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Sachbuch

Emily & Amelia Nagoski – Burnout

Selbsthilfebücher für Frauen gibt es zuhauf. Erst war ich spektisch, als ich die Empfehlung bei Parnassus las, aber dann hat mich das Konzept doch so schnell überzeugt, dass ich das Buch sogar sofort lesen wollte und daher die Kindle-Version gekauft habe.

Die Autorinnen versuchen genau das Gegenteil der traditionellen Selbsthilfe: mit den bekannten Traditionen zu brechen. Ratschläge für Frauen, die sich gestresst fühlen oder allgemein irgendwie unzufrieden mit ihrem Leben sind, orientieren sich oft an materiellen Dingen: (mehr) Sport, Ernährung, mindfulness/Achtsamkeit, Körperpflege, gratitude/Dankbarkeit. Ich hatte in der Vergangenheit des Öfteren das Gefühl, dass viele dieser Dinge nur ein zusätzliches To-Do sind, das wir als Frauen auch noch erledigen sollten und wenn wir das nicht unterbringen, dann sind wir selbst schuld, wenn wir uns nicht wohl fühlen. Diese Sichtweise teilen auch die Autorinnen. Nichts davon ist schädlich an sich, vieles kann uns tatsächlich weiterhelfen, aber meistens nur kurzfristig, wenn sich an den strukturellen Gegebenheiten nichts ändert. Diese strukturellen Gegebenheiten und was wir tatsächlich dagegen tun können, sind das Thema dieses Buchs.

Das Buch betrachtet das Phänomen Burnout durch die Brille der Wissenschaft. Studien zu diversen Themen werden zititert, die Qualität dieser Studien wird naturgemäß variieren und Forschungsergebnisse sind im Allgemeinen auch mit etwas Vorsicht zu genießen. Vertrauenerweckend fand ich jedoch, dass die Autorinnen zu Beginn auch erklären, dass Forschungsergebnisse immer vorläufig sind. Sie stellen kein fertiges Wissen dar, sie „beweisen“ nichts, sie liefern uns nur das, was wir mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft und ihrer Methodik wissen können. Forschungsergebnisse müssen wiederholt geprüft und bisweilen auch verworfen werden. Sie sind niemals endgültig. Weiters weisen die Autorinnen darauf hin, dass die im Buch zitierten Forschungsergebnisse sich auf Frauen in dem folgenden Sinn beziehen: Personen, die in einem Körper mit weiblichen Geschlechtsorganen geboren wurden, in der entsprechenden Geschlechterrolle erzogen wurden und sich auch selbst als Frau in einem psychologischen und sozialen Sinn wohl fühlen. Diese Einschränkung ist notwendig, da es aufgrund zu geringer Fallzahlen nahezu keine Ergebnisse zu Transgender- oder Nonbinary-Personen gibt.

Im Zusammenhang mit Burnout denken vermutlich die meisten Menschen an schwierige und anstrengende Job-Situationen: Lehrkräfte, Ärztinnen und Ärzte, Sozialarbeiter*innen, Menschen, deren Job es ist, für das Wohlbefinden anderer Menschen zu sorgen. Die Doppelbelastung durch Job und Familie belastet Eltern insbesondere. Der Druck des Kapitalismus und des ständigen Vergleichs mit anderen in den sozialen Medien trägt weiters zur Beschleunigung des Alltags bei. Neben diesen äußeren Stressfaktoren können jedoch auch innere Stressfaktoren, die weder für die Betroffenen noch für Außenstehende so einfach wahrnehmbar sind, das Wohlbefinden beeinträchtigen: zum Beispiel Selbstkritik, Identität, Erinnerungen oder Zukunftsängste.

Stressfaktoren sind der Löwe (oder Säbelzahntiger) der heutigen Zeit. Sie erzeugen Stresshormone in unserem Körper, die nicht abgebaut werden, denn wir laufen selten vor unseren Säbelzahntigern davon. Wir müssen uns beherrschen, lächeln, unsere Gefühle unterdrücken, nicht aus der Reihe tanzen. Das beste Mittel, um diese Stresshormone abzubauen, ist laut den Autorinnen Sport (jegliche körperliche Betätigung im Prinzip). Dabei verändern sich Atemrythmus und Herzschlag und wenn die Phase der körperlichen Betätigung vorbei ist, kann sich der Körper entspannen und damit ist der aktuelle Stress fürs Erste abgebaut. Andere Möglichkeiten sind der Austausch mit uns nahestehenden Menschen, der Sicherheit gibt, der uns zeigt, dass wir nicht (mehr) in Gefahr sind (kein Säbelzahntiger in Sicht). Entspannungstechniken, die auf der bewussten Anspannung und Entspannung von Muskeln basieren, können einen ähnlichen Effekt ausüben. Was definitiv nicht funktioniert: sich selbst zu sagen, dass alles in Ordnung ist. Es geht hier nicht um eine Verstandesentscheidung. Stress kann nicht vom Gehirn alleine bewältigt werden, sondern muss vom gesamten Körper verarbeitet werden.

Eine wichtige Begrifflichkeit ist das Human Giver Syndrome. Damit bezeichnen die Autorinnen das Gefühl oder die Vorstellung, den Menschen in unserer Umgebung schuldig zu sein, dass wir in jedem Moment ruhig, glücklich, großzügig gegenüber allen sind. Gelingt uns das nicht, legen wir uns das selbst als persönliches Versagen aus und mindern somit unser Selbstwertgefühl. Dieses Verhalten beruht auf der gesellschaftlichen Struktur, die Frauen jahrhundertelang als Menschen zweiter Klasse behandelt hat, die einzig und allein auf der Welt sind, um zu dienen. In diesem Zusammenhang beklagen die Autorinnen auch einen Mangel an weiblicher Solidarität: Frauen, die aus dem traditionellen weiblichen Rollenbild ausbrechen, aufstehen und ihren eigenen Weg gehen, bekommen oft zu hören, was sie sich eigentlich einbilden, was mit ihnen falsch ist und dass sie sich gefälligst an die Regeln halten sollen (get back in line). Dieses Phänomen basiert oft auf Neid. Wenn ich mich an die Regeln halten muss, dann soll die andere das auch.

In weiteren Kapiteln wird das Thema Körperbild und Selbstwahrnehmung hinterfragt und der Body Mass Index als Messinstrument kritisiert. (Für mich ein interessantes Detail am Rande: Menschen am unteren Ende des BMI-Normalbereichs haben in vielen Bereichen ein höheres Gesundheitsrisiko als Menschen, die laut BMI-Skala als übergewichtig gelten.) Die Bedeutung von Schlaf für das körperliche Wohlbefinden wird ebenfalls thematisiert. Viele andere Themen sind den meisten Leser*innen sicher bekannt (Perfektionismus macht uns unglücklich, self-compassion), werden jedoch von den Autorinnen nicht nur behauptet sondern in ihre Bestandteile dekonstruiert und analysiert.

Der populärwissenschaftliche Zugang in Verbindung mit popkulturellen Themen und dem Erzählen von Geschichten macht das scheinbar trockene Thema lebendig und nahbar. Für mich waren einige neue Blickwinkel dabei und ich kann dieses Buch nur jeder gestressten Frau (und ihren Partnern, Kindern, Bezugspersonen) empfehlen.

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Roman

Ann Patchett – Commonwealth

Franny couldn’t help but believe that she had brought every discomfort she experienced down on herself. Had she done something with her life no one would be asking her to make them cappuccino, and had she done something with her life she would be perfectly happy to make them cappuccino, because it would not be her job. She would make the coffee because she was a gracious and helpful person.

Ann Patchett begeistert mich verlässlich mit ihren Romanen (Bel Canto ist noch immer mein Favorit, aber auch State of Wonder überzeugt mit einer unkonventionellen Geschichte), im Blog ihrer Buchhandlung Parnassus finde ich immer wieder interessante Leseempfehlungen. Und die Geschichten über die Shop Dogs machen natürlich auch großen Spaß.

In diesem Buch verflechtet die Autorin die Geschichten zweier Familien. Im Rahmen von Frannys Tauffeier kommt es zur schicksalhaften Begegnung zwischen Beverly (Frannys Mutter) und Bert, die dazu führt, dass zwei Ehen in die Brüche gehen und die Lebensgeschichten der Keating-Kinder Franny und Caroline mit denen der vier Cousins-Kinder nicht direkt verschmelzen, aber sich doch unweigerlich immer wieder kreuzen. Frannys spätere Beziehung zu einem alternden Roman-Autor führt schließlich dazu, dass große Teile der nun gemeinsam verbrachten Kindheit der sechs Kinder in einem Roman und schließlich in einem Film landen.

Der Roman erzählt aus den unterschiedlichen Perspektiven der Kinder Caroline, Franny, Holly, Jeanette und Albie (Cal, der Älteste, stirbt als Jugendlicher tragisch an einem Bienenstich). Der physische Umfang des Buches lässt es nicht vermuten, doch die Geschichte erstreckt sich über mehr als vier Jahrzehnte. Es lässt sich als unterhaltsame Familiengeschichte mit Höhen und Tiefen lesen oder die Leserin kann zwischen den Zeilen den existentiellen Fragen des Lebens nachgehen. Welche Entscheidungen beeinflussen den weiteren Verlauf unseres Lebens? Wieviel davon können wir überhaupt kontrollieren?

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Roman

Ashley Herring Blake – How to Make a Wish

Dieses Buch stammt wieder mal aus einer Empfehlungsliste von Parnassus. Die Lorbeeren:

This is the book I wanted with all my heart when I was a teen.

Auch wenn meine Jugend keine Parallelen zur Geschichte aufweist, hat mich das Buch doch sehr berührt. Es spricht so viele Themen an, mit denen junge Menschen im Prozess des Erwachsenwerdens konfrontiert werden:

  • Ein schwieriges Verhältnis zu den Eltern. Die Protagonistin Grace lebt mit ihrer Mutter, die nach dem Tod des Vaters ihr Leben nicht mehr vollständig in den Griff bekommt. Grace fühlt sich verantwortlich, beider Leben zu managen und ihre Mutter auch noch vor zu großem Schaden durch Alkoholismus zu bewahren. Sie wird zerrieben zwischen den Plänen für ihr eigenes Leben und dem Verantwortungsgefühl für ihre Mutter.
  • Unsicherheit über die eigene Zukunft. Grace möchte Pianistin werden, eine Audition an einer renommierten New Yorker Musikschule entscheidet darüber, ob sie der Verwirklichung ihres Traums ein Stück näher kommt.
  • Freundschaften verändern sich. Grace’s Freundschaft mit Luca wird auf eine harte Probe gestellt, als Luca eine Beziehung mit Kimber beginnt und somit weniger Zeit und Aufmerksamkeit für Grace aufbringen kann.
  • Sexuelle Identität. Grace fühlt sich sowohl zu Mädchen als auch Burschen hingezogen. Das Klarwerden über die eigene sexuelle Orientierung wird im Buch wenig thematisiert, es wird mehr oder weniger trocken festgestellt, Grace ist bisexuell, das fühlt sich für sie richtig an und damit ist das eben so. Die Vorurteile, die damit nach wie vor verbunden sind (das Häufigste: bisexuelle Menschen wären tatsächlich homosexuell, wollen das aber nicht zugeben), werden nicht thematisiert. (Das wäre aber möglicherweise tatsächlich zu viel gewesen für die ohnehin schon schwer belastete Geschichte.)
  • Selbstzweifel. Grace fühlt sich von ihrer Mutter nicht geliebt und gibt sich dafür selbst die Schuld. Wenn sie nur besser wäre, würde ihre Mutter ihr auch mehr Aufmerksamkeit schenken.

Das Buch endet filmreif mit einem dramatischen Höhepunkt und einem versöhnlichen Ausklang, der in die Zukunft blicken lässt.

Hier gibt’s zum Abschluss noch ein Beispiel dafür, wie sich verschiedene Geschichten begegnen und dadurch vertiefen. Grace übt für ihre Audition die Fantasie in C-Dur von Robert Schumann. Dieses Stück war auch Teil eines Konzertabends, den Mademoiselle ReadOn in diesem Blog Post sehr eindrücklich beschreibt.

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Roman

Catalin Dorian Florescu – Der Mann, der das Glück bringt

Die Veröffentlichung der neuen Onleihe-App der Büchereien Wien (kürzlich in diesem Blog Post etwas ausführlicher beschrieben) hat mich dazu inspiriert, die ältere Liste mit Büchern, die ich mal lesen wollte (die ich in den vergangenen Monaten durch eine neuere Liste in einem anderen Organisationssystem abgelöst hatte), nochmal durchzugehen und zu prüfen, ob ich von den Altlasten nun etwas in der Virtuellen Bücherei ausleihen kann. Tatsächlich habe ich da einiges gefunden und möchte nun auch (wieder) Zeit in diese älteren Buchnotizen investieren.

Die heutige Empfehlung stammt aus dem Jahr 2016, ist also noch gar nicht so alt. In diesem Blog Post gibt Andreas Paschedag, Programmleiter im Berlin Verlag, Tipps, wie angehende BuchautorInnen einen für sie passenden Verlag finden können (in meinen Augen recht realitätsnah und praktisch) und empfiehlt außerdem ein paar Bücher, darunter war übrigens auch das oben bereits verlinkte Little Beach Street Bakery.

Das Buch fühlt sich zuerst etwas angestaubt an, die Zeitungsjungen, der Kohlenkeller, der Fluss, es wirkt etwas wie bei Charles Dickens geborgt. Es beginnt mit der Geschichte eines Jungen, der Großvater genannt wird. Wie sich bald herausstellt, ist das kein Spitzname, sondern ein Verweis auf die Familienverbindungen, die sich im weiteren Verlauf der Geschichte mehr oder weniger entwirren werden. In alternierenden Kapiteln wird parallel zu Großvaters Entwicklung eine Geschichte aus dem tiefsten Donaudelta in Rumänien erzählt. Die Stadt Sulina (OSM) ist auch heute noch nur per Schiff zu erreichen. Über Wikipedia habe ich ein Foto eines Leuchtturms aus dem Jahre 1802 gefunden. Auf dem Foto leuchtet neben dem Leuchtturm eine bunte Infotafel. Gäbe es diese nicht, könnte das Foto durchaus auch Jahrzehnte älter sein.

Die Geschichte überspringt viele Zeitetappen und führt schließlich Elena mit der Asche ihrer Mutter in einem Gurkenglas bei sich nach New York. Als sie sich endlich entschlossen hat, die Asche ihrer Mutter vom Turm des World Trade Centers aus zu verstreuen, steht sie beim Ausgang der U-Bahn-Station und beobachtet den Einsturz des ersten Turms. Das Ende des Buches lässt jedoch die Katastrophe vorbeiziehen und fokussiert auf die zwei Protagonisten: Elena, die versucht, ihre Mutter loszulassen und ihr eigenes Leben zu leben, und Ray, den Enkel des Jungen, der zu Anfang des Buchs bereits Großvater genannt wird, der auf seine eigene Art mit seiner dunklen Familiengeschichte kämpft.

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Memoir

Lisa Brennan-Jobs – Small Fry

Aufmerksam geworden bin ich auf dieses Stück Lebensgeschichte wieder mal durch Artikel auf LitHub: Das Titelbild wurde unter die besten Buchcover des vergangenen Septembers gewählt, es gab aber auch einen eigenen Artikel über den Entwicklungsprozess des Covers. Solche Artikel lese ich auf LitHub immer wieder gern, sie geben interessante Einblicke in einen kreativen Prozess, der den Inhalt des Buches mit einer grafischen Gestaltung verbindet.

What did I want? What did I expect? He didn’t need me the way I needed him. A dark and frightening loneliness came over me, a sharp pain beneath my ribs. I cried myself to sleep, the tears turning cold and pooling in my ears.

Die Autorin ist die Tochter von Apple-Gründer Steve Jobs. In ihrem Buch beschreibt sie ihre Kindheit, zuerst die frühen Jahre, die sie mit der alleinerziehenden Mutter verbrachte, immer wieder hart an der Kante zur Armut stehend, und später das Zusammenleben mit ihrem Vater, seiner neuen Partnerin und deren gemeinsamen Kindern. Über allen Begebenheiten schwebt stets das brennende Verlangen eines Kindes, dazugehören zu wollen, sich angenommen zu fühlen, um seiner selbst willen geliebt zu werden, ohne sich diese Liebe erst verdienen zu müssen.

So schreibt sie über ihre Mutter (in den Augen einer Teenagerin ein peinlicher, emotionaler Hippie):

I didn’t want my father to think I was anything like her. If he did, he might not want me.

Und später über den Vater und die neue Familie:

My mother already loved me. Even when she screamed at me, I knew it. I wasn’t so sure about them.

Über die exzentrische Persönlichkeit Steve Jobs wurde bereits zu seinen Lebzeiten viel geschrieben. Manche Eigenheiten, Verhaltensweisen gegenüber der Familie, werden in diesem Buch auch thematisiert. Es wird aber sehr deutlich, dass es nicht darum geht, den reichen, abwesenden Vater als unsensibles Monster abzustempeln. Es gibt eher einen Einblick in die komplexe Beziehungswelt einer Patchwork-Familie und die Mechanismen und Dynamiken, die sich in solchen Familienkonstellationen entwickeln können wie zum Beispiel Rivalität zwischen den Elternteilen um die Aufmerksamkeit des Kindes.

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Roman

Charlotte Roche – Schoßgebete

So ist man doch, wenn man wirklich liebt, man ist ja dann nicht selbstsicher und sagt sich: Klar, kein Problem, du kommst sowieso wieder.

Gerade wird mir klar, dass auch das literarische Umfeld, in dem ein Buch gelesen wird, beeinflusst, wie es wahrgenommen wird. Wenn ich My Year of Rest and Relaxation nicht direkt im Anschluss an A Little Life gelesen hätte, wäre ich vielleicht anders damit umgegangen. Mit Schoßgebete habe ich vor einigen Wochen an einem „verlorenen“ Abend begonnen, an dem ich mich zu keiner „anspruchsvollen“ Lektüre mehr aufraffen konnte. Beendet habe ich es nun in diesem Umfeld, wo sich erstaunliche Parallelen zu My Year of Rest and Relaxation auftun, die mir vor einer Woche gar nicht auffallen hätten könnten und in ein paar Wochen vielleicht schon nicht mehr aufgefallen wären.

Die erzählende Protagonistin stellt ein Klischeebild einer modernen Frau dar: unsicher, perfektionistisch, die eigenen Bedürfnisse verleugnend, um ihrem Mann zu gefallen. Aus feministischer Sicht ließe sich hier einiges kritisieren und zerpflücken, aber hier ist (zumindest mir) so deutlich klar, dass es sich um eine Paraodie handelt, dass ein „Ernstnehmen“ gar nicht in Frage kommt. Die Autorin macht sich lustig darüber, wie die Gesellschaft den Frauen vorgaukelt, wir müssten ständig perfekt gepflegt sein, uns vegetarisch oder noch besser vegan ernähren, ein umweltschonendes Elektroauto fahren und für den Partner jederzeit sexuell verfügbar sein.

Wenn ich mich aber darauf konzentrieren kann, was Gutes zu machen, zum Beispiel Vegetarierin zu werden, dann geht es mir besser.

Ein großes Thema ist auch das Verhältnis zur abwesenden Mutter, geprägt von einem Autounfall, bei dem zwei Brüder der Autorin ums Leben gekommen sind, die Mutter jedoch schwer verletzt überlebt hat. Hier bricht das parodistische Narrativ etwas, die Erzählung untersucht, wie die Beziehung der eigenen Mutter das weibliche Rollenerleben prägen kann, im positiven wie im negativen Sinn. Weibliches Konkurrenzdenken kommt in der Rolle der nur am Rande erwähnten Freundin der Protagonistin zum Ausdruck. Über allem schwebt jedoch immer das Streben nach Perfektion, nach Fehlerlosigkeit oder zumindest dem Verstecken der eigenen Mängel dort, wo niemand anders sie sehen kann. Ein Unterfangen, das unwiderruflich zum Scheitern verurteilt ist.

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Roman

Hanya Yanagihara – A Little Life

… but in those moments he would at times find himself, thinking, This is enough. This is more than I hoped. To be in New York, to be an adult, to stand on a raised platform of wood and say other people’s words! – it was an absurd life, a not-life, a life his parents and his brother would never have dreamed for themselves, and yet he got to dream it for himself every day.

Schon der Titel dieses Buches wirft Fragen auf: a little life, ein kleines Leben, ist damit ein kurzes Leben gemeint oder ein unbedeutendes Leben? Und wer oder was gibt überhaupt einem Leben Bedeutung? Dies ist eine der essentiellen Fragen, die in diesem Buch teils offensichtlich und teils zwischen den Zeilen aufgeworfen werden. Gegen Ende des Buches wird im Rahmen einer tatsächlichen Dinner-Konversation die Frage gestellt, ob eigene Kinder dem Leben Bedeutung geben und was dem Leben sonst noch Bedeutung geben könnte. Die eindeutige Antwort an dieser Stelle im Buch: Freundschaft.

Das Buch beginnt mit der College-Freundschaft der 4 Protagonisten: Willem, angehender Schauspieler, Jude, auf dem Weg, ein angesehener Anwalt zu werden, Malcolm, ruhelos und an Architektur interessiert und JB, bildender Künstler. Während im ersten Teil des Buches die Vorgeschichten und Familienhintergründe sowie die Entstehung der Freundschaft beleuchtet werden, fokussiert die Geschichte dann auf Jude, dessen Kindheit von den schlimmsten Erlebnissen geprägt wurde (Missbrauch, Misshandlung, Zwang zur Prostitution, CN: dies wird im Buch ausführlich beschrieben).

Or he would discover – as he often feared – that what he understood as friendship was really motivated by their pity of him?

Jude wächst im Kloster auf und erfährt dort in seinen frühen Lebensjahren ein Gefühl der Wertlosigkeit, das er sein restliches Leben nicht mehr ablegen wird. Er zweifelt an jeder Form von Wertschätzung, die ihm sein Umfeld entgegenbringt und vergräbt sich in der festen Überzeugung, dass seine Freunde ihn fallen lassen würden, wenn sie von seiner Vergangenheit wüssten. Daraus entwickelt sich ein Spannungsfeld, indem immer wieder darauf hingewiesen wird, wie sehr sich die Selbstwahrnehmung von Jude davon unterscheidet, wie seine Freunde ihn sehen. In den wenigen Momenten, in dem Judes Selbstwahrnehmung durch das unendliche Festhalten von Willem und Harold (Judes Adoptivvater) in Frage gestellt wird, steht er erschüttert vor seinem Selbstbild und kehrt dann doch immer wieder zum bekannten Muster zurück, das ihn durch die dunkelste Zeit seines Lebens getragen hat.

But although he hadn’t been convinced, it was somehow sustaining that someone else had seen him as a worthwile person, that someone had seen his as a meaningful life.

Welches Leben kann ein Mensch mit Judes Vergangenheit führen? Gibt es eine Möglichkeit, über schreckliche Erlebnisse in der Vergangenheit hinauszuwachsen, sie hinter sich zu lassen? Zwischen den Zeilen steht die Frage, was eigentlich einen Menschen ausmacht. Sind es die Gene, mit denen wir geboren werden oder sind es die Erlebnisse, die uns zu dem machen, was wir sind? In seinem Beruf hat Jude die Möglichkeit gefunden, jemand anders zu sein, selbst seine körperliche Behinderung, die sein alltägliches Leben und Empfinden in allen Aspekten so sehr prägt, spielt hier keine Rolle. Seine Arbeit als erfolgreicher Anwalt ist für Jude ein Bereich seines Lebens, in dem seine Vergangenheit keine Rolle spielt.

[and he cries] for the ability, at last, of believing a parent’s reassurances, of believing that to someone he is special despite all his mistakes and hatefulness, because of all his mistakes and hatefulness.

Jude kann sich selbst nicht annehmen und daher auch nicht akzeptieren, dass er von anderen angenommen wird. Gerade diese Form des Angenommen-seins erfahren Kinder üblicherweise von ihren Eltern: dass sie geliebt werden mit allen ihren Fehlern und trotz all der Fehler, die sie bereits gemacht haben und noch machen werden. Da Jude diese elterliche Liebe nie erfahren hat, fehlt ihm ein essentieller Bestandteil, um sich selbst akzeptieren zu können.

Es ist kein unbedeutendes Leben, das in diesem Buch beschrieben wird. Jeder Tag zählt. An jedem einzelnen Tag können wir uns entscheiden, unserem Leben Bedeutung zu geben. Durch Liebe zu eigenen Kindern oder durch Unterstützung, Freundschaft und Zusammenhalt zu anderen Menschen.

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Memoir

Glynnis MacNicol – No One Tells You This

… knowing I was fortunate did not make the plate before me any more palatable. … it was a truth universally acknowledged that by age forty I was supposed to have a certain kind of life, one that, whatever else it might involve, included a partner and babies.

In diesem Buch beleuchtet Glynnis MacNicol ihr Leben und ihre Gefühlswelt kurz vor und nach ihrem 40. Geburtstag. Es ist eine intensive Auseinandersetzung mit den Erwartungen, die die Gesellschaft an Frauen stellt. Diese Erwartungen verändern sich mit dem Verlauf des Alterungsprozesses. Im Alter von 40 Jahren ist eine Frau entweder mit Partner und Kindern versorgt oder verzweifelt – so die Annahme. Dazu finden sich im Buch jede Menge Beispiele wie etwa ältere Damen, die der Autorin bescheinigen, dass es für sie noch nicht zu spät sei, es sei immer noch Zeit.

Gleichzeitig stellt Glynnis MacNicol fest, dass Frauen, die das haben, was ihr selbst gerade in ihrem Leben fehlt (oder nach den gesellschaftlichen Vorgaben fehlen sollte), genauso unzufrieden mit ihrem Leben sind. Partner, Kinder, Haus, Beruf – selbst Frauen, die in allen diesen Bereichen auf der Erfolgsseite stehen, scheinen nicht (immer) glücklich zu sein. Das Leben ist hingegen ein Auf und Ab aus besseren und schlechteren Zeiten, völlig unabhängig von den aktuellen Lebensumständen.

I think they’re told they aren’t allowed to be unhappy when they have the only two things women are supposed to want.

Ein Jahr nach ihrem 40. Geburtstag hat sich Glynnis MacNicol mit ihrem Leben ausgesöhnt. Es gibt ein Leben jenseits der klassischen Lebensmodelle. Nach Plan verläuft das Leben sowieso nicht, da können wir uns genauso gut unser eigenes Lebensmodell ausdenken. Oder ausprobieren. Und wenn es nicht funktioniert: ein anderes ausprobieren.

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Roman

Jennifer Zeynab Joukhadar – The Map of Salt and Stars

She said to her daughter, “Every place you go becomes a part of you.” – ” But none more so than home.” Rawiya meant this more than anything else she’d said.

Zwei miteinander verwobene Geschichten werden in diesem Buch erzählt. Beide beschäftigen sich mit dem Verlauf einer Reise und trotzdem hat dieses Buch nichts von einem Roadmovie an sich. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des Mädchens Nour. Nour ist in New York geboren und aufgewachsen, nach dem Tod ihres Vaters kehrt die Familie in ihre Heimat (?) Syrien zurück und lebt in Homs, bis das Haus von einer Bombe getroffen wird. Nour muss mit ihrer Mutter, ihrem Onkel und ihren beiden Schwestern fliehen. Auf der Flucht wird die Familie getrennt und Nour zweifelt immer mehr daran, ob es für sie jemals wieder ein sicheres Zuhause geben wird.

“No one is like everybody else.“ Abu Sayeed taps the tips of his fingers to the railing. “All the stars are different, but when you look up, you see them just the same.”

Parallel wird die Geschichte des Mädchens Rawiya erzählt, die sich im 12. Jahrhundert als Mann ausgibt, um in die Dienste des Kartenmachers al-Idrisi zu treten. Nour hat Rawiyas Geschichte von ihrem Vater erzählt bekommen und hält damit die Erinnerung an ihn wach. Rawiya beweist in unzähligen Situationen ihren Mut und rettet die Expedition sowieso das Werk des Kartenmachers al-Idrisi mehr als einmal. Sie lässt sich durch nichts aufhalten und gibt nicht auf – und findet schließlich den Weg zurück zu ihrer Familie.

The farther I go, the bigger the world seems to be, and it always seems easier to leave a place than it is to come back.

Der Titel lässt eine gewisse Romantik vermuten, viele Teile der beschriebenen Flucht von Syrien bis nach Spanien sind jedoch das absolute Gegenteil. Da es sich hier um einen Roman handelt, der aus der Sicht eines Kindes erzählt wird, können wir davon ausgehen, dass die Realität der Kriegsflüchtlinge noch viel schlimmer ist, als hier beschrieben.

Es macht mich sprachlos, dass so viele Politiker nach wie vor ruhig schlafen, während täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken, Rettungsschiffe am Auslaufen gehindert und freiwillige Helfer kriminalisiert werden. Noch immer lässt mich der Gedanke nicht los an die entfernte Bekannte, die ich nach einem Segelurlaub im Mittelmeer im Gespräch mit anderen habe erzählen hören, sie habe sich Sorgen gemacht, sie könnten auf Flüchtlingsboote treffen, denn dann müssten sie die ja auch noch mitnehmen. Gerade bei Menschen, die so viel haben, denen es in ihrem Leben an nichts fehlt, kann ich diese Haltung nicht nachvollziehen. Menschlichkeit wäre das Gebot der Stunde.

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Roman

Nina LaCour – We Are Okay

I used to cry over a story and then close the book, and it all would be over. Now everything resonates, sticks like a splinter, festers.

Einer der Nachteile an digitalen Büchern ist ja, dass man vorher nicht abschätzen kann, wie lange sie sein werden. Nach den ersten paar Seiten schaue ich meist, wieviel Prozent ich bereits gelesen habe und das gibt mir dann einen Hinweis, wie lang das Buch wohl sein wird. Bei diesem Buch stellte ich fest, dass es überraschend kurz ist und trotzdem werden so viele unterschiedliche Themen behandelt, die für Jugendliche relevant sein können (Anders-Sein, zwischen freundschaftlichen und romantischen Gefühlen unterscheiden, Unsicherheit über die eigene Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung, Zugehörigkeitsgefühl, Einsamkeit, …).

Der Leser lernt die Hauptperson Marin kennen, die gerade an ihrem College alleine die Winterferien beginnt, weil sie (scheinbar) keine Familie hat, mit der sie die Weihnachtsferien verbringen kann. Stück für Stück erfährt der Leser vom komplizierten Verhältnis zur besten Freundin Mabel, dem Geheimnis von Marins jüngst verstorbenem Großvater und der großen Einsamkeit, die so schwer auf Marin lastet, dass sie niemanden mehr an sich heranlassen kann.

Das Ende kommt überraschend und hat zumindest bei mir das Gefühl hinterlassen, dass auch die dunkelsten und einsamsten Tage vorbeigehen und es immer einen Weg gibt.

Everything’s a gift and we’ll be alright.