Categories
English Roman

Marilynne Robinson – Lila

CN dieses Buch: Gewalt (mit einem Messer und angedeuteter Todesfolge)
CN dieser Post: –


And somehow she found her way to the one man on earth who didn’t see it. Or maybe he saw it the way he did because he had read that parable, or poem, or whatever it was.

Im dritten Teil von Marilynne Robinsons Gilead-Serie erfährt die Leserin die Vorgeschichte von Lila, die in den ersten beiden Büchern als Frau von Reverend John Ames eher eine Nebenrolle spielt. Bisher wurde sie als stille, bedachte, freundliche Frau beschrieben. Ein niedriger Bildungsgrad, aufgrunddessen sie sich aus den religiösen Diskussionen zwischen Ames und Boughton heraushält, wurde nur angedeutet. In diesem Buch wird nun beschrieben, wie Lilas Leben verlief, bevor sie in Gilead auf den Reverend traf und mit ihm ein neues Leben begann.

“But if God really has all that power, why does He let children get treated so bad? Because they are sometimes. That’s true.”

Auch in diesem Buch werden viele religiöse Themen angeschnitten. Einerseits traut sich Lila kaum, Dinge zu fragen, weil sie sich zu dumm fühlt, andererseits interessiert sie sich für den Glauben des Mannes, in den sie sich verliebt hat. Sie versucht, die Welt und das Leben auf eine Weise zu verstehen, die ihr bisher aufgrund ihrer Herkunft verschlossen war. Und natürlich stellt sie sich auch die Frage, wie dieser allmächtige Gott es zulassen kann, dass Kinder hungern, schlecht behandelt werden, so viel Leid ertragen müssen. Wie auch in vielen anderen Werken fehlt auch hier eine auch nur halbwegs hilfreiche Erklärung. Der Reverend vertröstet Lila mit einem Gedicht auf ein späteres Gespräch, um sie nicht mit den Antworten abzuspeisen, die er üblicherweise anderen Menschen gibt, die ihm in ihrem Leid diese Frage stellen.

[…] Robinson is saying that O’Connor writes beautifully even though her imagination is appalling. But how can we judge a writer’s imagination except by way of her writing? If the writing is beautiful, how can the imagination be otherwise? What does Robinson really mean?

Das obige Zitat stammt aus dem kürzlich veröffentlichten Lithub-Artikel On the Case for Meanness in Fiction von Brock Clark. Der Text vergleicht die Notwendigkeit bzw. die Sinnhaftigkeit von kindness im Leben sowie im Schreibprozess von Autor*innen. Er zitiert dabei eine Kontroverse zwischen Marilynne Robinson und Flannery O’Connor, die eher die Meinung vertritt, dass compassion für schreibende Menschen vollkommen überbewertet ist. Der Text argumentiert unter anderem damit, dass ein auf kindness und compassion basierendes Schreiben (wie es Marilynne Robinson praktiziert), gleichzeitig ein langweiliges Schreiben ist (und daher in langweiligen Geschichten resultiert). Nach der Lektüre von Gilead war ich ja unter anderem überrascht, dass in dem Buch kaum etwas passiert. In dieser Wahrnehmung hat mich der oben zitierte Artikel bestätigt, er ist daher eine interessante Ergänzung zur Lektüre von Marilynne Robinson.

Categories
English Sachbuch

Edward Tufte – The Visual Display of Quantitative Information

CN dieses Buch: –
CN dieser Post: –


Seit ich Envisioning Information gelesen habe, habe ich immer wieder Richtung Tufte geschielt, aber irgendwie waren die Bücher nie irgendwo zu haben. Dann dachte ich mir, wenn sich andere Menschen in der aktuellen Situation (die nun schon über ein Jahr so geht und immer noch wenig Aussicht auf baldige Besserung) die Wohnung verschönern oder neue Gerätschaften anschaffen, warum sollte ich mir dann nicht eine Buchinvestition gönnen? Beim internationalen Verteilungsportal fand ich dann auch eine Gesamtausgabe (4 Bücher, alle Hardcover, in gutem Zustand) zu einem überschaubaren Preis (auf den dann noch heftige Zollgebühren aufgerechnet wurden, aber da hatte ich mich halt schon entschieden). Ja, die Investition hat sich gelohnt, ich bin sehr glücklich, diese Bücher jetzt in meinem Besitz zu haben und jederzeit darin blättern zu können.

Besonders interessant fand ich hier auch die Einleitung, in der der Autor erklärt, dass kein Verlag dieses Buch produzieren wollte bzw. er sich nicht einig werden konnte wegen seiner hohen Ansprüche. Also hat er das Buch im Selbstverlag herausgegeben und dafür große Summen investiert. Der Erfolg sei ihm vergönnt, ich habe selten ein schöneres Buch in Händen gehalten.

For Playfair, graphics were preferable to tables because graphics showed the shape of the data in a comparative perspective. […] He [Playfair] was right: small, non-comparative, highly labeled data sets usually belong in tables.

Das generelle Thema ist die Darstellung von Informationen in Grafiken. Dabei erfährt die Leserin unter anderem von William Playfair (1759–1823), der die meisten Grafikformate, die wir heute kennen, sozusagen erfunden hat.

Graphical excellence is that which gives to the viewer the greatest number of ideas in the shortest time with the least ink in the smallest space.

Jedes Kapitel schließt Tufte mit Prinzipien ab, die er auf die Gestaltung von Grafiken bzw. die visuelle Darstellung von Information generell anwendet. Als Maßstab für die Beurteilung von grafischen Darstellungen wendet er den sogenannten data/ink-Ratio an. Dabei unterteilt er solche Teile von Grafiken, die tatsächlich die Daten darstellen, und solche, die quasi Ballast sind und weggelassen werden können, ohne dass die Daten dabei verändert werden. Gerade dieses Kapitel, in dem er zeigt, wie einfach sich der data/ink-Ratio bei verschiedenen Grafiken erhöhen lässt, fand ich sehr spannend. Ich würde meine Box Plots in Zukunft zwar gerne so zeichnen, befürchte allerdings, dass meine Redaktionskolleginnen sich nicht so leicht davon überzeugen lassen werden.

Erklärt werden auch viele Fehler, die beim Gestalten von grafischen Informationen passieren können. Als Beispiel sei hier das Verhältnis zwischen visual area und numerical measure genannt. Wenn beispielsweise Inflationsraten durch kleiner werdende Geldscheine dargestellt werden, ergibt sich dadurch ein falsches Bild, da die Geldscheine in zwei Dimensionen verkleinert werden, obwohl es sich bei der Inflationsrate um eine eindimensionale Information handelt. Gleiches gilt für Ölfässer unterschiedlicher Größe, die den Wert eines Barrels Rohöl anzeigen sollen (und ich bin fast sicher, dass ich in meiner Vergangenheit in einem anderen Job diese Sünde auch begangen habe …).

Es handelt sich hierbei natürlich um grafische Fachliteratur, die jedoch sehr interessant bestimmte Facetten der grafischen Darstellung von Informationen auslotet. Wer sich für diese Themen interessiert, wird mit Tuftes Standardwerk sicher seine*ihre Freude haben.

Categories
English Fantasy Roman

George R. R. Martin – A Dance With Dragons

CN dieses Buch: Vergewaltigung, Folter, Gewalt gegen Frauen, Kinder, Menschen, Tiere
CN dieser Post: –


“A reader lives a thousand lives before he dies,” said Jojen. “The man who never reads lives only one.”

Im fünften Teil habe ich nun endlich das Zitat gefunden, das Neil Pasricha in seinem 3 Books Podcast immer wieder erwähnt. Und in dieser epischen Saga kann eine einzelne Leserin vermutlich 1000e Leben leben, weil die Menge an beteiligten Personen so enorm ist.

The direwolves will outlast us all, but their time will come as well. In the world that men have made, there is no room for them, or us.

Das Ende ist natürlich auch dieses Mal kein Ende, es lässt uns sogar in vieler Hinsicht absolut im Ungewissen über das Schicksal von bestimmten Personen. In diesem Buch kehren gleich mehrere totgeglaubte Personen in die Welt der Lebenden zurück. Und werden dann auch gleich einem unbekannten Schicksal überlassen, das sich erst im nächsten (noch unveröffentlichten) Roman auflösen wird. Bzw. im übernächsten. In der Wikipedia ist zu lesen, dass noch ein sechster und siebter Band geplant sind. Wollen wir hoffen, dass die aktuelle Situation bei George R. R. Martin keine Schreibblockade auslöst …

The words matter, and so do these traditions. They bind us all together, highborn and low, young and old, base and noble. They make us brothers.

Was das obige Zitat wieder sehr bildlich verdeutlicht: Es gibt Traditionen, Regeln und Gesetze. Diese werden jedoch von den unterschiedlichen Personen der unterschiedlichen Familien verschieden ausgelegt, woraus der Großteil an Konflikten in diesem ganzen Epos entsteht. Inzwischen kann vermutlich kaum jemand noch mit Sicherheit sagen, wer denn nun wirklich rechtmäßig den Thron von Westeros besetzen sollte. Was auch unter den Leser*innen unterschiedliche Meinungen zulässt ;-)

Categories
English Roman

Hiromi Kawakami – Strange Weather in Tokyo

CN dieses Buch: –
CN dieser Post: –


I, on the other hand, still might not be considered a proper adult. I had been very grown-up when I was in primary school. But as I continued through secondary school, I in fact became less grown-up. And then as the years passed, I turned into quite a childlike person. I suppose I just wasn’t able to ally myself with time.

Geschichten von japanischen Autor*innen haben oft ein spezielles Feeling. Das trifft auch auf diese Liebesgeschichte zwischen zwei sehr ungleichen Personen zu. Das obige Zitat stammt von Tsukiko, die scheinbar rat- und manchmal auch rastlos durch ihr Leben treibt. Wichtige Punkte in ihrem Leben sind aber die Abende, die sie mit ihrem ehemaligen Lehrer (sie nennt ihn schlicht Sensei) gemeinsam in einer Bar in der Gegend verbringt. Ihre Gespräche sind manchmal oberflächlich, manchmal unverständlich, manchmal bleibt schlicht sehr viel Interpretationsspielraum.

Die Stimmung zwischen den beiden Personen hat mich erinnert an Milena Michiko Flašars Ich nannte ihn Krawatte (ich bin überzeugt, dass ich das gelesen habe, finde es jedoch nicht hier im Blog … und fange an, an mir zu zweifeln …). Es ist etwas Zurückhaltendes in den menschlichen Beziehungen zwischen Charakteren in japanischen Geschichten, Gefühle werden kaum gezeigt und schon gar nicht besprochen. Das gibt dem Buch teilweise etwas Weltfremdes. Elizabeth von A Suitcase Full of Books hat das Buch in ihrem Überblicksvideo Where I’ve Been and What I Read Vlog kurz erwähnt, sie war nicht überzeugt. Aber im Gegensatz zu mir hat sie es immerhin nach Tokyo geschafft …

Categories
English Roman

Celeste Ng – Little Fires Everywhere

CN dieses Buch: sexuelle Handlungen
CN dieser Post: –


Sometimes just when you think everything’s gone, you find a way.

Mir fehlen beinahe die Worte, um die Großartigkeit dieses Romans zu beschreiben. Ich fühlte mich erinnert an Liane Moriartys Big Little Lies, das ich auch euphorisch gefeiert habe. Die Geschichte beinhaltet so viele Zwischentöne, behandelt so viele Themen und verwebt sie in ein beeindruckendes Spannungsgeflecht. Die Charaktere sind so fein gezeichnet, dass ich mich abwechselnd mit unterschiedlichen Protagonist*innen identifiziert habe, je nach der Situation, mit der sie gerade konfrontiert waren. Die Geschichte werde ich keinesfalls erzählen, da müsst ihr das Buch schon selbst lesen, ich möchte aber unbedingt einige Aspekte hervorheben, die hier thematisiert werden.

After all, were they not smarter, wiser, more thoughtful and forethoughtful, the wealthiest, the most enlightened? Was ist not their duty to enlighten others? Didn’t the elite have a responsibility to share their well-being with those less fortunate?

Die Familien, die hier miteinander interagieren, entstammen unterschiedlichen sozialen Milieus. Vielschichtige Emotionen prägen die Begegnungen: Die finanziell gut gestellten Richardsons bemitleiden die finanziell weniger stabile Familie, fühlen sich überlegen und gleichzeitig verpflichtet, zu helfen und zu teilen. Mia legt jedoch schlicht mehr Wert auf das, was für sie wichtig ist: ihre Tochter und ihre Kunst. Ein riesiges Haus und jede Menge Besitztümer haben für sie einfach nicht denselben Wert wie die Zeit, die sie ihrer Kunst widmen kann.

Anything had the potential to transform, and this, to her, seemed the true meaning of art.

Mias Kunstwerke spielen eine große Rolle in der Entfaltung der Geschichte. Das Foto aus der Kunstausstellung führt schließlich auf die Spur ihrer Vergangenheit. Die Autorin lässt ihren Blick auf die Welt durchscheinen, die Perspektive der Künstlerin, die alles einer näheren Betrachtung für würdig hält, die genauer hinschaut, die die nicht offensichtlich sichtbaren Teile aufdeckt, die nicht an der Oberfläche bleibt. Im das Buch abschließenden Interview erklärt Celeste Ng, warum gerade die Fotografie sie persönlich interessiert:

Photography is particularly interesting to me because it’s often seen as objective – after all, the camera captures what it sees – but it’s also inherently subjective: so much depends on the framing of the photograph, deciding what gets included and what gets left out, how it’s shown.

Irgendwann hatte ich mal darüber geschrieben, welche interessanten Verbindungen sich oft finden lassen zwischen Büchern, die wir in knappem Abstand voneinander lesen. Ich hatte mich gefragt, ob diese Verbindungen zufällig zustande kommen bzw. ob wir sie überhaupt nur sehen, weil wir die Bücher in diesem Zusammenhang lesen oder ob wir die Bücher gerade deshalb unbewusst auswählen, weil sie uns Zusammenhänge aufzeigen. Bei diesem Zitat musste ich an Change Agent denken, wo die Frage, wo wir unterschiedlich urteilen, wenn wir selbst betroffen sind, ebenfalls gestellt wurde:

Yet when personally affected by the issues, even idealists often end up making selfish choices with far-reaching effects. […] Where do we follow the rules, and where do we justify breaking theam?

Die Geschichte spielt Ende der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, einer Zeit, in der Pager gerade erst modern wurden und Menschen nicht in ständigem Kontakt waren und unter anderem durch Zettelnachrichten Verabredungen trafen. Das ermöglicht unter anderem eine Auseinandersetzung mit der in den letzten Jahrzehnten weit verbreiteten Aussage, dass Hautfarbe bzw. ethnische Herkunft keine Rolle spiele. Viele Menschen behaupteten damals (und manche behaupten es noch), sie würden keine Unterschiede sehen, womit sie vermutlich meinen, sie selbst würden alle Menschen gleich behandeln unabhängig von ihrer Hautfarbe und ethnischen Herkunft. Tatsächlich führt das Ignorieren dieser Unterschiede aber eher zum Ignorieren der Ungerechtigkeiten, die auch heute immer wieder zu Tage treten (siehe #BlackLivesMatter).

Now we’re starting to be aware of the problems with not “seeing race”: ignoring race means ignoring longstanding problems and history, as well as ignoring important aspects of a person’s identy.

Nicht zuletzt enthält die Geschichte auch eine feministische Komponente. Einerseits sind alle beteiligten Frauenfiguren auf ihre Art emanzipiert. Gleichzeitig verkörpert aber Mrs. Richardson den Typ, der sich an die Regeln hält, während Mia sich die Freiheit herausnimmt, ihr Leben nach ihren eigenen Regeln zu gestalten. Dieses Zitat verdeutlicht diesen Konflikt, der oft dazu führt, dass Frauen sich gegenseitig verurteilen, anstatt sich zu unterstützen (get back in line):

You can’t just do what you want, she thought. Why should Mia get to, when no one else did?

Nicht umsonst wurde diese Geschichte als Serie verfilmt. Wirklich aufmerksam wurde ich auf das Buch jedoch durch den Podcast Unlocking Us von Brené Brown, die dieser Geschichte gleich zwei Episoden gewidmet hat: Ein Interview mit der Autorin Celeste Ng sowie ein Gespräch mit den Hauptdarstellerinnen der Serie Reese Witherspoon und Kerry Washington. Sowohl für das Buch als auch für den Podcast möchte ich eine herzliche Empfehlung aussprechen.

All her life, she had learned that passion, like fire, was a dangerous thing. It so easily went out of control.

Categories
English Krimi Roman

Stephen King – The Gunslinger

CN dieses Buch: Mord, Totschlag, Gewalt, sexuelle Handlungen
CN dieser Post: –


What hurt you once, will hurt you twice. This is not the beginning but the beginning’s end. You’d do well to remember that … but you never do.

Nachdem die aktuelle Situation leider noch immer zu viel Zeit zum Lesen lässt (ja, doch, das gibt es wirklich, zumindest für mich) und ich mit A Song of Ice and Fire fast schon durch bin (für den fünften Band bin ich auf der Warteliste), habe ich eine weitere Reihe ausgegraben, die ich vor vielen Jahren (vor der Entstehung dieses Blogs) schon mal gelesen habe: Stephen Kings Saga The Dark Tower. Es muss irgendwann zwischen 2005 und 2010 gewesen sein. Sieben Bände waren bereits erschienen und gerade sehe ich, dass es nun einen achten Band gibt, der zwischen Band 4 und 5 einzusortieren ist, den ich definitiv noch nicht gelesen habe.

Im Vorwort beschreibt Stephen King selbst, dass er einen Western schreiben wollte, eine Geschichte über eine epische Reise, aber in einem bestimmten Setting. Ich hatte richtig in Erinnerung, dass viele Hintergründe nur angedeutet werden, die mir nahestehende Person, die mir die Bücher damals empfohlen und geborgt hat, erzählte auch von den vielen Referenzen auf andere Bücher des selben Autors (Orte, Personen, etc.), für die es eine eigene Community gibt, die sich damit beschäftigt (unter anderem auf der Webseite des Autors selbst).

Der erste Band macht die Leserin mit dem Protagonisten Roland und dem Antagonisten, dem Mann in Schwarz bekannt. Roland verfolgt den Mann in Schwarz durch die Wüste, durch eine Höhlenlandschaft bis zu einem Kraftort, wo die beiden sich schließlich zum Palaver treffen. Der Turm ist im ersten Band nur eine Art Legende, mehr eine Fantasie als ein tatsächliches Ziel, das erreichbar scheint. Wir wissen, dass Roland noch eine lange Reise vor sich hat. Wie ich nun lernte, sind es sogar sieben weitere Bücher …

Categories
English Krimi Roman Thriller

Daniel Suarez – Change Agent

CN dieses Buch: Mord, Totschlag, Gewalt, Folter
CN dieser Post: –


I’m arguing that what can happen will happen, but that it’s better that the research take place in the light of day rather than in the dark corners of the world.

Daniel Suarez schreibt ganz ausgezeichnete Technologiethriller (bisher gelesen: Daemon, FreedomTM, Kill Decision, Influx). Es ist erstaunlich, wie er sich immer wieder etwas ausdenkt, das einerseits gerade noch nicht möglich ist, aber andererseits mit aktuellen Thematiken dermaßen verknüpft ist, dass sich viele moralische und ethische Fragen zwischen den Zeilen verstecken lassen. Die Basis-Prämisse dieser Geschichte ist die Entdeckung einer Substanz, die die DNA von erwachsenen, lebenden Menschen verändern kann. Somit besteht die Möglichkeit, mit dem DNA-Profil einer anderen Person einen optischen und genetischen Klon zu erstellen. Was in erster Linie die Frage aufwirft, was eine Person eigentlich ausmacht. Kann die Veränderung von DNA und Physiognomie zu verändertem Verhalten führen? Oder ist es die extreme Situation, die den Protagonisten Kenneth Durand zu Handlungen treibt, die ihm vor seiner DNA-Veränderung vollkommen unmöglich erschienen?

He suddenly wondered what Kenneth Durand was doing here. […] The Kenneth Durand he’d thought he was would never have considered this.

Womit wir bei der Technologie wären: wenn von einer Technologie, von der du denkst, dass es sie eigentlich gar nicht geben dürfte, dein eigenes Leben abhängt, was wirst du dann tun? Kenneth Durand bekämpft Verbrechen im Bereich der illegalen Genetik. Als er durch die neuartige Substanz genetisch und optisch in einen anderen Menschen verwandelt wird, gibt es für ihn jedoch keine Möglichkeit, sein altes Ich zurückzubekommen, ohne selbst diese Technologie zu nutzen und dadurch seine Werte in Frage zu stellen.

Beaming imagery directly onto a viewer’s retinas instead of spraying photons all over the place had many advantages – authentic augmented reality being one. Environmental sustainability another. Privacy another still.

Neuartige Technologien beamen nun Informationen direkt in die Retina der Menschen, die Datenbrille hat ausgedient. Sehr interessant fand ich auch die Nennung von Privatsphäre als Aspekt hier. Wenn dir die Inhalte direkt in die Augen gebeamt werden, kann dir auch niemand mehr über die Schulter schauen, wenn du zum Beispiel auf deiner Tastatur ein Passwort eintippst. Bei konkreterem Nachdenken würden uns vermutlich auch dabei Sicherheitslücken auf- bzw. einfallen, die unsere Privatsphäre wiederum gefährden.

Frey smirked. “You know what they say: when privacy is criminalized, only criminals will have privacy.”

Das obige Zitat beschreibt ein oft thematisiertes Problem bei der Einschränkung von Privatsphäre. Werden beispielsweise sichere Messenger verboten und somit kriminalisiert, schadet das allen. Menschen, die tatsächlich nichts Kriminelles vorhaben, werden nun anlasslos überwacht. Menschen, die Kriminelles vorhaben, werden Wege finden, die Überwachungskanäle zu umgehen.

Privatsphäre wird auch noch in einem anderen Zusammenhang genannt. In einer Welt, in der wir bei jedem Schritt überwacht werden, in der jeder Informationsabruf irgendwo gespeichert und zu Geld gemacht wird, wer würde da nicht eine neue Identität annehmen wollen? Wenn du morgen ein anderer Mensch werden kannst, ist es dann egal, was du heute tust?

DNA is DNA. Merely information. Which means that human beings are merely information. And there is a long-established legal precedent that information can be owned.

Firmen wie 23andme haben in den letzten Jahren bereits unzählige genetische Profile gesammelt. Der Nutzen für die Kund*innen wird mit einer genetischen Analyse beschrieben. Kund*innen erhalten Informationen über ihre genetischen Risiken für besondere Krankheiten und können unbekannte genetische Verwandtschaften finden. Dafür bezahlen sie den Konzern. Wodurch dieser aber eigentlich profitiert, sind die gesammelten genetischen Daten, die ausgewertet und verkauft werden. Dieser Artikel in Scientific American beschreibt diesen Prozess und die Problematik dahinter sehr ausführlich.

“Does one’s identity come from within our hearts or our DNA?”
Durand murmured, “Within our hearts.”
“And what is DNA?”
“Data.”

Ein anderes Buch, das sich ebenfalls in Krimiform mit dem Thema Genmanipulation auseinandersetzt, ist Helix von Marc Elsberg.

Categories
English Fantasy Roman

George R. R. Martin – A Feast for Crows

CN dieses Buch: Vergewaltigung, Folter, Gewalt gegen Frauen, Kinder, Menschen, Tiere
CN dieser Post: –


Fool. No one who wears a crown is ever safe.

Das haben die drei vorangegangenen Bücher genauso gezeigt wie dieses. Machtspiele, Intrigen, Heimlichkeiten, Bündishochzeiten … trotzdem sind alle immer nach der Krone her.

No one had ever balked her lord father. When Tywin Lannister spoke, men obeyed. When Cersei spoke, they felt free to counsel her, to contradict her, even refuse her. It is all because I am a woman. Because I cannot fight them with a sword.

Irgendwie bin ich mir noch immer nicht sicher, wie ich das Frauenbild in diesem Fantasy-Universum finden soll. Es erscheint natürlich, dass in einer Gesellschaft, wo dermaßen viel gekämpft wird, das körperlich schwächere Geschlecht weniger zu sagen hat. Einige starke Frauenpersönlichkeiten tragen jedoch dazu bei, dieses Bild zumindest ins Wanken zu bringen.

Während des Lesens (also nicht direkt aber so grob dazwischen) habe ich auch eine Episode des Vienna Writers Podcast gehört, in der Klaudia mit Christina Beran und Theresa Hannig über Charaktere und gesellschaftlichen Wandel spricht. Dabei werden viele Beispiele aus Literatur und Film zitiert, unter anderem auch der besondere Stil, in dem George R. R. Martin die Geschichte jeweils aus anderen Perspektiven erzählt. Mir war das auch schon aufgefallen, dass es dadurch gelingt, Charaktere, die eigentlich komplett unsympathisch sein müssten, trotzdem wieder menschlich zu machen. Wenn ich jetzt nach dem vierten Buch so nachdenke, gibt es eigentlich von den zentralen Charakteren nur eine einzige Person, von der ich sagen kann, dass ich sie durch und durch nicht leiden kann. Alle anderen haben sich durch Ambivalenz und tiefe Einblicke in ihre Geschichte irgendwie zumindest in eine Grauzone gebracht. Von meinen beiden Lieblingscharakteren war in diesem vierten Buch übrigens wenig zu hören. Was auch wiederum bedeutet, dass sie noch am Leben sind ;-)

Da ich mich kürzlich selbst durch Search Suggestions mutmaßlich gespoilert habe, möchte ich andere natürlich vor Spoilern warnen: Achtung, die Podcast-Folge enhält einen Spoiler bezüglich des ersten Buchs bzw. der ersten Serienstaffel.

Categories
English Roman

Margaret Atwood – The Handmaid’s Tale

CN dieses Buch: Vergewaltigung, Hinrichtung, Gewalt
CN dieser Post: –


When power is scarce, a little of it is tempting.

Ich habe diesen Post jetzt einige Tage vor mir hergeschoben, weil es mir nicht gelungen ist, die vielen Facetten dieser Geschichte in einen ordentlichen Zusammenhang zu bringen. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich zu diesem Buch wohl gegriffen hätte, wenn es nicht durch die Hulu-Serie derartige Popularität erlangt hätte. Es hat mich darüber nachdenken lassen, wie interessant das eigentlich ist, dass so viele Bücher nun als Filme oder in Serienform zweitverwertet werden, weil es so viele private Filmhersteller bzw. Streaminganbieter, die original content machen, gibt. American Gods wurde kurz nachdem ich das Buch gelesen habe, intensiv als Serie beworben. (Herausgekommen ist die Serie in englischer Sprache wohl schon 2017, ich erinnere mich aber, dass sie im Sommer 2018 in Deutschland und Österreich sehr in Plakaten und Citylights zu sehen war.)

Wie schon bei Game of Thrones möchte ich auch diese Serie nicht sehen. Es ist schwierig genug, sich im Buch mit den komplexen Emotionen auseinanderzusetzen und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie das in einem audiovisuellen Medium gehen soll.

Das Buch spielt in einem totalitären Staat, in dem durch Krieg und Krankheiten die Fruchtbarkeit dramatisch gesunken ist. Frauen (Männer vermutlich auch, aber da wird es nicht so deutlich) sind in eine Art Klassengesellschaft eingeteilt. Ihre Rolle wird ihnen zugewiesen und sie haben sich an die Regeln dieser Rolle zu halten. Die Erzählstimme des Buchs hat die Rolle einer Handmaid – einer Frau, die dazu bestimmt ist, Kinder auszutragen. Sie wird einem Mann, einem Commander, zugewiesen, um dann mit diesem – in einem brutalen Ritual, das auch die Anwesenheit der Ehefrau des Commanders einschließt – ein Kind zu zeugen und zu gebähren. Sie wird entweder nach dem Vollzug (einer Schwangerschaft und Geburt) oder nach einem gewisssen Zeitraum (falls es nicht zur Schwangerschaft kommt) einem anderen Mann zugewiesen.

We’ve given them more than we’ve taken away, said the Commander. Think of the trouble they had before. Don’t you remember the singles’ bars, the indignity of high school blind dates? The meat market. […] Think of the human misery.

Argumentiert bzw. verteidigt wird dieses System originellerweise mit der Sicherheit der Frauen. Sie haben es ja gut, sie haben einen fixen Platz, beschränkte Aufgaben und (sehr beschränkte) Freiheiten und werden von den Gefahren des vergangenen Alltags geschützt. Freiheit wird als Gefahr dargestellt. Gleichzeitig wird deutlich, dass jedes totalitäre System immer Freiheiten für bestimmte Personengruppen bieten muss. Anders lässt sich ein solches System nicht aufrechterhalten. Es gibt immer privilegierte Gruppen, die die Unterdrückung der anderen aufrecht erhalten, weil sie selbst davon profitieren.

As the architects of Gilead knew, to institute an effective totalitarian system or indeed any system at all you must offer some benefits and freedoms, at least to a privileged few, in return for those you remove.

Zwei Faktoren sind mir noch ins Auge gestochen: einerseits die Tatsache, dass auch in diesem Roman den Frauen das Schreiben und Lesen verboten ist. Das ist mir zuletzt in Gathering Blue begegnet. Lesen und Schreiben ist in dystopischen Geschichten oft eine Art Machtsymbol. Den unterdrückten Gruppen ist das Lesen und Schreiben verboten, sie sollen so davon abgehalten werden, sich zu organisieren oder überhaupt zu erkennen, wie ungerecht die Gesellschaft ist.

This is one of the things I wasn’t prepared for – the amount of unfilled time, the long parentheses of nothing.

Das Zweite ist eine Passage, die im Hinblick auf die aktuelle Situation relevant ist. (Bin gespannt, wann ich mal aufhören kann, diese Formulierung zu verwenden, weil die aktuelle Situation dann hoffentlich irgendwann eine andere ist …) Die Protagonistin beschreibt die quälende Langeweile, die ihre Tage ausfüllt. Sie hat nichts zu tun, sie darf nichts tun, sie darf sich nicht beschäftigen und dadurch werden ihre Tage zu einer elendslangen Gefangenschaft. So kommt es mir auch an manchen Tagen vor. Alles, was ich gern tun würde, darf ich nicht. Alles, was ich darf, habe ich in den letzten Monaten bereits zur Genüge getan und es hat kaum noch einen Reiz mehr für mich. Mir fehlt die Abwechslung. Und doch bin ich dankbar, dass ich wenigstens lesen kann und darf. Weil das Nichtstun erst recht verrückt macht. Es lenkt den Fokus auf die Sehnsucht nach allem, was wir nicht haben können. Auch wenn zuviel Ablenkung auch schlecht sein kann (da wären wir wieder bei der Balance), geht es ohne Ablenkung ganz sicher nicht. Dieser Tage beschäftigte ich mich intensiv mit der Frage, wie lässt sich dieses Jahr bestmöglich bestreiten? Wie können wir agieren anstatt immer nur zu reagieren (wenn überhaupt eine Reaktion gerade erlaubt ist …)? Wenn ich eine Antwort gefunden habe, werde ich sie dokumentieren.

Categories
English Erfahrungsbericht Memoir

Juli Berwald – Spineless. The Science of Jellyfish and the Art of Growing a Backbone

CN dieses Buch: Gewalt gegen Tiere
CN dieser Post: –


I’ve left those dreams to others. I turned and walked down the stairs, slipping into the space I’d begun to create for myself.

An diesem einen Abend hat es mich gepackt und ich wollte jetzt und gleich dieses Buch lesen, das irgendwo in der Mitte meiner To-Read-Tabelle seit einiger Zeit herumsteht. Die moderne Technik macht es möglich, tatsächlich ein eBook zu kaufen und sofort loszulesen. Nicht auszudenken, was ich während der aktuellen Situation getan hätte, wenn ich nicht so einfachen digitalen Zugriff auf Unmengen an Büchern hätte. Meistens muss ich sie nicht mal kaufen, weil ich sie digital ausleihen kann. Dankbarkeit für die kleinen Dinge, die uns das Leben erleichtern.

Beim Lesen dieses Buchs musste ich immer wieder im Internet nach Bildern suchen, weil ich mir die beschriebenen Arten von Jellyfish (das Wort ist einfach viel netter als das deutschsprachige Qualle) auf Bildern ansehen wollte. Da gibt es wirklich lustige Exemplare wie zB fried-egg jellyfish, aber auch riesige wie zB barrel jellyfish. Außerdem erinnerte mich die Beschreibung der sehr giftigen box jellys an Shannon Leone Fowler – Travelling with Ghosts, ein Buch, in dem die Autorin ihren Trauer- und Genesungsprozess nach dem Tod ihres Partners aufgrund eines Zusammenstoßes mit dieser Quallenart beschreibt.

Juli Berwalds Buch enthält viele verschiedene Aspekte zum Thema Jellyfish. Sie betrachtet das Thema aus wissenschaftlichen, ökologischen, ökonomischen Perspektiven. Indem sie sich mit Wissenschaftler*innen weltweit zu diesem Thema austauscht, lernt sie über die Bedeutung der Quallen im Ökosystem des Meeres, was ihre Verbreitung begünstigt aber auch was sie gefährdet (in erster Linie die Erwärmung und steigende Säuerung der Meere). Sie beschreibt ihre Reisen zu verschiedenen Orten, an denen sich Quallen beobachten lassen (Japan, Spanien, Israel, Italien – ich hätte gar nicht gedacht, dass es im Mittelmeer Quallen gibt …) und die Menschen, die sie auf diesen Reisen begleitet, was sie antreibt, warum sie sich mit dieser speziellen Tierart befassen und was sie daraus fürs Leben mitnehmen.

Es ist zugleich ein Sachbuch und ein Erfahrungsbericht. Mir hat dieses Format extrem gut gefallen. Ihr persönlicher Zugang hat dieses Thema für mich spannend gemacht, ich wäre sonst sicher nie auf die Idee gekommen, mir Bilder von unterschiedlichen Quallenarten anzusehen. Es gibt da eine unvorstellbare Vielfalt an Meeresbewohnern (sucht doch mal im Internet nach bloody-belly comb jelly …). Ihre Beschreibungen von rauhen Bootsfahrten mit Quallenfischern am untersten Zipfel von Japan oder Schnorcheltrips in Eilat am Golf von Akaba (die Stadt war mir bisher schon bei einem GeoGuessr-Spiel [ein Fernbeziehungsvergnügen] begegnet) haben in mir großes Fernweh entzündet. Ich hoffe wirklich, dass wir bald wieder reisen können, sonst komm ich nie dazu, all diese Orte zu besuchen, die ich bisher nur aus Büchern und Beschreibungen kenne.

As we age, our fire continues to burn, though sometimes the live coals become buried unter the ashes. The jellyfish helped me dig down to a fire inside.