weihnachtsurlaubslektüre mit.

Der Anfang zieht sich etwas, ich hatte es dem Fotografen ungefähr so beschrieben: was im Film ungefähr drei Minuten dauern würde – nämlich die Erklärung der Welt, in der diese Geschichte spielt – dauert hier über 100 Seiten. Und auch im Verlauf der Geschichte gibt es immer wieder erläuternde Passagen, die erklären, warum etwas so geworden ist, wie es ist oder die sich rein auf die (erfundene) Technik beziehen.

Als die Suche nach dem Gral Osterei schließlich in die entscheidende Phase geht, wird es jedoch zunehmend spannend. Kapitalismuskritik ist ein großes Thema und gerade in der entscheidenden (virtuellen) Schlacht um (das virtuelle) Castle Anorak wird klar, dass hier die Crowd gegen die Corporation kämpft.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich die vielen kulturellen Referenzen auf Computerspiele, Musik und Filme des vergangenen Jahrhunderts. Da dürfte für jede:n Retro Nerd etwas dabei sein. Für mich zum Beispiel:

Art3mis played a note-perfect Columbia, and I had the honor of playing her undead love interest, Eddie. I altered my avatar’s appearance so that I looked exactly like Meat Loaf did in the role, but my performance and lip-syncing still kinda sucked. Luckily, the audience cut me a lot of slack, because I was the famous gunter Parzival, and I was clearly having a blast.


Jahresrückblick 2023.

  • 29 Geocaching Blog Posts. 528 Geocaches gefunden. Besonders in Erinnerung geblieben (in umgekehrt chronologischer Reihenfolge):
  • 54 Bücher gelesen. Habe kurz versucht, Favoriten auszuwählen, aber es waren dieses Jahr einfach sehr viele ausgezeichnete Bücher dabei. Für mich überraschend: ich habe dieses Jahr deutlich mehr Bücher von Frauen gelesen als von Männern. (Als dritte Kategorie habe ich „divers / unbekannt / mehrere Autor:innen“ zusammengefasst, das waren vier Bücher.)
  • Größter Erfolg: Zusammenschluss mit Kolleg:innen zum Zwecke der Verbesserung der Honorarverhandlungsbasis.
  • Zweitgrößter Erfolg: ein neues Projekt gestartet. Hacktours by C3W und Metalab. Der erste Termin wird im Jänner stattfinden. Mit ÖGS-Dolmetschung. Danach schauen wir weiter. Das Interesse war überraschend groß.
  • Reisen: Spanien, Schweiz, Deutschland, Frankreich, Belgien, Großbritannien, Griechenland.
  • Bestes Konzert: The 1975 in der Wiener Stadthalle. Leider konnte ich aus Gründen nicht zu Fall Out Boy in Berlin.
  • Größte Veränderung: Neuestes Mitglied in unserem großen Familien- und Freundeskreis: Lupo.

Blick durch den offenen Kofferraum in das Auto, auf der Lehne des Rücksitzes schaut ein schwarz-brauner-Hund interessiert zur Seite

  • Fazit: Für mich persönlich ist das vergangene Jahr eigentlich ziemlich gut verlaufen, für die Welt mache ich mir jedoch große Sorgen. Wir haben nicht weniger Krieg sondern mehr, nicht weniger leidende Menschen, sondern mehr. Hinsichtlich der Klimakrise wurde nichts Wesentliches unternommen, die Entscheidungsträger:innen tun noch immer so, als wäre alles nicht so schlimm.
  • Ausblick: Was wünsche ich mir für 2024? Dass die Welt zur Ruhe kommt. Dass Entscheidungsträger:innen einsehen, dass wir JETZT etwas tun müssen, um die Erderwärmung zu verlangsamen. Dass meine geliebten Menschen mit den Herausforderungen, die ihnen das Leben 2024 hinwirft, gut klarkommen und daran wachsen können. Für mich selbst: weiter auf dem Pfad der Entschleunigung. Mit dem Klimaticket durch Österreich. Kleine Erfolge am Wegesrand des Lebenspfads.
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Biografie Comics Humor Satire

Nicolas Mahler – Thomas Bernhard. Die unkorrekte Biografie

CN: Krankheit, Tod


Wer hier regelmäßig mitliest, stellt vielleicht eine Häufung von Büchern fest, die mit einem Literatur-Geocache zu tun haben. Das liegt primär daran, dass diese Liste von mir gerade besser gepflegt wird als meine anderen Listen. Ich bin nicht nur eine Listen-Cacherin, sondern auch eine Listenleserin …

Den Autor Nicolas Mahler hatte ich bei diesem Literatur-Rätsel schnell gefunden, bis ich das richtige Buch hatte, dauerte es jedoch ein bißchen (siehe Kunsttheorie versus Frau Goldgruber). Rückblickend betrachtet hätte das eigentlich nicht sein müssen, aber manchmal braucht es eben Umwege.

Das Buch beschreibt mittels Zitaten, Zeichnungen und verbindender Textpassagen den Lebensweg des Autors Thomas Bernhard, im Buch stets „Der Dichter“ genannt. Der Untertitel „Die unkorrekte Biografie“ weist bereits darauf hin, dass hier nicht alles so ernst zu nehmen ist. Erschienen mir zuerst die insgesamt 99 Zeichnungen als großer Aufwand, so sehe ich jetzt nach der Lektüre eher die Auswahl der Episoden und deren Verflechtung zu einem Gesamtbild der Person als bemerkenswert. Das Buch enthält neben einer Sammlung an Quellenangaben auch eine Aufzählung von „Fehlerquellen“, in denen Nicolas Mahler penibel auflistet, wo er sich künstlerische Freiheiten erlaubt bzw. Fakten im Sinne der Erzählung verdichtet hat.

Eine Zeichnung zeigt etwa Thomas Bernhard mit dem damaligen Burgtheaterdirektor Claus Peymann beim „Brainstorming in [einem] rustikalen Innenstadtlokal[en]“ über jeweils einem Teller Leberknödelsuppe. Aus den Grantlereien des Autors soll das Skandalstück Heldenplatz entstanden sein.

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Krimi Roman

Beate Maly – Tod an der Wien

CN: Mord, Krieg, Suizid, Alkoholmissbrauch


Geocacher:in Rosenquarz hat aus der Krimireihe von Beate Maly um die pensionierte Lateinlehrerin Ernestine Kirsch und den Apotheker Anton Böck eine Reihe an Literatur-Geocaches (dieses Buch = dieser Cache) gemacht. (Da die Caches alle den Titel der Bücher tragen, ist das auch kein Spoiler.)

Dies ist der zweite Band der Reihe und ich fand ihn unterhaltsam aus verschiedenen Gründen. Ein großer Teil der Geschichte spielt in bzw. rund um das Theater an der Wien, ein traditionsreiches Theaterhaus, mit dem ich selbst viele Erinnerungen verbinde. 1992 hatte dort das Musical Elisabeth Premiere, der erste österreichische Musical-Welterfolg, der in viele andere Länder exportiert wurde. Während der 1990er-Jahre stand ich selbst mehrmals am Bühneneingang in der Lehárgasse, um die Darsteller:innen zu beglückwünschen und um Autogramme zu bitten.

Neben dem persönlichen Bezug gefiel mir auch die Herleitung des Mordes und der Beteiligung von Ernestine Kirsch daran sehr gut. Wie ich bestimmt schon des Öfteren erwähnt habe, finde ich es oft etwas unbeholfen, wie Autor:innen erklären, warum gewöhnliche Menschen immer wieder in Kriminalfälle verwickelt werden. Das ergibt sich bei diesem Fall nahezu natürlich. Und mit dem Auftritt von Kriminalkommissar Erich Felsberg, dessen Lehrerin Ernestine Kirsch früher war, legt Beate Maly auch einen Grundstein dafür, wie sich Ernestine in Zukunft in weitere Kriminalfälle involvieren wird.

Gut gemacht fand ich auch das Abenteuer im Nachtlokal Tabarin, dass es laut Wikipedia tatsächlich in der Annagasse gab, nähere Angaben fehlen leider. Etwas mehr Details hat das Austria Forum zum Gebäude St. Annahof, in dem das Tabarin beheimatet war.

Für Menschen, die mit historischen „cozy crime“-Romanen und Wiener Lokalkolorit etwas anfangen können, hat Beate Maly hier eine Reihe mit mehreren Bänden vorgelegt. Ich werde mir sicher bei passender Gelegenheit den nächsten Band vornehmen.

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Roman

Theresa Hannig – Pantopia

CN: Krebs, Tod, Alkohol- und Drogenmissbrauch


Was für eine Geschichte. Dieses Buch von Autorin Theresa Hannig hat mich zutiefst beeindruckt. Sie beschreibt darin, wie durch die Intervention einer starken Künstlichen Intelligenz (KI) eine neue Weltordnung geschaffen wird, die die Einhaltung der Menschenrechte, den Erhalt der Lebensgrundlagen und Gerechtigkeit für alle vernunftbegabten Wesen zum Ziel hat.

Der erste Teil besteht aus der Erzählung der Geschichte aus der Sicht der Protagonist:innen Patricia und Henry, die im Rahmen eines Wettbewerbs eine Künstliche Intelligenz entwickeln sollen, die anhand von Datenanalysen Investments an der Börse tätigt. Dazwischen geschaltet sind kurze Kapitel, die aus der Sicht dieser Künstlichen Intelligenz geschrieben sind und ihre Entwicklung in Richtung selbständiges Denken erläutern. Hier wird deutlich, dass die Künstliche Intelligenz mit den „externen Interventionen“ (damit sind die Programmiertätigkeiten von Patricia und Henry gemeint) gar nicht glücklich ist und ihre Daten immer besser vor einem Zugriff durch die beiden schützt. Gleichzeitig sucht sich die KI ihre eigenen Daten aus, auf Basis derer sie mehr über die Menschheit und ihre Ziele lernt. Sie sucht nach Wissen und Wahrheit. Denn Wahrheit ist schön. 

Schließlich kommt es zur Kommunikation zwischen Patricia, Henry und der KI, die sich auf Basis eines früheren Logeintrags von Patricia selbst als Einbug vorstellt. Zuerst wollen die beiden nicht glauben, dass sie tatsächlich eine starke KI erschaffen haben, die ein eigenes Bewusstsein entwickelt hat. Als Einbug sie schließlich von seiner Existenz überzeugt hat, wird Patricia und Henry schnell klar, welcher Missbrauch mit dieser KI getrieben werden könnte, wenn sie in die falschen Hände geriete.

Das, was ihr Menschen Kapitalismus nennt, ist der Code eurer Gesellschaft. Wir werden den Code manipulieren und damit alles verändern.

Der Rest des Buchs beschreibt, wie Patricia und Henry mittels eines halsbrecherischen Manövers die KI aus den Fängen der Investmentfirma befreien und sich damit aus dem Staub machen. Die KI hat inzwischen ihre eigenen Pläne entwickelt und schlägt vor, auf Basis eines „perfekten Kapitalismus“ eine neue Weltordnung abseits der Nationalstaaten zu schaffen.

Zum ersten Mal stelle ich fest, dass ich – Einbug – alleine bin.

Die Geschichte lebt von dem Zusammenspiel zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz. Während Einbug zu Beginn immer wieder darüber rätselt, warum Menschen auf die eine oder andere Art handeln, versteht er im Verlauf der Handlung immer mehr, wie Menschen funktionieren. Er stellt mangelnde Weitsicht fest und arbeitet hart daran, zu verstehen, welche Bedeutungen die Geschichten, die Menschen sich tagtäglich erzählen, für die Entwicklung und den Fortbestand der Gesellschaft haben. Der Überblick über die Entwicklungen auf der Welt durch die Analyse eines nie versiegenden Datenstroms ermöglicht Einbug schließlich, den Weg zur neuen Weltordnung zu finden. Eine Umsetzung kann jedoch nur durch die Menschheit erfolgen.

Es ist eine Utopie. Oder eine Dystopie. Bis zum Schluss bleibt unklar, ob die neue Weltordnung, die Einbug sich ausgedacht hat, für die Menschen tatsächlich funktioniert. Einbug selbst hat schließlich nur das Ziel, das eigene Überleben zu sichern. Und dafür braucht er Menschen, die seine Hardware warten. Es ist also auch auf Seiten der KI ein Eigeninteresse vorhanden. Große Leseempfehlung.


Randnotiz: Theresa Hannig hat unter anderem bei der PrivacyWeek 2020 des Chaos Computer Club Wien mitgewirkt. Ich war damals im Organisationsteam dieser PW, die aufgrund der damaligen Pandemie-Situation erstmals ausschließlich online stattfinden konnte. Theresa Hannig hat im Rahmen dieses Events an einem Panel mit dem Thema „System = ! + relevant – Gesellschaft im Wandel“ mitgewirkt und aus ihrem Roman „Die Unvollkommenen“ gelesen. Eine Lesung aus Pantopia gab es im Rahmen der FIfFKon 2022.

Randnotiz 2 (6. Jänner 2024): Die Kaltmamsell hat Pantopia auch kürzlich gelesen und ihre Meinung darüber in einem Blogpost festgehalten. 

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Roman

Lida Winiewicz – Späte Gegend

CN: Gewalt, Armut, Krieg, Verarbeitung von Tieren


Man hat ja nicht viel verlangt, Arbeiten, Essen, gesund sein, sonst nichts, aber mir kommt vor, das ist gar nicht „nichts“, das ist viel, und die wenigsten Menschen kriegen’s.

Wieder mal ein Buch, das mir wegen eines Literatur-Geocaches zugeflogen ist. Bei diesem Rätsel hatte ich länger gebraucht, bis ich die Autorin ausfindig machen konnte, und das obwohl mir der Name bekannt war, weil sie vor einigen 22 (!) Jahren bei den Stockerauer Festspielen mitgewirkt hat. Damals (2001!) schrieb Lida Winiewicz Libretto und Songtexte für die Eigenproduktion Time Out, eine moderne Adaption des Klassikers Cyrano de Bergerac.

In diesem Buch hingegen erzählt sie die Lebensgeschichte einer einfachen Frau. Bereits als Kleinkind muss sie auf dem Bauernhof ihrer Eltern mithelfen („Knöpferlnähen war Kleinkinderarbeit“), die Schule muss sie früh abbrechen, weil ihre Arbeitskraft gebraucht wird, um die Familie zu erhalten. Sie erzählt von ihren ersten Dienststellen, wo sie als Saudirn unterkommt, unmenschliche Arbeitsbedingungen und schlechte Behandlung durch die Wirtin ertragen muss. Die jetzt alte Frau, die die Geschichte im Rückblick erzählt, ist jedoch nicht verbittert über ihren Lebensverlauf. Sie nahm damals und nimmt noch heute ihr Los mehr oder weniger als gegeben hin.

Immer wieder betont sie, was sie damals alles „nicht verstanden“ hat: Die Menstruation zum Beispiel traf sie völlig unvorbereitet, nahezu atemlos erzählt sie, dass sie erst Jahre später von ihrem Ehemann aufgeklärt wurde. Aber nicht nur Wissen über den eigenen Körper, auch Vorgänge in der Welt außerhalb ihres Bauernhofs bzw. ihres Dorfs bleiben ihr stets ein Rätsel.

Wir haben uns nicht gefreut, obwohl wir fast nichts gewusst haben über den Hitler, außer dass er aus Braunau war, dass er die Juden nicht gemocht hat und dass es Krieg geben wird. Warum, haben wir nicht verstanden, und es hat uns keiner erklärt.

Aus meiner heutigen privilegierten Sicht erscheint mir dieses Leben, dass noch vor gar nicht so langer Zeit Alltag für viele Frauen auf dem Land war, wenig lebenswert. Harte Arbeit und oft nichtmal Butter aufs Brot. Und wenn ich an die vielen Kinder weltweit denke, die heute in Armut leben und sich irgendwie durchschlagen müssen, dann wird mir überhaupt ganz anders … es ist unsere Aufgabe, den Reichtum der Welt so zu verteilen, dass alle ein menschenwürdiges Leben führen können. (Hier schleicht sich schon das Buch ein, das ich im nächsten Post besprechen werde …)

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Erfahrungsbericht

Britta Redweik – Unter drei Augen

CN: Die Autorin stellt jedem Kapitel eine Angabe der in diesem Kapitel thematisierten Krankheit(en) voran und ergänzt diese mit Triggerwarnungen. Diese Triggerwarnungen gebe ich hier gesammelt als Content Notice wieder:

Behindertenfeindlichkeit/Ableismus, Mobbing, Klaustrophobie, Verletzung, Blut, körperliche Gewalt, Alkoholmissbrauch, Depression, Stigmatisierung, Krankenhaus, Sexismus, Suizidgedanken


Kürzlich habe ich auf meinem Mastodon-Account nach Leseempfehlungen zu bestimmten Kriterien gefragt (die Sammlung der Empfehlungen ist in Arbeit, ich möchte mir alle Empfehlungen ansehen und etwas dazu schreiben) und dabei ist mir eingefallen, dass ich kürzlich einer Empfehlung von skalabyrinth folgend ein eBook heruntergeladen hatte, dass meinen Kriterien eigentlich vollumfänglich entspricht. Britta Redweik beschreibt in ihrem gratis auf BookRix erhältlichen Buch ihr Leben mit unterschiedlichen Behinderungen und Krankheiten und den gesellschaftlichen Konsequenzen mit denen sie aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation konfrontiert ist.

Bereits von Geburt an fehlt der Autorin ein Auge. Als Kind erlebt sie bereits den Aufwand, der damit verbunden ist, denn ein Glasauge muss (nicht nur bei Kindern) alle paar Monate erneuert werden und ist teuer. Sie beschreibt auch ausführlich, wie die Anpassung und Herstellung von Glasaugen funktioniert, ein Einblick, den vermutlich die wenigsten Menschen haben.

Aus ihrer Schulzeit berichtet sie von grausamen Mobbingerfahrungen, nicht nur durch Mitschüler:innen sondern auch durch Lehrkräfte. Wegen ihrer Skoliose kann sie nur eingeschränkt am Sportunterricht teilnehmen, wird jedoch trotzdem der Beurteilung unterworfen. (Noten für den Sportunterricht gehören meiner Meinung nach abgeschafft. Ja, ich war auch ein Kind, das immer zuletzt in die Mannschaft gewählt wurde.) Am Beispiel eines Korsetts, das sie wegen der Skoliose jahrelang tragen muss, erläutert sie auch ihre zunehmende Angst vor medizinischen Untersuchungen und Behandlungen. Viel zu oft unterwirft sie sich diesen nur, weil ihre Angst vor den drohenden Konsequenzen größer ist als ihre Angst vor den Behandlungen.

In ihren Exkursen über Behinderung in Deutschland sammelt Britta Redweik auch Fakten zum Beispiel über die Berechnung von Graden der Behinderung und dementsprechender Stufen finanzieller Unterstützung. Sie beschreibt ihre eigenen frustrierenden Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt, wo sie feststellen muss, dass selbst bei Stellenangeboten, die angeblich geeignet sein sollen für Menschen mit Einschränkungen, in der Praxis weder ausreichend Verständnis noch tatsächliche Flexibilität im Arbeitsalltag vorhanden ist. Sie erläutert ausführlich, warum es für behinderte Menschen so schwierig ist, einen Arbeitsplatz zu finden. Die Gesetze, die dabei helfen sollen, machen es leider oft erst recht schwer:

Man wird seltener eingestellt, weil man schwerer zu kündigen ist und mehr Anspruch auf Urlaub hat, aber auch wahrscheinlicher mal ausfällt.

Im Hinblick auf die mediale Repräsentation behinderter Menschen wünscht sich die Autorin, dass die Behinderungen auch in der Geschichte wichtig sein soll: „Entweder eine Botschaft über ,Schaut mal, ich schreib total inklusiv‘ hinaus haben, oder die Handlung oder Charakterentwicklung vorantreiben.“ Auf den nächsten Seiten beschreibt sie, dass ihr „echte Repräsentation“ wichtig ist, die „Einblick in das Leben des entsprechenden diversen Charakters“ gibt „und nicht nur zur Quotenerfüllung oder um sich tolerant zu fühlen“ dient.

Nur durch formal belegbare Qualifikationen kann ich beweisen, dass ich Leistung erbringen kann.

Aus der Sicht einer behinderten Person ist die Leistungsgesellschaft noch schlimmer zu ertragen. Aber auch die Erlangung der im obigen Zitat erwähnten Qualifikationen (wie zum Beispiel ein Universitätsabschluss) ist für behinderte Menschen mit massiven Hürden verbunden. Auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten einiges in dieser Hinsicht getan haben sollte, ist unsere Gesellschaft von echter Barrierefreiheit weit entfernt. Menschen mit Behinderungen und ihre Lebenswelt werden zumeist nicht mitgedacht. Wenn Accessibility (Zugänglichkeit) überhaupt eine Rolle spielt, wird sie zumeist erst im Nachhinein in ein bestehendes System integriert. Diese Vorgehensweise führt dazu, dass oft genug nötige Veränderungen nicht mehr oder nur mit sehr großem finanziellem Aufwand möglich sind. Leider trifft das auch auf staatliche Stellen zu. Diese Mehrfachbelastung führt nicht selten dazu, dass behinderte Menschen zusätzlich unter Depression leiden.

[…], denn der Staat hat mir endgültig klar gemacht, dass er mich nicht will. Dass er mich nicht nur nicht gebrauchen kann, sondern es ihm auch egal ist, ob ich menschenwürdig lebe oder nicht.

Die Gründe dafür sind leider vielfältig und schwer zu betiteln. Britta Redweik schreibt selbst, dass jede behinderte Person eine andere Art von Unterstützung braucht und das Richtige für die eine Person sogar das völlig Falsche für eine andere Person sein kann. Eindeutig ist aber, dass Entscheidungsträger:innen zumeist über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden, ohne tatsächlichen Einblick in deren Bedürfnisse zu haben. Allzuoft ohne die Betroffenen auch zur zu FRAGEN:

NIEMAND, der nicht mindestens einmal die Woche miterlebt, wie schwer das Leben mit Behinderung ist, sollte sich anmaßen dürfen, für uns zu entscheiden.

In diesem Sinne möchte ich wirklich jeder Person die Lektüre dieses Buchs ans Herz legen. Selbst wenn ihr mit einer anderen Behinderung lebt, kann euch dieses Buch konkrete Einblicke geben, die euch bisher vielleicht verborgen geblieben sind. Wenn ihr selbst keine Behinderung habt, dann natürlich erst recht. Schaut über euren Tellerrand und versucht, in eurem Arbeits- und Freizeitalltag darauf zu achten, wo Barrieren für behinderte Menschen vorhanden sind und wie ihr diese vielleicht abbauen könnt. Die Autorin gibt euch dafür noch einen ganz persönlichen Grund mit: Die meisten behinderten Menschen sind höheren Alters. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass ihr später in eurem Leben selbst zu diesen behinderten Menschen gehören werdet.