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Roman

Pierre Jarawan – Am Ende bleiben die Zedern

CN dieses Buch: Gewalt, Verlust eines Elternteils, Flucht, Krieg,
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Dieses Buch habe ich auf einer Reise im Travel Book Shop in Zürich gekauft. Es stand vermutlich seit ca. sieben Jahren auf meiner Leseliste, ich konnte es aber nie finden, weil … in meiner Liste der erste Buchstabe des Nachnamens des Autors falsch war. Ob das bereits in dem Artikel so war, aus dem ich die Empfehlung hatte, lässt sich leider nicht mehr nachvollziehen (der Link funktioniert nicht mehr). Jedenfalls hatte ich mich vor dem Nieselregen in das Buchgeschäft zurückgezogen, wollte eigentlich nichts kaufen. Nachdem ich mir mehrere Fotobände angesehen hatte, die ich keinesfalls auf dem Rest dieser Reise mitschleppen würde, konnte ich doch nicht umhin, dieses Buch zu kaufen, weil es irgendwie einfach Schicksal war, es dort zu finden …

Fassade des Travel Book Shop in Zürich, über dem Eingang hängt ein Zunftzeichen mit einer Palme, die Fensterrahmen sind grün gestrichen, im Hintergrund ist eine Reliefkarte in einem Schaukasten zu sehen

Samir, der Protagonist der Geschichte, wurde in Deutschland geboren, seine Eltern waren kurz vor seiner Geburt aus dem Libanon geflüchtet. Im Verlauf des Buches beschreibt Samir, wie er sich zwischen den beiden Kulturen verloren fühlt: Er wurde in Deutschland geboren, hat sein ganzes Leben hier verbracht. Die Erzählungen seines Vaters über dessen Heimatland Libanon bedeuten Samir aber umso mehr, nachdem sein Vater die Familie verlassen hat, als Samir acht Jahre alt war. Es war ein Verschwinden von einem Tag auf den anderen, verbunden mit Geheimnissen, auf die sich der achtjährige Samir keinen Reim machen kann. Das unerklärte Verschwinden des Vaters lässt ihm keine Ruhe, kostet ihn schließlich seinen Job in einer Bibliothek, beeinflusst als fixe Idee seine Beziehungen und Freundschaften. Erst der erneute Kontakt mit der Kindheitsfreundin Yasmin rüttelt ihn auf und führt ihn schließlich auf eine Reise in den Libanon mit dem Zweck, die Spuren seines Vaters zu verfolgen.

In den neunziger Jahren veränderten sich das politische Klima und die Welt um mich herum dramatisch. Doch so richtig merkte ich es nicht. Ich war gefangen in diesem verrückten, bunten Jahrzehnt, in dem alles zum letzten Mal analog war. Mitgerissen von einer Generation, die sich vehement weigerte, sich den Spaß nehmen zu lassen, obwohl es genügend Zeigefinger gab, die mahnend in die Zukunft wiesen. Wir hatten keine Kämpfe zu kämpfen. Der Kalte Krieg war vorbei, die Mauer war eingestürzt, die Zwillingstürme noch nicht. Die einzigen Grenzen, die wir kannten, waren die, die wir uns selbst auferlegten.

Der Protagonist Samir wurde Anfang der 80er geboren und in den Beschreibungen der Zeiten seines Aufwachsens, seiner Jugend habe ich vieles wieder erkannt, wie ich es selbst erlebt habe. Im Gespräch mit einer Person, die zur selben Zeit in Israel aufwuchs, habe ich überrascht festgestellt, wie unterschiedlich unsere Erinnerungen an diese Zeit sind. Während der Jugoslawien-Krieg für mich als Kind absolut keine Rolle spielte, waren die Verflechtungen zwischen dem Libanon und seinen Nachbarländern Syrien und Israel viel bestimmender für politische und gesellschaftliche Entwicklungen und laut dieser Person auch wesentlich präsenter im alltäglichen Leben.

Das Buch ist eine wunderbare Mischung aus der persönlichen Geschichte Samirs und den politischen Entwicklungen, die die Erfahrungen so vieler geflüchteter Menschen entscheidend geprägt haben. Samirs Reise in den Libanon erzählt von den Landschaften, die ihm sein Vater als Kind näher gebracht hat, vom Geruch der Zedern, den schroffen Bergen, dem fremden Flair eines Landes, in dem sich Samir aber eigentlich nicht fremd fühlen will. In den Hinweisen, die er aus seiner Kindheit bewahrt hat und den Recherchen, die ihm den Bibliotheksjob gekostet haben, sucht er nach Anhaltspunkten, die ihm dabei helfen könnten, das Schicksal seines verschwundenen Vaters zu ergründen. Oft entwickeln sich scheinbare Sackgassen zu neuen Verbindungen.

Meine uneingeschränkte Empfehlung für dieses Buch. Die Geschichte ist mitreißend mit einer überraschenden Wendung am Ende, die ich absolut nicht kommen habe sehen, und die trotzdem ganz wunderbar passt. Den Schreibstil fand ich sehr angenehm, die Mischung der Zeitebenen (der junge Samir mit seinen Eltern, der „heutige“ Samir auf seiner Reise in den Libanon) wird mit dem Fortschreiten der Geschichte immer enger und führt schließlich komplett in die Gegenwart (1. Auflage 2018). Der umfangreich beschriebene kulturelle und gesellschaftliche Kontext aus einer Zeit, die ich einerseits selbst in Erinnerung habe, in der sich aber in einem gar nicht so weit entfernten Land Dinge zugetragen haben, mit denen ich mich nie befasst habe, hat mich sehr berührt. Wenn wir uns nur mehr mit anderen Kulturen, Lebensbedingungen, Religionen befassen würden, würde es insgesamt vielleicht weniger Konflikte geben. Vielleicht trägt dieses Buch etwas zum Verständnis bei, mir hat es jedenfalls eine unbekannte Welt innerhalb unserer alltäglichen Welt eröffnet.

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Roman

Martin Prinz – Der Räuber

CN dieses Buch: Mord
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Ein Räuber sitzt umzingelt auf einem Berg. Noch ist ihm sein Platz, der finstere Wald, eine Insel. Kalt ist es in der Nacht und sternenklar. Die Straßen füllen sich langsam mit Transportern und Mannschaftswagen. Es ist eine Art von Krieg. […] Der Räuber lächelt, wenn er seinen Verfolgern aus der Finsternis zusieht. Ein Räuber kämpft immer an der Seite des Mondes. Er sitzt da und lächelt. Das ist auch Krieg. Jetzt sind wieder die anderen am Zug.

Fürs Erste reicht’s mir dann mit den Literatur-Geocaches. Dieses kurze Werk lässt sich zwar flüssig lesen, die Flucht des zum Mörder gewordenen Bankräubers Rettenbacher und seine Gedanken auf dieser Flucht ließen mich jedoch kalt. Das (Davon-)Laufen als Metapher für die Flüchtigkeit der Welt? Die Flucht als Spiel, bei dem sich der einsame Räuber immer wieder im Vorteil gegenüber den Hundertschaften der Polizei sieht, die ihn verfolgen? Hat bei mir nicht gezündet.

Er durfte nicht immer allein deshalb durch die Welt hetzen, damit sie im Stillstehen nicht zusammenbrach. Er wollte ihr zumindest manchmal ganz unbewegt zusehen, wie sie sich vor ihm in ängstlicher Hektik abmühte.

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Krimi Roman Thriller

Bernhard Aichner – Totenrausch

CN dieses Buch: Mord, Prostitution, Folter, Brandmal, Gewalt, Pornografie, Masturbation, Drogenmissbrauch, Vergewaltigung, Kindesentführung
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In meinem Post zum vorherigen Roman der Blum-Reihe (Totenhaus) sah ich einen neuen Aspekt in der Persönlichkeit der Protagonistin Blum. Aus dem zentralen Motiv Rache war Notwehr geworden. So geht es auch in diesem dritten Teil weiter. Auf der Flucht gerät Blum in ein Abhängigkeitsverhältnis mit einem Rotlichtmagnaten und das kann natürlich nicht gut ausgehen. Der Roman spart nicht an brutalen Details und lässt Blum auch ordentlich leiden. Prägend ist wiederum ihr Mutterinstinkt. Als der Rotlichtboss ihre Kinder entführt, sieht Blum endgültig rot.

Ansonsten behält Bernhard Aichner seinen Schreibstil und das rasende Tempo der Geschichte bei. Der Schauplatz ist Hamburg, könnte aber genauso gut in jeder anderen größeren Stadt sein. Aber natürlich passt die Reeperbahn gut als Kulisse für die Verbindungen ins Rotlichtmilieu als Kontrast zum beschaulichen Leben in Blankenese. Wer die ersten beiden Teile gelesen hat, weiß, was sie/er zu erwarten hat.

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Roman

Tommi Kinnunen – Wege, die sich kreuzen

CN dieses Buch: Tod eines Kindes während des Geburtsvorgangs (graphische Beschreibung), Sterben, Tod, Suizidversuch, Suizid,  Fehlgeburt, Krebs, Krieg
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Ein nach Österreich zugewanderter Finne hat es sich zur Aufgabe gemacht, anhand von Literatur-Geocaches finnischsprachigen Autor:innen zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen. Nach Finnisches Feuer ist dieses Buch das Zweite, auf das ich durch diese Geocache-Serie gestoßen bin.

Zu Beginn haben mich die verschiedenen Zeitebenen und Perspektiven etwas verwirrt, aber mit zunehmendem Fortgang der Geschichte wird das besser. Es fügen sich mit den unterschiedlichen Perspektiven auf bestimmte Ereignisse Erkenntnisse zusammen. Erzählt wird die Geschichte einer finnischen Familie mit nicht-traditionellem Familienmodell über insgesamt 100 Jahre. Während Hebamme Maria mit ihrer ledig geborenen Tochter Lahja erstaunlich gut zurecht kommt angesichts der Ungewöhnlichkeit dieser Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, leidet Lahja selbst als erwachsene Frau unter der zunehmenden Entfremdung von ihrem Ehemann Onni, dem wiederum seine homosexuellen Neigungen, die in dieser Epoche kriminalisiert und als Krankheit betrachtet wurden, schwer zu schaffen machen. Die Blindheit der gemeinsamen Tochter Helena wird als schwerer Schicksalsschlag wahr genommen, das Mädchen erkämpft sich jedoch Stück für Stück mehr Unabhängigkeit.

Über den Titel und ob er zur Geschichte passt, denke ich immer noch nach. Einerseits kreuzen sich immer wieder die Wege der Familienmitglieder im gemeinsam bewohnten großen Haus. Andererseits verlaufen doch viele der beschriebenen Lebensabschnitte einfach parallel, ohne sich zu kreuzen. Aber daraus lässt sich wohl kein Titel ableiten. Für den Cache fehlen mir übrigens noch drei Antworten, die ich überlesen habe. Also werde ich noch weiter Zeit mit diesem Werk verbringen dürfen.

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English Roman

Rachel Kushner – The Mars Room

CN dieses Buch: Mord, Gewalt, Stalking, sexuelle Handlungen, Suizid, Drogenmissbrauch
CN dieser Post: Erwähnung von Stalking


Prison was a place where you had to be strong to get through each day. […] To stay sane, that was the thing. To stay sane you formed a version of yourself you could believe in. 

In letzter Zeit passiert es mir immer wieder, dass ich ein Buch von meiner Bookmark-Liste in der Libby-App auswähle, weil es gerade verfügbar ist, ohne dass ich mich noch erinnern könnte, warum ich es überhaupt auf die Liste gesetzt habe oder worum es in dem Buch überhaupt geht. Der Titel dieses Buchs The Mars Room deutet nämlich kaum darauf hin, dass sich die Geschichte zu großen Teilen im Frauengefängnis abspielt.

Schon der erste Absatz zieht die Leserin direkt in die Geschichte hinein und stellt sowohl die Protagonistin Romy Hall, als auch ihren Status als Insassin eines Frauengefängnisses sowie ihren aktuellen Aufenthaltsort in einem Überstellungstruck in wenigen Sätzen klar. In den weiteren Kapiteln wird teilweise aus Romys Perspektive erzählt, aber auch andere Personen kommen zu Wort. Besonders bedrückend ist dabei die Perspektive durch die Augen und den Geist Kurt Kennedys, die kurz vor Ende auflöst, weswegen Romy überhaupt im Gefängnis gelandet ist.

I have no plans at all. The thing is you keep existing whether you have a plan to do so or not, until you don’t exist, and then your plans are meaningless. But not having plans doesn’t mean I don’t have regrets.

Thematisiert werden auch die speziellen Schwierigkeiten von transsexuellen Personen im Gefängnissystem. Dort gibt es kein diverses Geschlecht, es gibt nur weiblich und männlich. Menschen, die sich in diesen binären Kategorien nicht wiederfinden, sind gerade im Gefängnissystem unvorstellbaren Anfeindungen und Gefahren ausgesetzt. Als Parallele in der realen Welt lassen sich die Erlebnisse von Whistleblowerin Chelsea Manning erwähnen.

Randnotiz: Beim titelgebenden Mars Room handelt es sich um einen Strip Club. Romy beschreibt ihre männlichen Kunden als wandelnde Brieftaschen, die es möglichst effizient auszunehmen gilt. Eine andere Perspektive auf die Arbeit in einem (realen) Strip Club liefert diese Folge des Podcasts Death, Sex & Money, in der eine Tänzerin erklärt, dass sie ihre Arbeit hauptsächlich als therapeutisch begreift. Ein interessanter Einblick in eine Art Parallelwelt, die viele von uns vermutlich nur aus der verzerrten Darstellung in den Medien kennen.

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Roman

Octavia E. Butler – Parable of the Sower

It scares me how many things I’ve got to learn. How will I learn them? Is any of this real?

Tipp: Wenn du dich unvorbereitet in diese dystopische Welt hineinwerfen lässt, dann rechne mit einem harten Aufschlag. Schon auf den ersten Seiten wird klar: das wird keine einfache Lektüre. In den vergangenen Jahren habe ich einige Dystopien gelesen (zB The Maze Runner oder Der Geschmack von Wasser), aber keine hat mich bisher dermaßen erschreckt und gleichzeitig überzeugt. 

Die Protagonistin Lauren lebt in einer Art Gated Community. Wasser ist knapp, Lebensmittel und Wasser werden immer teurer, es gibt kaum noch Arbeitsplätze. Reichere Menschengruppen verschanzen sich hinter Mauern, während auf den Straßen unter den Armen nur noch das Recht der Stärkeren gilt. Obwohl die Angriffe der Armen auf die Community immer häufiger werden, leben die Menschen innerhalb der Mauern weiter, als hätte sich nichts verändert. Die Situation scheint ausweglos. Die 15-jährige Lauren ahnt jedoch, dass es so nicht weitergehen kann. Sie sieht den Tag kommen, an dem die Tore dem Ansturm nicht mehr standhalten können. Lauren bereitet einen Notfallrucksack vor, um fliehen zu können. Im Norden sollen die Wetterverhältnisse noch besser sein, aber alle Menschen, die die Möglichkeiten haben, zu fliehen, versuchen, dorthin zu gelangen. Die nördlichen Grenzen werden gegen die Flüchtlingswelle verteidigt.

Viele Elemente dieser Dystopie sind so gegenwärtig, so vergleichbar mit aktuellen Entwicklungen, dass es schwer fällt, zu glauben, dass das Buch bereits 1993 geschrieben wurde. Eindeutig sind die Verweise auf den Klimawandel als Auslöser dieser schwierigen gesellschaftlichen Situation, aber auch die wirtschaftlichen Konsequenzen, die sich daraus ergeben (Superreiche verschanzen sich, kaufen ganze Landstriche auf, um daraus noch mehr Geld zu scheffeln, moderne Sklaverei wird nicht nur am Rande erwähnt, sondern auch erklärt, aus welchen Gründen sich verzweifelte Menschen darauf einlassen). Aber auch die sozialen Veränderungen (Gruppenzusammenhalt aber Ausschluss von anderen, anderen nicht zu helfen, um das eigene Leben zu schützen, „Das Boot ist voll“-Mentalität) lassen sich in unserer aktuellen gesellschaftlichen Situation bereits erkennen. 

All that you touch,

You Change.

All that you Change,

Changes You.

The only lasting truth

Is Change.

God

Is Change.

Neben ihren praktischen Notfallplänen (Lauren packt einen Notfallrucksack und bereitet sich auf das Leben außerhalb der Mauern vor) versucht Lauren auch, auf geistiger Ebene mit der Situation zurecht zu kommen. Ihr Vater ist religiöser Führer der Gemeinde, Lauren kann sich jedoch kaum noch mit seinen Lehren identifizieren und entwickelt ihre eigene Sicht auf die Welt, die im Wesentlichen Veränderung über alles stellt. In ihrem Notizbuch notiert sie Verse und Gedanken, die sich schließlich zu einer Art Religion namens Earthseed zusammenfügen. Die meisten Verse lassen sich auch unabhängig vom Glaubensaspekt auf verschiedenste Lebenssituationen übertragen.

Your teachers

Are all around you.

All that you perceive,

All that you experience,

All that is given to you

or taken from you,

All that you love or hate, 

need or fear

Will teach you –

If you will learn.

Es dürfte wohl kaum als Spoiler gelten, wenn ich verrate, dass Lauren am Ende des Buches nicht mehr mit ihrer Familie in der Gated Community lebt. Mir war vor dem Lesen nicht bewusst, dass es sich um eine Serie handelt, ein Abschluss ist daher in diesem Sinne nicht gegeben. Das Buch endet eher mit einem Neuanfang. Auf den ersten Seiten hätte ich nicht gedacht, dass aus dieser beklemmenden Situation noch Hoffnung entstehen könnte.

The universe is God’s self portrait.

Randnotiz: Die Jahresstatistik für 2019 ist äußerst zufriedenstellend. Laut aktueller Zählung habe ich insgesamt 58 Bücher hier im Blog beschrieben, nebenbei habe ich im Rahmen meines Fernstudiums große Mengen an Fachliteratur gelesen. Gezählt habe ich auch wieder die Verteilung auf männliche und weibliche Autoren, die in diesem Jahr sehr deutlich zugunsten der weiblichen Autoren ausgefallen ist. Bezüglich der Buchformate liegt auch 2019 die Overdrive eLibrary eindeutig vorn. Die deutschsprachige Virtuelle Bücherei/Onleihe hat in diesem Jahr ein neues DRM erhalten, das das Lesen auch ohne Adobe ID möglich macht. Leider ist das System noch nicht ausgereift, die App teilweise etwas sperrig in der Handhabung und der Katalog noch nicht so groß. Immerhin drei Bücher habe ich aber dieses Jahr mit der neuen Onleihe-App gelesen und noch einige weitere sind auf der Wunschliste. Auch das Papier-Angebot der Büchereien Wien habe ich 2019 intensiv genutzt, wegen einiger Bücher, die ich für Geocaching-Rätsel brauchte, habe ich auch die Zweigstellen Hormayrgasse und Engerthstrasse besucht. Auch 2020 wird es mit dieser wilden Mischung hier weitergehen.

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Roman

Jennifer Zeynab Joukhadar – The Map of Salt and Stars

She said to her daughter, “Every place you go becomes a part of you.” – ” But none more so than home.” Rawiya meant this more than anything else she’d said.

Zwei miteinander verwobene Geschichten werden in diesem Buch erzählt. Beide beschäftigen sich mit dem Verlauf einer Reise und trotzdem hat dieses Buch nichts von einem Roadmovie an sich. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des Mädchens Nour. Nour ist in New York geboren und aufgewachsen, nach dem Tod ihres Vaters kehrt die Familie in ihre Heimat (?) Syrien zurück und lebt in Homs, bis das Haus von einer Bombe getroffen wird. Nour muss mit ihrer Mutter, ihrem Onkel und ihren beiden Schwestern fliehen. Auf der Flucht wird die Familie getrennt und Nour zweifelt immer mehr daran, ob es für sie jemals wieder ein sicheres Zuhause geben wird.

“No one is like everybody else.“ Abu Sayeed taps the tips of his fingers to the railing. “All the stars are different, but when you look up, you see them just the same.”

Parallel wird die Geschichte des Mädchens Rawiya erzählt, die sich im 12. Jahrhundert als Mann ausgibt, um in die Dienste des Kartenmachers al-Idrisi zu treten. Nour hat Rawiyas Geschichte von ihrem Vater erzählt bekommen und hält damit die Erinnerung an ihn wach. Rawiya beweist in unzähligen Situationen ihren Mut und rettet die Expedition sowieso das Werk des Kartenmachers al-Idrisi mehr als einmal. Sie lässt sich durch nichts aufhalten und gibt nicht auf – und findet schließlich den Weg zurück zu ihrer Familie.

The farther I go, the bigger the world seems to be, and it always seems easier to leave a place than it is to come back.

Der Titel lässt eine gewisse Romantik vermuten, viele Teile der beschriebenen Flucht von Syrien bis nach Spanien sind jedoch das absolute Gegenteil. Da es sich hier um einen Roman handelt, der aus der Sicht eines Kindes erzählt wird, können wir davon ausgehen, dass die Realität der Kriegsflüchtlinge noch viel schlimmer ist, als hier beschrieben.

Es macht mich sprachlos, dass so viele Politiker nach wie vor ruhig schlafen, während täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken, Rettungsschiffe am Auslaufen gehindert und freiwillige Helfer kriminalisiert werden. Noch immer lässt mich der Gedanke nicht los an die entfernte Bekannte, die ich nach einem Segelurlaub im Mittelmeer im Gespräch mit anderen habe erzählen hören, sie habe sich Sorgen gemacht, sie könnten auf Flüchtlingsboote treffen, denn dann müssten sie die ja auch noch mitnehmen. Gerade bei Menschen, die so viel haben, denen es in ihrem Leben an nichts fehlt, kann ich diese Haltung nicht nachvollziehen. Menschlichkeit wäre das Gebot der Stunde.

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Roman

Anthony Doerr – All The Light We Cannot See

Dieses Buch erzählt eine Geschichte, die zur Zeit des zweiten Weltkriegs spielt. Die beiden Hauptprotagonisten sind Marie-Laure, die als blindes Mädchen zu Beginn mit ihrem Vater in Paris aufwächst und schließlich bei ihrem Onkel im kleinen französischen Ort Saint-Malo Zuflucht sucht, und Werner, der als Waisenkind aufwächst und aufgrund seines autodidaktisch angeeigneten Wissens über Radioempfänger und andere Technik zuerst in einer deutschen Schule und schließlich in der deutschen Armee landet. Die beiden stehen auf verschiedenen Seiten, sind jedoch durch einen irrwitzigen Zufall des Schicksals miteinander verbunden.

Die Geschichte ist kunstvoll konstruiert, sowohl die Gemeinsamkeit von Marie-Laure und Werner und schließlich auch das spätere Schicksal der Protagonisten entfaltet sich wie in einem Netz, in dem immer wieder Begegnungen als Schnittpunkte eingewoben sind. Lebensnah ist die Beschreibung, das Happy End ist nicht das Ende. Erst der Tod bildet das Ende für einen Menschen und manchmal bleibt seine Geschichte mit seinen Verwandten und den Menschen, die an ihn zurück denken, noch lange mit anderen Schicksalen verwoben.

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Roman

Colson Whitehead – The Underground Railroad

And destroy that what needs to be destroyed. To lift up the lesser races. If not lift up, subjugate. And if not subjugate, exterminate. Our destiny by divine prescription – the American imperative.

Dieser Roman gibt tiefe Einblicke in das Leben der Sklaven im Süden der USA im 17. und 18. Jahrhundert. Die Protagonistin Cora flieht von der Baumwollplantage, auf der sie geboren wurde und ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hat. Sie ergreift trotz großer Gefahr die Chance auf ein freies Leben. Ihr Weg ist lange und von vielen Rückschlägen und Demütigungen geprägt. Am Ende des Buches ist sie noch immer auf dem Weg.

Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Der Leser lernt sowohl die Sicht der Sklaven kennen, die bereits auf der Plantage geboren wurden und kein freies Leben kennen, als auch die der Gegner der Sklaverei, die teilweise ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um Menschen die Freiheit zu ermöglichen und sie vor Misshandlung und Mord zu schützen.

Cora hat in einem ihrer Verstecke viel Zeit, sich mit Büchern auseinanderzusetzen und über die Ungerechtigkeit der Welt nachzudenken. Dem Autor ist es gelungen, ihre Weltsicht einzufangen, ohne ausschließlich zu moralisieren. Interessant ist auch die Perspektive des Sklavenjägers (siehe Zitat oben), die auch die Meinung vieler Sklavenhalter widerspiegelt. Teilweise schmerzt es fast, die Beschreibungen der damals weit verbreiteten Rassenlehre und damit der Vorstellung von mehr oder weniger wertigen Menschen zu lesen. Es ist auch erschreckend (und notwendig), sich bewusst zu machen, dass auch heute noch eine Klassengesellschaft existiert, in der manche Menschen als wertvoller erachtet werden als andere. Die Idee der Chancengleichheit für alle ist nach wie vor eine Illusion oder ein nobles Wunschbild.

Helfen kann hierbei nur der Gedanke, dass jede und jeder auch an einem anderen Ort, in einer anderen Kultur, unter anderen Umständen geboren werden hätte können. Wir haben uns unseren Platz im Leben nicht nur selbst erarbeitet, wir haben Startvoraussetzungen mitbekommen, die rein vom Zufall bestimmt sind. Für diese Startvoraussetzungen sollten wir dankbar sein und jene unterstützen, die mit weniger Vorteilen ins Leben gestartet sind. Gerade Menschen, die aus einem anderen Land zu uns kommen, die in einem Land geboren wurden, in dem Krieg herrscht und in dem sie kein gutes Leben führen können, sollten alle Chancen bekommen, die ihnen bisher versagt wurden. Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf ein gutes Leben. Jede und jeder.

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Jugend Roman

Julya Rabinowich – Dazwischen: Ich

Ich werde nie sein wie die. Sogar wenn ich die tollste Ausrüstung hätte und ein schönes eigenes Zimmer und täglich zum Friseur liefe. Meine Angst wäre noch da. Mein Ducken, wenn sich jemand zu schnell in meiner Nähe bewegt. Ich muss mich daran gewöhnen. Einfach nie so sein zu können wie die anderen mit ihren schönen Sachen. Und ihrem selbstbewussten Lachen. Da kann ich noch so geschickt am Seil klettern.

Die Protagonistin dieses Romans ist die jugendliche Madina. Mit ihrer Familie musste sie aus einem Kriegsgebiet flüchten, ihrem Vater drohte Verfolgung und Tod. Nun lebt sie als Flüchtling in Österreich, ihre Familie wartet angespannt auf den Asylbescheid.

Schon der Titel beschreibt den Zustand, in dem sich Madina, aber auch ihr Bruder und ihre Eltern befinden. Madina ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden und dazuzugehören, und der Erinnerung an ihr altes Leben. Sie denkt an ihre Freundin zurück, sie vermisst ihre Großmutter, die zurückbleiben musste, weil die Reise für sie zu beschwerlich war. Sie klammert sich an ihre Freundin Laura, die ihre einzige Verbindung in ihrem neuen Leben ist. Bei Amtswegen übersetzt sie für ihren Vater und schwankt zwischen der Scham über den Zustand ihrer Familie und der Wut auf das System, auf die immer neuen Sachbearbeiter, denen sie ihre Geschichte immer wieder erzählen muss und die ihr doch nicht weiterhelfen können. Sie will so sein wie ihre Mitschüler und fühlt sich als Außenseiterin.

Auch Madinas Eltern sind zerrissen. Sie haben es schwerer, im neuen Leben anzukommen. Sie sollen sich anpassen, wollen aber ihre Werte nicht verraten. Madinas Vater befürchtet, seine Tochter könnte durch den gesellschaftlichen Umgang verdorben werden. Er versucht, sie einzusperren, ist aber gleichzeitig auf ihre Hilfe angewiesen. Eine unlösbare Spannung, die sich weiter steigert, als Madina mehr über ihre Familiengeschichte erfährt.

Wir wissen zu wenig darüber, was eine Entwurzelung mit der Persönlichkeit von Menschen anstellt. Sozialisation prägt entscheidend unsere Wertvorstellungen und unsere Sicht auf die Gesellschaft. Wird nun ein Mensch aus dem herausgerissen, was er bisher kannte, hat er nicht nur sein Zuhause verloren, sondern auch seine Vorstellung davon, wie die Welt funktioniert. Von einem Moment auf den anderen gelten andere Regeln und Gesetze. Das Nicht-Beherrschen der Sprache macht das Verstehen der neuen Regeln unmöglich. Die Traumata des Kriegs dürfen auch nicht vergessen werden. Kein Mensch kann seine Vergangenheit vollständig hinter sich lassen. Vor allem nicht, wenn es ihm erschwert oder unmöglich gemacht wird, sich eine Zukunft zu schaffen. Alle Menschen sollten eine Chance bekommen, sich eine Zukunft aufzubauen.

Aber das Gefühl, das kann besser werden. Das, was jetzt ist. Wenn etwas ganz schlimm war, dann kann es manchmal keine Vergangenheit werden, weil es sich zu sehr an der Gegenwart festgebissen hat. Es bricht immer wieder ins Sichere und ins Neue hinein. Es bleibt als ungebetener Gast. Aber dieses Hereinbrechen wird weniger. Mit der Zeit.