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Sachbuch

Emily & Amelia Nagoski – Burnout

Selbsthilfebücher für Frauen gibt es zuhauf. Erst war ich spektisch, als ich die Empfehlung bei Parnassus las, aber dann hat mich das Konzept doch so schnell überzeugt, dass ich das Buch sogar sofort lesen wollte und daher die Kindle-Version gekauft habe.

Die Autorinnen versuchen genau das Gegenteil der traditionellen Selbsthilfe: mit den bekannten Traditionen zu brechen. Ratschläge für Frauen, die sich gestresst fühlen oder allgemein irgendwie unzufrieden mit ihrem Leben sind, orientieren sich oft an materiellen Dingen: (mehr) Sport, Ernährung, mindfulness/Achtsamkeit, Körperpflege, gratitude/Dankbarkeit. Ich hatte in der Vergangenheit des Öfteren das Gefühl, dass viele dieser Dinge nur ein zusätzliches To-Do sind, das wir als Frauen auch noch erledigen sollten und wenn wir das nicht unterbringen, dann sind wir selbst schuld, wenn wir uns nicht wohl fühlen. Diese Sichtweise teilen auch die Autorinnen. Nichts davon ist schädlich an sich, vieles kann uns tatsächlich weiterhelfen, aber meistens nur kurzfristig, wenn sich an den strukturellen Gegebenheiten nichts ändert. Diese strukturellen Gegebenheiten und was wir tatsächlich dagegen tun können, sind das Thema dieses Buchs.

Das Buch betrachtet das Phänomen Burnout durch die Brille der Wissenschaft. Studien zu diversen Themen werden zititert, die Qualität dieser Studien wird naturgemäß variieren und Forschungsergebnisse sind im Allgemeinen auch mit etwas Vorsicht zu genießen. Vertrauenerweckend fand ich jedoch, dass die Autorinnen zu Beginn auch erklären, dass Forschungsergebnisse immer vorläufig sind. Sie stellen kein fertiges Wissen dar, sie „beweisen“ nichts, sie liefern uns nur das, was wir mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft und ihrer Methodik wissen können. Forschungsergebnisse müssen wiederholt geprüft und bisweilen auch verworfen werden. Sie sind niemals endgültig. Weiters weisen die Autorinnen darauf hin, dass die im Buch zitierten Forschungsergebnisse sich auf Frauen in dem folgenden Sinn beziehen: Personen, die in einem Körper mit weiblichen Geschlechtsorganen geboren wurden, in der entsprechenden Geschlechterrolle erzogen wurden und sich auch selbst als Frau in einem psychologischen und sozialen Sinn wohl fühlen. Diese Einschränkung ist notwendig, da es aufgrund zu geringer Fallzahlen nahezu keine Ergebnisse zu Transgender- oder Nonbinary-Personen gibt.

Im Zusammenhang mit Burnout denken vermutlich die meisten Menschen an schwierige und anstrengende Job-Situationen: Lehrkräfte, Ärztinnen und Ärzte, Sozialarbeiter*innen, Menschen, deren Job es ist, für das Wohlbefinden anderer Menschen zu sorgen. Die Doppelbelastung durch Job und Familie belastet Eltern insbesondere. Der Druck des Kapitalismus und des ständigen Vergleichs mit anderen in den sozialen Medien trägt weiters zur Beschleunigung des Alltags bei. Neben diesen äußeren Stressfaktoren können jedoch auch innere Stressfaktoren, die weder für die Betroffenen noch für Außenstehende so einfach wahrnehmbar sind, das Wohlbefinden beeinträchtigen: zum Beispiel Selbstkritik, Identität, Erinnerungen oder Zukunftsängste.

Stressfaktoren sind der Löwe (oder Säbelzahntiger) der heutigen Zeit. Sie erzeugen Stresshormone in unserem Körper, die nicht abgebaut werden, denn wir laufen selten vor unseren Säbelzahntigern davon. Wir müssen uns beherrschen, lächeln, unsere Gefühle unterdrücken, nicht aus der Reihe tanzen. Das beste Mittel, um diese Stresshormone abzubauen, ist laut den Autorinnen Sport (jegliche körperliche Betätigung im Prinzip). Dabei verändern sich Atemrythmus und Herzschlag und wenn die Phase der körperlichen Betätigung vorbei ist, kann sich der Körper entspannen und damit ist der aktuelle Stress fürs Erste abgebaut. Andere Möglichkeiten sind der Austausch mit uns nahestehenden Menschen, der Sicherheit gibt, der uns zeigt, dass wir nicht (mehr) in Gefahr sind (kein Säbelzahntiger in Sicht). Entspannungstechniken, die auf der bewussten Anspannung und Entspannung von Muskeln basieren, können einen ähnlichen Effekt ausüben. Was definitiv nicht funktioniert: sich selbst zu sagen, dass alles in Ordnung ist. Es geht hier nicht um eine Verstandesentscheidung. Stress kann nicht vom Gehirn alleine bewältigt werden, sondern muss vom gesamten Körper verarbeitet werden.

Eine wichtige Begrifflichkeit ist das Human Giver Syndrome. Damit bezeichnen die Autorinnen das Gefühl oder die Vorstellung, den Menschen in unserer Umgebung schuldig zu sein, dass wir in jedem Moment ruhig, glücklich, großzügig gegenüber allen sind. Gelingt uns das nicht, legen wir uns das selbst als persönliches Versagen aus und mindern somit unser Selbstwertgefühl. Dieses Verhalten beruht auf der gesellschaftlichen Struktur, die Frauen jahrhundertelang als Menschen zweiter Klasse behandelt hat, die einzig und allein auf der Welt sind, um zu dienen. In diesem Zusammenhang beklagen die Autorinnen auch einen Mangel an weiblicher Solidarität: Frauen, die aus dem traditionellen weiblichen Rollenbild ausbrechen, aufstehen und ihren eigenen Weg gehen, bekommen oft zu hören, was sie sich eigentlich einbilden, was mit ihnen falsch ist und dass sie sich gefälligst an die Regeln halten sollen (get back in line). Dieses Phänomen basiert oft auf Neid. Wenn ich mich an die Regeln halten muss, dann soll die andere das auch.

In weiteren Kapiteln wird das Thema Körperbild und Selbstwahrnehmung hinterfragt und der Body Mass Index als Messinstrument kritisiert. (Für mich ein interessantes Detail am Rande: Menschen am unteren Ende des BMI-Normalbereichs haben in vielen Bereichen ein höheres Gesundheitsrisiko als Menschen, die laut BMI-Skala als übergewichtig gelten.) Die Bedeutung von Schlaf für das körperliche Wohlbefinden wird ebenfalls thematisiert. Viele andere Themen sind den meisten Leser*innen sicher bekannt (Perfektionismus macht uns unglücklich, self-compassion), werden jedoch von den Autorinnen nicht nur behauptet sondern in ihre Bestandteile dekonstruiert und analysiert.

Der populärwissenschaftliche Zugang in Verbindung mit popkulturellen Themen und dem Erzählen von Geschichten macht das scheinbar trockene Thema lebendig und nahbar. Für mich waren einige neue Blickwinkel dabei und ich kann dieses Buch nur jeder gestressten Frau (und ihren Partnern, Kindern, Bezugspersonen) empfehlen.