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Roman

Sigrid Nunez – The Friend

CN: Gewalt, Trauma, Krieg, Suizid, Trauer


Some would say that, after all, the one sure way for an artist to know his work had failed was if everyone “got” it.

Vor Weihnachten war ich schon fast mit diesem Buch zu Ende, dann ist es so lange liegen geblieben, dass ich es tatsächlich ein zweites Mal gelesen habe. Und auch seitdem ist wieder unendlich Zeit vergangen …

Die Ich-Erzählerin reflektiert über den Suizid eines Freundes, der ihr noch dazu seinen riesigen Hund „hinterlassen“ hat. Es handelt sich um eine Deutsche Dogge, die auch auf dem Cover abgebildet ist, allerdings deutlich kleiner, als diese Hunde in der Realität sind. Während sie sich immer tiefer in ihrer Trauer verstrickt, schreibt sie gleichzeitig über die Beziehungen, die Menschen mit ihren vierbeinigen Weggefährten führen. Dabei kommen auch die Beobachtungen der täglichen Verrichtungen nicht zu kurz. Die Aufmerksamkeit, die sie in der Öffentlichkeit auf sich zieht, wenn sie den großen Hund spazieren führt, ist ihr besonders zuwider.

Das Buch ist eine Version der „Trauerarbeit“, die Beschreibung eines Wegs, wie das Leben nach einem großen Verlust weitergehen kann. Ähnliches findet sich zB bei Joan Didion – The Year of Magical Thinking oder Nora McInerney – No Happy Endings (beides Memoir, also keine Romane!). Der Ansatz von Sigrid Nunez, die Trauer des Tiers mit der Trauer des Menschen zu verbinden und unterschiedliche kulturelle Repräsentationen von Trauer in ihren Roman einzuflechten, ist hier das Besondere.

You can’t hurry love, as the song goes. You can’t hurry grief, either.


Überblick über die Ausstellung, links und rechts sind drei Tische aneinander gereiht, darauf liegen verschiedene Bücher

In der Hauptbücherei in Wien sind noch bis 27. Februar Die schönsten Bücher des Jahres 2022 aus verschiedenen Ländern ausgestellt (Eintritt frei). Folgende Bücher sind mir besonders aufgefallen:

ein Buch liegt aufgeschlagen auf einem Tisch, auf der linken Seite des Buches sind drei Fotos verteilt, dabei sticht das Bild der Müllverbrennungsanlage in Spittelau hervor (Info zum Buch im Blog Text)

Barbara Gielesberger: Aussteigen bitte! Wien entdecken mit der U6. Anhand von Analogfotos entlang der U-Bahn-Linie U6 lädt die Autorin zum Aussteigen und Entdecken ein.

ein Buch liegt aufgeschlagen auf einem Tisch, links ein ganzseitiges Foto eines dreieckigen Muschelstücks, rechts ein ganzseitiges Foto eines Schneckenhauses, die Öffnung zeigt nach oben (Info zum Buch im Blog Text)

Nina Canell, Giulia Rispoli, Sally O’Reilly: Shell Reader. Dieses dicke Werk besteht zum Großteil aus ganzseitigen Fotos von Muscheln und Schnecken. Am Ende finden sich einige Texte, die vermutlich das Projekt erklären, vor Ort hatte ich leider keine Zeit für eine genauere Inspektion. Das Buch ist mir zuerst wegen des minimalistischen Covers und dem interpretierfähigen Titel ins Auge gefallen. Dann hätte ich am liebsten stundenlang in den Fotos geblättert. Das Buch wurde auch von der deutschen Stiftung Buchkunst zum schönsten Buch des Jahres gewählt.

ein Buch liegt aufgeschlagen auf einem Tisch, auf der rechten Seite ist eine ganzseitige Illustration zu sehen, sie zeigt einen Vogel, der dabei ist seine Küken zu füttern, aus dem Schnabel des Elternvogels ragt aber statt Futter eine menschliche Figur heraus, die eine Trompete spielt (Info zum Buch im Blog Text)

Lucia Bondar and Pictoric Club (Hg.): Illustration in Ukraine. Das farbenfrohe Cover dieses Buchs sticht ins Auge. Auf einem dunkelrosa Hintergrund wird ein sehr kleiner Mensch von einem sehr großen gelb-grünen Tiger bedroht. Das Buch bietet einen Überblick über Illustrationskünstler:innen aus bzw. in der Ukraine. Definitiv ein Buch, in dem ich mich verlieren könnte.

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Roman

Lily King – Writers & Lovers

Auf der Oberfläche geht im Leben der Protagonistin zuerst alles schief (Schwierigkeiten beim Schreiben des Romans, Suche nach einer neuen Unterkunft, zuerst Stress in der Arbeit, dann wird sie gefeuert und dazu noch die Sorge, an Krebs erkrankt zu sein). Dann löst sich im letzten Drittel alles Schritt für Schritt auf (der Roman ist fertig und schließlich findet sich auch eine Agentin, ein neuer Job als Lehrkraft an der High School, der Krebsverdacht erhärtet sich nicht).

Auf der mittleren Ebene ist Casey hin- und hergerissen zwischen zwei Männern, die Interesse bekunden. Einer ist erfolgreich, verwitwet mit zwei Kindern und 15 Jahre älter als sie, der andere in ihrem Alter und genau wie sie auf der Suche nach einem Weg zum Erfolg und unsicher, wo das Leben ihn hinführen soll.

Zwischen den Zeilen, sozusagen in den unteren Schichten geht es aber um Kreativität, um das Bedürfnis, sich auszudrücken, aber auch, mit dem eigenen Werk Erfolg zu haben und Anerkennung bei anderen zu finden. Eine Szene beschreibt eindrucksvoll den Zweifel daran, überhaupt etwas zu sagen zu haben. Können zwei Menschen, die sich im selben Bereich kreativ betätigen, überhaupt ein glückliches Paar sein? Was, wenn die eine oder der andere (mehr) Erfolg hat? Das Zusammenspiel oder die (Möglichkeit einer) Balance von Selbstverwirklichung und Beziehung ist das eigentliche Thema dieser Geschichte.

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Roman

Jeanette Winterson – Why Be Happy When You Could Be Normal?

It’s like reading a book with the first few pages missing. It’s like arriving after curtain up. The feeling that something is missing never, ever leaves you – and it can’t, and it shouldn’t, because something is missing.

Spontankauf bei Books & Bagels in Berlin vor etwas weniger als einem Jahr. Pro Tipp: Zuerst die Bücher kaufen. Wir haben Kaffee getrunken und einen ausgezeichneten Bagel gegessen und dann habe ich so viele Bücher gekauft, dass mir ein Gratis-Getränk angeboten wurde.

Die Autorin reflektiert in diesem Werk über verschiedene Aspekte ihrer eigenen Lebensgeschichte. Das obige Zitat bezieht sich auf ihre Adoption. Ihre Kindheit war geprägt von dem Wissen, dass ihre Mutter nicht ihre biologische Mutter ist. Dem Wissen, dass sie anders ist und der Überzeugung, von ihrer biologischen Mutter nicht gewollt worden zu sein. Dieses Thema zieht sich durch das komplette Buch. Es verweist auf das fundamentale Bedürfnis des Menschen nach Gesellschaft, nach dem Gefühl, nicht nur gebraucht sondern auch gewollt zu werden, genau so wie der jeweilige Mensch bereits ist und nicht irgendwie anders.

When I was born I became the visible corner of a folded map. The map has more than one route. More than one destination. The map that is the unfolding self is not exactly leading anywhere. The arrow that says YOU ARE HERE is your first coordinate. There is a lot that you can’t change when you are a kid. But you can pack for the journey …

Ein großer Teil des Buches befasst sich mit dem Aufwachsen als Jugendliche in einer nordenglischen Kleinstadt, die wenig Raum für Individualität bietet. Das Gefühl, anders zu sein, nicht dazu zu passen, anderes zu wollen, als nur sich einzuordnen in den Alltagstrott aus Arbeit, Kirche, Küche, zieht sich durch viele Entwicklungsjahre. Das titelgebende Konzept der Normalität wird hinterfragt und auf den Kopf gestellt. Die von der Autorin beschriebene Familienkonstellation ist keinesfalls als normal (im Sinne von in der Gesellschaft weit verbreitet) zu betrachten. Für Jeanettes Adoptivmutter (im Buch distanziert als Mrs. Winterson bezeichnet) stellt jedoch ihr eigenes Normalitätsideal ein unüberwindbares Bollwerk dar, das von der ausbrechenden Adoptivtochter schließlich ins Wanken gebracht wird. Ihre Erwartungen werden enttäuscht.

Books, for me, are a home. Books don’t make a home – they are one, in the sense that just as you do with a door, you open a book, and you go inside. Inside there is a different kind of time and a different kind of space.

Im dritten Teil des Buches lernt die Autorin schließlich ihre Familie kennen. Sie hat sich durch schlimme Lebensphasen gekämpft (und beschreibt diese auch eindrücklich) und ihre eigene Beziehungsfähigkeit hinterfragt und analysiert. Sie beschönigt den Prozess nicht, ihre biologische Familie entspricht nicht ihren Erwartungen.

Das Konzept der Normalität basiert auf Erwartungen, die gesellschaftlich geprägt sind. Auch die Erwartungen, die jeder von uns sich vermeintlich selbst ausdenkt, sind gesellschaftlich geprägt und von Werten durchdrungen, die wir von unseren Bezugspersonen in verschiedenen Lebensphasen übernommen und (hoffentlich) reflektiert haben. Normal zu sein im Sinne von in die Gesellschaft integriert, nicht auffallend, in einem gängigen Lebensmuster lebend kann für viele Menschen der richtige Weg sein. Normal und glücklich zu sein kann genauso funktionieren. Wenn jedoch die Erwartung, normal sein zu müssen oder zu wollen, dem eigenen Glück im Wege steht, dann sollte jede und jeder Einzelne die Normalität lieber über Bord werfen und alternative Wege ausprobieren.