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Roman

Dominika Słowik – Tal der Wunder

CN dieses Buch: Menstruation, Depression, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Suizid, sexuelle Handlungen, Belästigung, Angriff, Bedrohung
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Vielleicht war Großmutter auch allen Vorurteilen zum Trotz ein wenig sentimental und hatte in den Hühnern das erblickt, was mein Vater nie zu erkennen in der Lage gewesen war: das unentwirrbare Bild des Schicksals dieser Stadt.

Dieses Buch wurde von Autorin und Podcasterin Alexandra Tobor aus dem Polnischen ins Deutsche erzählt und sie hat in der Wrintheit davon erzählt. Was sie genau darüber gesagt hat, ist mir nicht erinnerlich, aber mit dem Buch hatte ich definitiv viel Spaß.

Der Untertitel „Der Esoteriker, die Genossin und der Arsch im Heiligenschein“ deutet schon an, dass hier komplexe Persönlichkeiten portraitiert werden, ohne sie zu ernst zu nehmen. Der Esoteriker wird sich als der Vater der Ich-Erzählerin herausstellen, die Genossin als ihre Großmutter mütterlicherseits, der „Arsch im Heiligenschein“ als Beispiel für eines der (vermeintlichen) Wunder, die das beschriebene Mahrtal und die Kleinstadt Zuckrowka immer wieder heimsuchen. Es ist der Autorin gelungen, zwischen den vielen Anekdoten, die sie über die schrägen Gestalten im Dorf erzählt, auch noch ein Geheimnis zu verstecken, das sich am Ende etwas unspektakulär auflöst. Ein Imker, der seine Bienen am Stock spazieren führt, wenn sie aus ihren heimatlichen Stöcken ausschwärmen. Eine junge Frau, die nachts über die Dächer des Dorfs schlafwandelt und dabei singt. Eine weinende Marienstatue, an deren wunderliche Wirkung nicht nur der Pfarrer fest glaubt. Gerüchte und Spekulationen treiben die Bewohner:innen von Zuckrowka an, Hauptsache, es gibt etwas zu tratschen. Das Ganze ist herrlich unaufgeregt und trotzdem unterhaltsam geschrieben. Empfehlung.

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English Erfahrungsbericht Memoir

Abi Morgan – This Is Not A Pity Memoir

CN dieses Buch: Krankheit, Koma, Suizid, Krebs, Alkoholmissbrauch
(Anmerkung: Ereignisse der letzten Jahre wie die Covid19-Pandemie oder die Ermordung von George Floyd werden im letzten Teil des Buchs erwähnt)
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But we are not all right, we are so far from all right. We are this broken family.

Es ist bedrückend, was Menschen alles zustoßen kann. Und beeindruckend, wie sie trotzdem weiter machen. Die Autorin führt die Leser:innen durch Jahre voller Ungewissheit. Sie lässt uns teilhaben an den Momenten der Hoffnung, an denen sie sich festklammert, spart aber auch die Momente der Verzweiflung nicht aus, in denen sie nicht mehr weiter weiß und aufgeben als eine reale Alternative erscheint.

And I am reminded that alongside the ghost of you, the ghost of us, there is the ghost of our past life.

Das Buch beschreibt Jahre, in denen sich für diese Familie Krise an Krise reiht. Und dabei sind die letzten Jahre nur eine Randnotiz. Erfüllt ist es jedoch auch von der Dankbarkeit für all die Unterstützung, die sie durch Familie und Freunde erfahren hat. Für all die Menschen, die uns ein wenig Last abnehmen, wenn wir sie nicht mehr allein tragen können. Unfassbar traurig und unfassbar hoffnungsvoll. 

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Roman

Andri Snær Magnason – Lovestar

CN dieses Buch: Suizidgedanken, Suizidversuch, Sterben, Geschlechtsteile, sexuelle Handlungen, Weltuntergang
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All dies würde unausweichlich geschehen, wenn sie den Ort fänden, an dem die Gebete endeten. Nichts hält eine Idee auf, nichts kann verhindern, dass eine Möglichkeit voll ausgeschöpft wird.

Eine derart beängstigende und gleichzeitig wahnwitzig unterhaltsame Zukunftsvision habe ich in meinen Dystopie-Studien der letzten Jahre noch nicht erlebt. Dieser Roman aus dem Jahr 2002 hat manches vorausgesehen, das in den 20 Jahren seit seiner Erscheinung bereits Wirklichkeit geworden ist, wenn auch die Überwachung und die Eingriffe in die Gedanken, Körper und Leben der Menschen im Roman deutlich invasiver sind, als wir es heute kennen.

In einer von Stimmungsabteilungen gesteuerten durchkapitalisierten Welt werden Menschen nicht mehr begraben sondern mit Raketen ins Weltall geschossen, um dort zu verglühen. Die Liebe wird durch einen Computeralgorithmus berechnet, der die von den Menschen ausgesendeten Wellen miteinander abgleicht und Übereinstimmungen miteinander verknüpft. Als der Kopf des weltumspannenden Unternehmens LoveStar schließlich entdeckt, dass Menschen trotz aller Kontrolle noch immer Gebete an eine höhere Macht richten, entgleitet ihm das Projekt.

Immer wieder rechtfertigen die Charaktere in der Geschichte ihre Handlungen mit dem Satz: „Wenn ich es nicht tue, macht es jemand anders.“ Jede fragwürdige Handlung wird dadurch legitimiert, dass sich die Idee (aus dem obigen Zitat) ohnehin nicht aufhalten ließe. Diese Argumentation begegnet uns oft im Hinblick auf Technologien oder Datensammlungen. Alles, was möglich ist, wird irgendwann getan werden, mögen auch heutige Gesetze dies verbieten (wenn auch nicht zwingend verhindern).

Das Buch ist mir in einer Lithub-Sammlung isländischer Werke begegnet, hätte aber nach meiner Meinung eine weitaus breitere Rezeption verdient. Es versteckt tiefe Gedanken über die Entwicklung unserer Welt in einer extrem unterhaltsamen Geschichte. Mein Highlight-Moment: als der Reißverschluss im Bauch des Großen Bösen Wolfs (der eigentlich eine Wölfin ist) das erste Mal geöffnet wird.

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English Krimi Roman

Louise Penny – The Beautiful Mystery

CN dieses Buch: Drogenmissbrauch, Tod, Totschlag, Gewalt, Erwähnung von Pädophilie (keine grafische Beschreibung)
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Armand Gamache knew the power of a father’s love. Whether it be a biological father or a father by choice. And fate.

Der erste Band der Gamache-Reihe, der vollkommen abseits vom abgelegenen Örtchen Three Pines spielt, in dem so viele sympathische und besondere Charaktere leben. Gamache und Beauvoir sind einem Mörder in einem Kloster auf der Spur. Der Kreis der Verdächtigen beschränkt sich auf 23 Mönche, einer wie der andere ein sehr unwahrscheinlicher Mörder. Bald stellt sich heraus, dass gerade unter einem Schweigegelübde die Konflikte nur so vor sich hin brodeln. Und auch der schwelende Konflikt zwischen Gamache und Beauvoir wird schließlich von einem unerwarteten Besuch neu befeuert. Die Geschichte ist spannend, aber mir fehlten tatsächlich die bekannten Gesichter aus Three Pines, weshalb ich gleich mit dem nächsten Band anschließen musste.

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English Roman

Mitch Albom – The Stranger in the Lifeboat

CN dieses Buch: Sterben, Unfall
CN dieser Post: Sterben, Unfall


At that moment, I sensed my insignificance more than at any other moment in my life. It takes so much to make you feel big in this world. It only takes an ocean to make you feel tiny.

Von Mitch Albom habe ich schon einiges gelesen (Dienstags bei Morrie und One More Day vor dem Beginn dieses Blogs, Der Stundenzähler, The First Phone Call from Heaven und zuletzt The Magic Strings of Frankie Presto). Was in seinen Büchern und Geschichten niemals fehlt, ist die Frage nach der eigenen Bedeutung im Gesamtgeflecht der Welt und der Dehnbarkeit der Zeit. Das spezielle Thema dieses Buchs ist jedoch das Überleben.

It had survived. And witnessing survival can make us believe in our own.

Nach einem Schiffsunglück finden sich einige Überlebende in einem Rettungsboot wieder. Während sie auf ihre Rettung warten, ziehen sie einen weiteren Schiffbrüchigen aus dem Meer, den jedoch keine:r von ihnen je auf der gesunkenen Yacht gesehen hat. Der Fremde stellt sich als Gott vor. Stück für Stück zeigt sich, wie die einzelnen Personen mit ihrer düsteren aber nicht aussichtslosen Situation umgehen. Während die eine alles tut, um das Überleben der anderen zu sichern, gibt sich der andere dem Glauben an die Rettung hin, die ihm aufgrund seiner hohen Stellung ja wohl zusteht. Während der eine an alles glauben möchte, was ihm das Überleben sichert, will die andere keinesfalls von ihren bisherigen Lebenseinstellungen abweichen. Das Thema Überleben hat mich an ein anderes Buch erinnert: Travelling with Ghosts.

This was the story he told himself, and the stories we tell ourselves long enough become our truths.

In einer parallelen Zeitlinie wird das leere Rettungsboot über ein Jahr nach dem Unfall am Strand einer karibischen Insel gefunden. Es gibt keine Spur von jeglichen Überlebenden. In einer Tasche des Rettungsboots findet der örtliche Polizeikommandant das Tagebuch, das Benji, einer der Überlebenden, an Bord geführt hat und das die Leser:innen abwechselnd mit Nachrichtenschnipseln über die vermissten Personen und den Nachforschungen des Polizeinspektors zu lesen bekommen. Dieser rasche Wechsel zwischen kurzen Kapiteln aus mehreren Perspektiven wirkte auf mich stellenweise zerfleddert. Vielleicht ist das aber auch ein bewusster stylistischer Mechanismus, um die Zerfaserung des (Über-)-Lebens auch in der geschriebenen Sprache zu verdeutlichen. Letztendlich gibt es nur den einen Weg, wie Überleben funktionieren kann:

Survive this voyage. And once you do, find another soul in despair. And help them.

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English Roman

Emily St. John Mandel – Station Eleven

CN dieses Buch: Mord, Tod, Krankheit, Pandemie, Epidemie
CN dieser Post: Pandemie, Sterben, Krankheit


Was für eine Geschichte … ich musste am Anfang des Buchs nachschauen, wann das veröffentlicht wurde, und es ist beängstigend wenig lange her (2014). Ich möchte mir nicht vorstellen, was die Autorin empfunden hat, als es 2020 mit der aktuellen Situation losging …

Es handelt sich aber hier nicht nur um eine Geschichte, die die Katastrophe und ihre Nachwirkungen beschreibt. Viele Rückblicke zeigen die Charaktere in ihrem Leben VOR der Katastrophe, was auch notwendig ist, um diese dann in berührend unterschiedlichen Szenarien sterben zu lassen. Ohne diese Geschichten VOR der Pandemie gäbe es die Frage nicht, wer denn wohl überleben wird und wie.

Of all of them there at the bar that night, the bartender was the one who survived the longest. He died three weeks later on the road out of the city.

Eine großartige Verknüpfung ist jedoch die Geschichte des titelgebenden Comics Station Eleven, der einen großen Teil der Protagonisten miteinander verbindet. Wer diese Geschichte erfindet und wie sie in die Hände derer gelangt, die sie nach der Katastrophe weiterhin mit sich tragen, ist sehr clever angelegt und war für mich nicht vorhersehbar.

If you are the light, if your enemies are darkness, then there’s nothing that you cannot justify. There’s nothing you can’t survive, because there’s nothing that you will not do.

Wie bei anderen Weltuntergangsgeschichten stellen sich auch hier irgendwann die Protagonisten die Frage, warum manche Menschen überlebt haben und andere sterben mussten. Ein Prophet, der daraus eine Licht-und-Schatten-Situation generiert, fehlt natürlich auch nicht. Die vielen Rückblenden ermöglichen eine überdeutliche Beschreibung des VORHER und NACHHER („the divide between a before and an after, a line drawn through his life“).

Unerwartet kommt auch der Funken Hoffnung, der sich am Ende des Buchs spontan einschleicht.

If there are again towns with streetlights, if there are symphonies and newspapers, then what else might this awakening world contain?

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English Roman

Marilynne Robinson – Jack

CN dieses Buch: Rassismus, Suizid
CN dieser Post: Rassismus


Nun also der vierte Teil der Gilead-Serie, der uns endlich einen Einblick in das tatsächliche Innenleben von Jack, den wir bisher nur durch die Augen des Reverends, seiner Frau Lila und Jacks Schwester Glory betrachten konnten. In den Gesprächen mit Glory (in Home) hatte sich bereits abgezeichnet, dass Jack tiefe Scham empfindet, weil er nach seiner Ansicht (die mit der vieler Menschen der Gesellschaft übereinstimmen dürfte) ein schlechter Mensch ist, der andere mit in die Tiefe zieht.

Dieses Besuch erzählt hauptsächlich die Geschichte und Entwicklung von Jacks Bekanntschaft mit Della Miles, einer afroamerikanischen Frau, Lehrerin und respektabel. Auch nur eine Bekanntschaft zwischen einem weißen Mann und einer afroamerikanischen Frau ist im St. Louis der beschriebenen Zeit dermaßen unmöglich, dass Jack sich nur vergewissern kann, dass Della sicher nach Hause kommt, indem er ihr auf der anderen Straßenseite folgt. Eine Beziehung wird sowohl von Seiten der weißen Gesellschaft als auch von Dellas Familie entschieden abgelehnt.

But excuses only meant that he had done harm he did not intend, which was another proof that he did harm inevitably, intentions be damned.

Mit diesem Zwiespalt plagt sich Jack das ganze Buch lang. Er liebt Della und will sie keinesfalls aufgeben. Gleichzeitig weiß er, dass es ihrer Reputation schadet, mit ihm gesehen zu werden, auch Dellas Familie sieht die Bekanntschaft als klar schädlich für sie an. Eine unlösbare Situation, die Jack immer wieder an den Rand der Verzweiflung treibt.

Am Ende bleiben weitere Fragen offen. Ein nächstes Buch sollte die Geschichte wohl aus der Sicht von Della weitererzählen. Dann erfahren wir vielleicht auch, wie es zu der scheinbar unbefleckten Empfängnis kam …

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English Roman

Katy Simpson Smith – The Everlasting

CN dieses Buch: Mord, Folter, selbstverletzendes Verhalten, Gewalt gegen Tiere, lebensbedrohliche Erkrankung (MS), Abtreibung

CN dieser Post: zum Abschluss ein Zitat über selbstverletzendes Verhalten, wird nochmal vorher gewarnt


The necessary experiment: determining if ostracods were not merely hardy survivalists but had evolved to prefer the bitter taste of civilization. If nature, like faith, was a human construction.

Eine Geschichte auf vier verschiedenen Zeitebenen, verbindende Elemente sind einerseits die Örtlichkeit Rom bzw. Umgebung sowie der Fischhaken, der in allen Zeitebenen eine Rolle spielt. Weiters haben alle Protagonist*innen massiv mit ihren Selbstzweifeln oder gesellschaftlichen Anforderungen zu kämpfen.

  • Der von seiner Frau entfremdete Forscher, dem die Abwesenheit von seiner Tochter die Gefühle zu rauben scheint und der schließlich mit einer erschreckenden Diagnose konfrontiert wird (Jetztzeit).
  • Die gelangweilte Ehefrau auf der Suche nach wahrer Liebe in einer Zeit und Gesellschaft, in der Ehen rein aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen geschlossen werden (16. Jh.).
  • Ein alternder Mönch, der aufgrund einer Andeutung homosexueller Zuneigung als Jugendlicher von seiner Familie ins Kloster verstoßen wurde und nun die Aufgabe hat, in der Krypta des Klosters über die verwesenden Toten zu wachen (9. Jh.).
  • Eine junge Frau, die in den Versprechen einer neuen Religion Antworten auf alle Fragen ihres Lebens findet und deshalb zur Märtyrerin wird (1. Jh.).

Because if you are not always, always yourself, you will lose the ability to breathe.

Das Buch wurde in einem Sammelpost auf Lithub (den ich mir leider nicht gespeichert habe) mit solchen Worten empfohlen, die mich dazu brachten, das Buch sofort herunterzuladen, nachdem ich gesehen hatte, dass es in Libby verfügbar war. Jetzt wüsste ich gerne, welche Worte das waren und in welcher Stimmung ich in diesem Moment war. Vielleicht hatte ich mir auch einfach etwas anderes vorgestellt. Ich weiß noch immer nicht genau, was ich von diesem Buch halten soll.

There was always time to make different decisions, or else there was never time; once she spoke, it was impossible in the tightly woven fabric of the world that she had ever not spoken.

Nach dem kommenden Trennstrich folgt ein kurzer Abschnitt mit Zitaten aus dem Buch zum Thema selbstverletzendes Verhalten.


His tears were made of sulfur. He yanked his hand back and slapped himself so hard his sight went briefly starry. The pain was on the ouside now, and felt so much better there. So much clearer. He hit himself again.

Sehr berührt haben mich diese beiden Zitate mit der Beschreibung des Gefühls bei selbstverletzendem Verhalten. Den Schmerz nach außen bringen; über einen winzigen Teil der Welt Kontrolle haben; etwas fühlen, irgendetwas fühlen, auch wenn es Schmerz ist. Mir fehlt die Vorstellungskraft, um solche Handlungen nachzuempfinden. Diese beiden Zitate haben es mir aber etwas besser erklärt.

Man versus body, the hook a tool, his one hand opening the other, wanting that red as evidence he could make a choice, that in his whirlpool life he had some measure of control, the pain a reminder he was alive and feeling was good, feeling was to be savored, not suppressed, that even hurt was better than numb.

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English Roman

Marilynne Robinson – Lila

CN dieses Buch: Gewalt (mit einem Messer und angedeuteter Todesfolge)
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And somehow she found her way to the one man on earth who didn’t see it. Or maybe he saw it the way he did because he had read that parable, or poem, or whatever it was.

Im dritten Teil von Marilynne Robinsons Gilead-Serie erfährt die Leserin die Vorgeschichte von Lila, die in den ersten beiden Büchern als Frau von Reverend John Ames eher eine Nebenrolle spielt. Bisher wurde sie als stille, bedachte, freundliche Frau beschrieben. Ein niedriger Bildungsgrad, aufgrunddessen sie sich aus den religiösen Diskussionen zwischen Ames und Boughton heraushält, wurde nur angedeutet. In diesem Buch wird nun beschrieben, wie Lilas Leben verlief, bevor sie in Gilead auf den Reverend traf und mit ihm ein neues Leben begann.

“But if God really has all that power, why does He let children get treated so bad? Because they are sometimes. That’s true.”

Auch in diesem Buch werden viele religiöse Themen angeschnitten. Einerseits traut sich Lila kaum, Dinge zu fragen, weil sie sich zu dumm fühlt, andererseits interessiert sie sich für den Glauben des Mannes, in den sie sich verliebt hat. Sie versucht, die Welt und das Leben auf eine Weise zu verstehen, die ihr bisher aufgrund ihrer Herkunft verschlossen war. Und natürlich stellt sie sich auch die Frage, wie dieser allmächtige Gott es zulassen kann, dass Kinder hungern, schlecht behandelt werden, so viel Leid ertragen müssen. Wie auch in vielen anderen Werken fehlt auch hier eine auch nur halbwegs hilfreiche Erklärung. Der Reverend vertröstet Lila mit einem Gedicht auf ein späteres Gespräch, um sie nicht mit den Antworten abzuspeisen, die er üblicherweise anderen Menschen gibt, die ihm in ihrem Leid diese Frage stellen.

[…] Robinson is saying that O’Connor writes beautifully even though her imagination is appalling. But how can we judge a writer’s imagination except by way of her writing? If the writing is beautiful, how can the imagination be otherwise? What does Robinson really mean?

Das obige Zitat stammt aus dem kürzlich veröffentlichten Lithub-Artikel On the Case for Meanness in Fiction von Brock Clark. Der Text vergleicht die Notwendigkeit bzw. die Sinnhaftigkeit von kindness im Leben sowie im Schreibprozess von Autor*innen. Er zitiert dabei eine Kontroverse zwischen Marilynne Robinson und Flannery O’Connor, die eher die Meinung vertritt, dass compassion für schreibende Menschen vollkommen überbewertet ist. Der Text argumentiert unter anderem damit, dass ein auf kindness und compassion basierendes Schreiben (wie es Marilynne Robinson praktiziert), gleichzeitig ein langweiliges Schreiben ist (und daher in langweiligen Geschichten resultiert). Nach der Lektüre von Gilead war ich ja unter anderem überrascht, dass in dem Buch kaum etwas passiert. In dieser Wahrnehmung hat mich der oben zitierte Artikel bestätigt, er ist daher eine interessante Ergänzung zur Lektüre von Marilynne Robinson.

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Roman

Robert Schneider – Schlafes Bruder

CN dieses Buch: Suizid, Mord
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Heißt es nicht in der Schrift, daß Du vollkommen bist? Wenn Du aber vollkommen bist und gut, weshalb mußtest du dann das Elend, die Sünde und den Schmerz erschaffen? Weshalb weidest Du dich an meiner Trauer, an der Mißgeburt meiner Augen, am Kummer meiner Liebe?

An und für sich war ich mir ziemlich sicher, dass ich dieses Buch schon mal gelesen und damals sogar besessen habe. Aber das muss wohl vor der Entstehung dieses Blogs gewesen sein, da ich keinen Blog-Eintrag finden konnte. Daher nun eine kurze Besprechung zu diesem Re-Read (aus Gründen des Geocachens).

Der Autor entwirft eine kleinliche Dorfgemeinschaft im Vorarlbergischen, eine Bevölkerung, die hauptsächlich aus den Angehörigen zweier Familien besteht, den Alders und den Lamparters. Aus der engen Verwebung der beiden Familien entstehen immer wieder Kinder mit diversen Behinderungen. So auch der Protagonist Elias, der einerseits eine frühe Pubertät erlebt, bei der seine Augenfarbe einen beunruhigenden gelblichen Farbton annimmt und der andererseits eine besondere Begabung für Musik, spezifisch für das Orgelspiel entwickelt. In der Dorfgemeinschaft bleibt er stets ein Außenseiter.

Erlösung aber ist die Erkenntnis der Sinnlosigkeit allen Lebens.

Da das Buch selbst den Tod des Protagonisten bereits auf der ersten Seite ankündigt, kann ich hier auch etwas ausführen, ohne zu spoilern. Elias entbrennt in unsterblicher Liebe, die er jedoch nicht anders auszudrücken vermag als durch seine Musik. Als ihm seine Angebetete Elsbeth durch die Heirat mit einem anderen Mann entzogen wird, entschließt sich Elias zu einem verzweifelten Liebesbeweis.

In einem Nachwort versucht Rainer Moritz den unerwarteten Erfolg dieses 1992 erschienenen Buchs zu erklären. Er erwähnt den besonderen Schreibstil, die ironischen Züge, mit denen Schneider die Dorfgemeinschaft versieht und die hartherzige Darstellung des Lebens im Dorf, die keinerlei Platz für bäuerliche Idylle vorsieht. Er stellt Schlafes Bruder in eine Reihe mit „ähnlich spektakulären Büchern der jüngeren deutschsprachigen Literaturgeschichte, mit Patrik Süskinds Das Parfum (1985, war bei mir damals Schullektüre), Christoph Ransmayrs Die letzte Welt (1988), Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995) und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005)“. Je länger ich über diese Einordnung nachdenke, umso passender erscheint sie mir. Es ist definitiv eine besondere Geschichte, ein Roman, den die Leserin nicht so schnell vergisst.