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Roman

T. C. Boyle – San Miguel

CN dieses Buch: Krieg, Vergewaltigung, sexuelle Handlungen, Suizid
CN dieser Post: –


Irgendwie bin ich in diese Geschichte, die sich hauptsächlich um den Schauplatz – die Insel San Miguel vor der Küste von Kalifornien – dreht, nicht so recht reingekommen. Erzählt wird aus der Sicht von drei Frauen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf der Insel leben. Irritiert hat mich einerseits die Nähe der ersten beiden Frauen und dann der große Sprung eine Generation weiter.

Vielleicht ist es aber auch das Gefühl der Einsamkeit, das uns im Alltag aktuell so viel beschäftigt, dass ich mich damit nicht auch noch in der Lektüre auseinandersetzen wollte. Mir blieben die handelnden Protagonist*innen seltsam fremd. Ein Nähegefühl war nicht wahrnehmbar. Die Gefahr des einsamen Lebens auf einer Insel ohne Kontaktmöglichkeit und Unterstützung eines Systems blieb auf Distanz.

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Roman

Marilynne Robinson – Gilead

I’ve often been sorry to see a night end, even while I have loved seeing the dawn come.

Dieses Buch stand lange ganz oben auf der Liste der interessanten Bücher, was hauptsächlich daran liegen dürfte, dass ich es zu dem Zeitpunkt hinzugefügt hatte, als ich das letzte Mal meine diesbezüglichen Aufzeichnungen in ein anderes System (aktuell ein Spreadsheet mit Filtermöglichkeit danach, wo die jeweiligen Bücher verfügbar sind) transferiert hatte. Das dürfte im Sommer 2016 gewesen sein.

Mir war nicht bewusst gewesen, dass es sich um eine Reihe handelt (Gilead – Home – Lila), von der aktuell gerade der vierte Band mit dem Titel Jack erschienen ist. Obwohl ich große Schwierigkeiten hatte, mich in dieses Buch wirklich hineinzuversetzen, bin ich nun trotzdem neugierig, wie daraus eine Reihe werden soll.

Another morning, thank the Lord. A good night’s sleep, and no real discomfort to speak of.

Der Ich-Erzähler des Romans ist ein Mann am Ende seines Lebens, er fühlt das schrittweise Versagen seines Körpers und versucht, dankbar für jeden weiteren Tag zu sein, den er mit seiner deutlich jüngeren Frau und seinem Sohn verbringen kann. Er ist außerdem Priester und hadert mit sich selbst und den (negativen) Gefühlen, die er dem Sohn des Freundes (Jack) entgegenbringt. Das Geschriebene ist an den eigenen Sohn gerichtet, der diese Aufzeichnungen nach dem Tod des Vaters erhalten soll, dient aber eigentlich dem Nachsinnen über das Altern, über das Zurücklassen von Menschen, über das Gute und Böse an sich.

But are there people who are simply born evil, live evil lives, and then go to hell?

Passend zur „aktuellen Situation“ fand ich eine kurze Passage, die die Zeit der Spanischen Grippe beschreibt:

We lost so many of the young people. And we got off pretty lightly. People came to church wearing masks, if they came at all. They’d sit as far from each other as they could.

Notiert hatte ich mir das Buch übrigens aufgrund einer Empfehlung von Nick Hornby in All You Can Read. Er schreibt sinngemäß, dass die Begleitumstände, in denen wir Bücher lesen, unsere Wahrnehmung davon beeinflussen: ein Phänomen, das ich auch immer wieder an mir wahrnehme. Er schreibt über den Seelenfrieden, der sich in Gilead ausbreitet und den er zu diesem Zeitpunkt gerade dringend brauchte. Möglicherweise hätte ich mehr daraus ziehen können, hätte ich mir diese Empfehlung vorher nochmal durchgelesen und nicht die ganze Zeit darauf gewartet, dass etwas passiert. Es ist weniger eine Geschichte als eine Meditation über die Themen, die am Ende unseres Lebens noch wichtig sind und wie wir mit diesen Frieden machen können.

If you think how a thing we call a stone differs from a thing we call a dream – the degrees of unlikeness within the reality we know are very extreme, and what I wish to suggest is a much more absolute unlikeness, with which we exist, though our human circumstance creates in us a radically limited and peculiar notion of what existence is.

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Roman

Ocean Vuong – On Earth We’re Briefly Gorguous

Our mother tongue, then, is no mother at all – but an orphan. Our Vietnamese is a time capsule, a mark of where your education ended, ashed. Ma, to speak in our mother tongue is to speak only partially in Vietnamese, but entirely in war.

Eine schwierige Geschichte mit vielen verschiedenen Themen. Die Migrationserfahrung – die Familie ist aus dem kriegsgebeutelten Vietnam in die USA ausgewandert – ist davon nur eines, das jedoch intensiv beleuchtet wird. Die Fremdheit in der Fremde, das Gefühl, nie ganz dazugehören zu können allein schon aufgrund der Herkunft und des sozialen Status, wären allein schon genug für ein schwieriges Leben.

They say nothing lasts forever but they’re just scared it will last longer than they can love it.

Dazu kommt ein schwieriges Familienverhältnis, von Gewalt und Krankheit geprägt; das Wissen, sich auf die eigene Familie nie ganz verlassen zu können, das ein Kind im Prinzip allein dastehen lässt.

Where, under the stars, we see at last what we’ve made of each other in the light of long-dead things – and call it good.

Eine Liebe, die immer auf der Kippe steht, die geheim bleiben muss, die der Familienehre widerspricht. Der Zwang, trotzdem nach dem Glück zu streben, sei es auch noch so flüchtig.

Because the sunset, like survival, exists only on the verge of its own disappearing. To be gorgeous, you must first be seen, but to be seen allows you to be hunted.

Hätte ich nicht aus den vielen Lithub-Empfehlungen bereits gewusst, dass der Autor zuvor ein Buch mit Gedichten veröffentlicht hat, hätte ich es vermutlich trotzdem aufgrund der poetischen Sprache vermutet. Der Autor lässt uns Gefühle spüren, er beschreibt, wie sich Erfahrungen anfühlen und lässt damit die Leser*innen tief eintauchen.

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Roman

Donna Tartt – The Secret History

A month or two before, I would have been appalled at the idea of any murder at all. But that Sunday afternoon, as I actually stood watching one, it seemed the easiest thing in the world. How quickly he fell; how soon it was over.

Das obige Zitat ist kein Spoiler, denn das Buch selbst beginnt auch mit der Ankündigung eines Mordes, der das Zentrum der Geschichte bildet. Im ersten Teil wird erzählt, wie es zu dem Mord kommt, im zweiten, was danach geschieht.

Das Buch zeichnet eine Geschichte des jugendlichen Gruppenzwangs. Der Erzähler Richard hat es aus dem lieblosen und ärmlichen Elternhaus durch ein Stipendium an ein College geschafft und wünscht sich nichts mehr, als dazuzugehören. Er findet schließlich Anschluss an die Gruppe von Studierenden des Griechischen, eine verschworene Clique, die sich um den exzentrischen Professor Julian schart. Es  gelingt ihm lange, seine prekäre finanzielle Situation vor seinen allesamt besser gestellten Kolleg*innen zu verbergen. Schließlich spielt das Geld in weiterer Folge eine untergeordnete Rolle, grenzt Richard aber in gesellschaftlicher Hinsicht doch von den anderen ab.

Im zweiten Teil zeigt sich dann, dass bei Weitem nicht alles so schnell vorbei ist, wie es das obige Zitat nahelegt. Keiner der am Mord beteiligten Studierenden hat über die Folgen ihrer Tat nachgedacht. Das Ereignis, das sie zu vertuschen suchen, holt sie auf anderen Wegen immer wieder ein und bringt eine*n nach dem*r anderem*n an den Rand des Wahnsinns. Die Angst vor den Konsequenzen eines durch Dummheit verursachten Unfalls führt zu einem geplanten Mord, dessen Konsequenzen wesentlich schlimmer ausfallen.

Das Buch hatte ich spontan aufgrund der Lithub Quarantine Recommendations ausgewählt. Die Redaktion hat ihre Leser*innen dazu aufgerufen, Lieblingsbücher (und was Menschen sonst noch so mögen) zu senden und gibt darauf basierend Buchempfehlungen – eine sehr schöne Idee, wie ich finde. In den genannten Lieblingsbüchern tauchte The Secret History sehr oft auf, das Buch war auch in der Overdrive eLibrary verfügbar und somit entschloss ich mich für diese Abweichung von meiner langen Leseliste.

Es ist ein langes Buch, speziell im ersten Teil war mir oft unklar, wo das hinführen soll, die Geschichte mäandert langsam dahin. Die Leser*in muss sich Zeit nehmen, um dem Näherkommen und Auseinanderdriften der Protagonist*innen zu folgen. Die vielen Verbindungen und Geheimnisse, die sich erst schrittweise entfalten, laden auch durchaus zu einem zweiten Lesen ein. Viele Zwischentöne entfalten wahrscheinlich erst bei Kenntnis des Ausgangs ihre Wirkung. Der intellektuelle Anstrich mag nicht allen gefallen, erfüllt aber als Kontrast zu den unbedachten Handlungen der Studierenden seine Wirkung.

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Roman

Olivia Laing – Crudo

Maybe you’re dying and you don’t care anymore. You don’t have anything more to say. In the nothingness, the gray, islands almost disappear into the water.

Mit diesem Buch hatte ich so meine Schwierigkeiten. Der Schreibstil gibt mehr oder weniger eine Art Gedankenprozess der Protagonistin wider, ist sprunghaft, folgt keinem offensichtlichen roten Faden; es fiel mir beim Lesen schwer, auch nur eine Art Mitgefühl für die Protagonistin Kathy zu entwickeln. Zu Beginn wirkt sie in ihrer Selbstbezogenheit einfach unsympathisch, erst mit der Zeit fiel mir auf, dass es sich hier eigentlich um ein psychologisches Profil handelt. Sie wirkt getrieben, auf der ständigen Suche nach Ablenkungen, um sich nicht mit ihrem Innenleben befassen zu müssen. Immer wieder tauchen Träume auf; Alpträume von falschen Häusern oder falschen Möbeln, die sich laienpsychologisch als Versagensangst interpretieren lassen.

She was at the middle of her life, going south, going nowhere, stuck between stations like a broken-down engine.

Das Buch ist zeitlich intensiv im Sommer des Jahres 2017 verortet und doch musste ich das erst auf dem Klappentext nachlesen. Präsident Trump in den USA, Brexit in Großbritannien, diese politischen Wirrungen haben wir nicht etwa hinter uns gelassen; sie prägen unseren Alltag nun schon so lange, dass wir sie schon beinahe nicht mehr wahrnehmen. Die Protagonistin Kathy verbringt ihre Zeit damit, panisch die Nachrichten zu verfolgen und nach weiteren Katastrophen zu suchen. Das Verfolgen des Zerbrechens ihrer Weltordnung gibt ihr paradoxerweise das Gefühl, zumindest über einen kleinen Teil der Realität Kontrolle zu erlangen.

Imagine what a process it was to unnumb yourself, he said, to see it as it actually was. That’s the only reason to be an artist: to escape, to bear witness to this.

Das obige Zitat beschäftigt mich noch immer, weil ich darin zuerst einen Widerspruch gesehen habe. Zu entkommen und gleichzeitig Zeuge zu sein erschien mir in diesem Zusammenhang nicht möglich. Im Absatz davor im Buch wird argumentiert, dass der Nationalsozialismus mit einem Taubheitsgefühl (numbness) gearbeitet hat. Den Menschen wurde das Gefühl vermittelt, dass die Ereignisse viel zu schnell gehen und dass sowieso niemand etwas daran ändern kann. Dieses Gefühl hielt sowohl die Insassen als auch die Bewacher der Konzentrationslager in Schach. Zu entkommen meint daher hier, diesem Taubheitsgefühl zu entkommen und die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren. Der Bezug zum Heute wird auf den nächsten Seiten aufgelöst: die Welt verändert sich so schnell, dass wir das Gefühl haben, wir könnten ohnehin nichts tun. Das beste Beispiel dafür ist der Klimawandel. Neben den hartnäckigen Leugnern wächst die Gruppe jener, die die Ansicht vertreten, dass wir als Einzelne*r sowieso nichts ändern können, dass wir machtlos sind. Diesem Taubheitsgefühl sollten wir versuchen, zu entkommen und unser Leben und den gesellschaftlichen Wandel selbst in die Hand nehmen.

Immer wieder erinnerte ich mich beim Lesen dieses Buches an My Year of Rest and Relaxation. Nach wie vor habe ich das Gefühl, nicht verstanden zu haben, worum es dabei eigentlich geht. Dieser Artikel auf Lithub setzt das Buch in Beziehung zu anderen Büchern, deren Protagonistinnen durch Erbe zu Vermögen gekommen sind und dieses nun sinngemäß verschwenden. Immerhin hatte ich die Sehnsucht nach Wiedergeburt, nach dem Aufbruch in ein neues Leben richtig verstanden.

A sincere wish for rebirth much like this one lies behind many of the deranged plans launched by recent inheritress characters.

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Roman Thriller

Marc Elsberg – Helix

Wenn ich nichts anklicke, dachte Helen, entscheidet der Zufall.

Im Bereich Geocaching geht ja ansonsten aufgrund der Jahreszeit kaum etwas weiter, aber immerhin komme ich mit der Leseliste für Literatur-Geocaches gut voran. Die beiden anderen Werke dieses Autors, die ich hierfür brauche, habe ich tatsächlich schon gelesen und dieses war gerade in der Onleihe verfügbar.

Die Geschichte nachzuerzählen würde einerseits zu lange dauern und andererseits den Interessierten das Lesevergnügen verderben. Wie der Titel schon andeutet, dreht sich die rasante Geschichte um die Manipulation des Genoms, der genetischen Ausstattung. Die CRISPR/Cas-Methode (so genannte Gen-Schere) hat in den letzten Jahren breite Bekanntheit erlangt und somit fällt es auch der mit den Details der Genforschung nicht vertrauten Leserin nicht schwer, sich vorzustellen, woran im Geheimen vielleicht tatsächlich bereits gearbeitet wird. Ein großer Teil des Reizes dieser Geschichte liegt darin, dass ein Einblick in einen Bereich strengster Geheimhaltung gewährt wird, von dem die Öffentlichkeit niemals erfährt.

Wie auch schon in den vorigen Büchern des Autors werden viele ethische Aspekte aufgeworfen, die bei dieser Thematik noch stärker zum Tragen kommen. Es werden viele Argumente genannt, warum die Manipulation des menschlichen Genoms nur noch ein weiterer Schritt in eine ohnehin unabwendbare Zukunft sein soll. Die tatsächlichen Ereignisse des Buches sprechen jedoch eine deutlich andere Sprache. Die manipulierten Kinder sind zwar hoch intelligent und ihren „Erzeugern“ in vielen Bereichen überlegen. Es zeigt sich jedoch deutlich, dass ihre sozialen Fähigkeiten weit hinter ihren anderen Qualitäten zurückbleiben. Sie können aufgrund mangelnder Lebenserfahrung die soziale Tragweite ihrer Aktivitäten nicht abschätzen. Lebenserfahrung lässt sich nicht im selben Maße beschleunigen, wie es die Gentechnik möglicherweise bei Muskelwachstum oder Krankheitsresistenz kann.

Sind diese Kinder noch Menschen im herkömmlichen Sinn? Wenn nicht, was sind sie dann? Sind auf sie die Menschenrechte anzuwenden?

Ein anderer Aspekt, den ich hervorheben möchte, ist die Unmittelbarkeit, mit der diesen Kindern die Menschenrechte abgesprochen werden. Noch lange bevor die Machenschaften der betroffenen Kinder aufgedeckt werden, wird ihre Menschlichkeit bereits angezweifelt. Es wird im Buch zwar nicht näher ausgeführt, aber allein dieser kurze Hinweis lädt dazu ein, sich mit der Frage zu befassen, was Menschen eigentlich zu Menschen macht. Neben der Frage, wie weit die Gentechnik gehen dürfen soll, darf auch diese Frage nicht in den Hintergrund geraten.

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Erfahrungsbericht Memoir

Kelly Grey Carlisle – We Are All Shipwrecks

Mostly I felt bad that she hadn’t had a dad, that people had lied to her, that she hadn’t been happy at home. That she hadn’t lived. Mostly I just wished I knew more about her.

Das Buch beginnt mit einer Enthüllung. Die Mutter der Autorin wurde ermordet, als die Autorin selbst gerade drei Wochen alt war. Diese Tragödie könnte nun im Zentrum dieser Familiengeschichte stehen. Selbstverständlich hat dieses Ereignis den Lebensverlauf der Autorin massiv beeinflusst und sie sucht auch immer wieder nach näheren Informationen, sowohl über den Tod ihrer Mutter (und was davor geschah), als auch über den biologischen Vater, den sie nie kennengelernt hat. Viel wichtiger sind jedoch die Menschen, die in ihrem Leben sind und ihre Entscheidungen prägen.

I didn’t know then what I know now: that there are almost as many “weird” families as there are normal families; that “normal” isn’t really normal; that we all have stories to tell about where we come from.

Durch die Kindheit und Jugend der Autorin zieht sich ein intensives Gefühl des Nicht-Dazu-Passens, des Nicht-Normal-Seins. Der frühe Tod der Mutter, der abwesende Vater, Aufwachsen mit den Großeltern auf einem Boot im Hafen, das „zweifelhafte“ Geschäft des Großvaters (er betreibt einen adult video store), Privatschule mit Schuluniformen – auf der High School wird das Gefühl schließlich übermächtig und erst als die Autorin aufs College geht (diesen Lebensabschnitt behandelt das Buch nicht), findet sie eine Art Frieden mit sich selbst und ihrer Herkunft.

Immer wieder betont der Großvater, dass die Herkunft so prägend ist dafür, was aus uns wird, was für ein Mensch wir sind. Die Autorin kommt schließlich zur Erkenntnis, dass das nur ein Teil der Wahrheit ist. Wer wir sind/werden, passiert auch, wenn wir unser Zuhause verlassen, es passiert unser ganzes Leben lang. Unsere Herkunft, unsere Familie bestimmt in hohem Maße die Chancen, mit denen wir ins Leben starten. Was wir daraus machen, liegt aber in unserer eigenen Hand.

You are turning into “who you are” your whole life.

 

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Erfahrungsbericht

Lisa Taddeo – Three Women

What’s wrong with you?

Zuerst einmal zu den Fakten: dieses Buch erzählt die persönlichen Geschichten von drei Frauen. Diese Geschichten hat die Autorin Lisa Taddeo nicht erfunden, sondern in langjähriger Arbeit recherchiert. Dazu hat sie unzählige Gespräche mit Frauen über ihr Verlangen (desire), über ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse geführt. Sie hat diese Frauen über einen Zeitraum von mehreren Jahren begleitet, ihre Lebensumstände beobachtet, ihre Familienverhältnisse beleuchtet und aus all diesen Informationen schließlich ein detailreiches Bild gezeichnet.

Who does she think she is.

Auch wenn der Text detailreiche Beschreibungen von sexuellen Aktivitäten enthält, geht es aus meiner Sicht nicht in erster Linie um körperliche Bedürfnisse. Für alle drei Frauen sind ihre sexuellen Wünsche mit emotionalen Aspekten verbunden. Es geht darum, geliebt zu werden, von einem Partner angenommen zu werden, das eigene Selbst und dessen Wert bestätigt zu bekommen.

Women shouldn’t judge one another’s lives, if we haven’t been through one another’s fires.

Die Geschichte von Lina wurde im Rahmen einer Frauendiskussionsrunde erzählt und die Autorin beschreibt an dieser Stelle auch detailliert die Reaktionen der anderen Frauen auf Linas „Geständnis“. Neid paart sich mit Angst, daraus entsteht eine passiv-aggressive Stimmung gegen diese Frau, die aus ihrem Alltag ausbricht, um ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Anstatt Solidarität oder zumindest Verständnis erntet sie Misstrauen und die unmissverständliche Botschaft, dass sie Grenzen überschritten hat, die nicht überschritten werden sollten. Es handelt sich hier um eine geradezu prototypische Beschreibung eines unsolidarischen Verhaltens unter Frauen, das in einem anderen Buch, das ich kürzlich gelesen habe als get back in line definiert wird.

Life has absolutely zero meaning if you’re not living for someone else.

Ein anderer dazu passender Aspekt ist die Tatsache, dass von Frauen nach wie vor erwartet wird, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse für andere Personen zurückschrauben. Selbstverständlich erfordert das Mutter-Sein (eigentlich das Eltern-Sein, aber es geht hier eben konkret um Frauen) ein gewisses Maß an Selbstaufgabe. Die eigenen Bedürfnisse aber auch gegenüber denen des Partners (im besten Fall der andere Elternteil) zurückstellen zu müssen, führt im Allgemeinen zu Unzufriedenheit und zum Zerbrechen der Partnerschaft. In den Augen der Gesellschaft und/oder zum (vermeintlichen) Wohl der Kinder wird diese Partnerschaft dann zumeist am Leben erhalten, obwohl sie längst nur noch eine Hülle ist.

What Sloane wanted more than anything else was to like herself. […] There had always been a sense of personal inadequacy if she was not nailing every single thing.

Während in den Geschichten von Maggie und Lina zumindest oberflächlich eine Art von Opferrolle nicht vollständig abgestritten werden kann, erscheint Sloane auf den ersten Blick als Frau, die alles hat. Sie stammt aus einer reichen, weißen Familie, ist attraktiv, beliebt und erfolgreich. Eine Frau, die von anderen Frauen beneidet wird. Erst zwischen den Zeilen und im Verlauf der Geschichte wird klar, dass auch Sloane ihre eigenen Bedürfnisse hinter die ihres Mannes stellt. Ihr Selbstwertgefühl beruht auf der Kontrolle ihres perfekten Images. Die oben gestellte Frage What’s wrong with you? zerbricht ihr Selbstbild nicht, da sie sich diese Frage ohnehin immer wieder selbst stellt. Die Frage von einer anderen Frau gestellt zu bekommen, zieht diese Selbstzweifel jedoch zusätzlich ins Tageslicht. Hier kommen all die Erwartungen zum Ausdruck, mit denen sich Frauen täglich konfrontiert sehen und die niemals erfüllt werden können.

Even when women fight back, they must do it correctly. They must cry the right amount and look pretty but not hot.

Ich verzichte an dieser Stelle darauf, die Eckdaten der drei Geschichten aufzulisten. Zum Ersten finde ich, dass dies den sexuellen Aspekt zu sehr in den Vordergrund stellt (und damit eine gewisse Sensationslust anspricht, was aber vermutlich verkaufsförderlich sein dürfte). Zum Zweiten gibt eine reine Zusammenfassung der Fakten die Tiefe der Geschichten nicht wider. (Wer trotzdem nicht verzichten kann: Bookmarks. Außerdem beschäftigt sich dieser Lithub-Post, mit der Frage, warum das Thema Verlangen/Begierde überhaupt behandelt werden sollte.) Es geht hier nicht um sexuelle Akte und wie und unter welchen Umständen diese stattgefunden haben. Es geht um die persönlichen Empfindungen und Erfahrungen dieser drei Frauen und die lassen sich nicht in einem Blog Post zusammenfassen.

We don’t remember what we want to remember. We remember what we can’t forget.

 

 

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Sachbuch

Susan Orlean – The Library Book

The library is a gathering pool of narratives and of the people who come to find them. It is where we can glimpse immortality; in the library, we can live forever.

Schon der Titel lässt erahnen, dass es sich bei diesem Werk um eine Liebeserklärung an die Institution Bibliothek (Library) handelt. Die Autorin erzählt jedoch nicht nur von ihren eigenen Erfahrungen, sondern nimmt diese zum Anlass, tief in das Thema einzutauchen.

My mother imbued me with a love of libraries. The reason why I finally embraced this book project – wanted, and then needed, to write – was my realization that I was losing her.

Ein wichtiger Handlungsstrang ist der Brand der Los Angeles Public Library im Jahr 1986. Die Autorin beleuchtet in tiefgehenden Recherchen den Zustand der Bibliothek vor und nach dem Brand, lässt Zeitzeugen zu Wort kommen und webt ein dichtes Netz, das zum Ziel hat, Licht auf das Feuer und die darauf folgenden Aufbauarbeiten zu werfen. Die Brandursache konnte niemals vollständig geklärt werden. Ein Verdächtiger wurde festgenommen, vor Gericht gestellt und aus Mangel an Beweisen nicht verurteilt. Die Lebensgeschichte dieses mutmaßlichen Brandstifters nimmt ebenfalls eine wichtige Rolle im Buch ein. Aus den Recherchen der Autorin lässt sich schließen, dass der junge Mann eher zufällig mit dem Brand in der Bibliothek in Zusammenhang kam und sich der auf ihn fallende Verdacht hauptsächlich wegen seiner ständig wechselnden Aussagen erhärtete. Obwohl das Gerichtsverfahren mit einem Freispruch endete, beeinflusste die öffentliche Wahrnehmung seiner Verbindung mit dem Bibliotheksbrand sein weiteres Leben.

People think of libraries as the safest and most open places in society. Setting them on fire is like announcing that nothing, and nowhere, is safe. The deepest effect of burning books is emotional.

Beleuchtet wird aber auch die Rolle der Bibliothek in den vergangenen Jahrhunderten bis zum heutigen Tag. Bibliotheken sind offene Orte, sie bieten Platz für Menschen unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft und anderen persönlichen Merkmalen. Sie sind Orte des Wissens und des Lernens, der Ruhe, aber auch der Gemeinschaft. Die Autorin begleitet viele Menschen, die in der Los Angeles Public Libary arbeiten, durch ihren Arbeitsalltag und beschreibt die Begegnungen mit den BesucherInnen der Bibliothek und die vielen anderen angebotenen Aktivitäten wie zum Beispiel Story Times für Kinder unterschiedlicher Altersgruppen oder Sprachkurse. Im letzten Kapitel berichtet die Autorin von einem Besuch beim Marktführer im Bereich Online-Verleih-Systeme Overdrive. Die letzten Jahrzehnte haben bereits gezeigt, dass Bibliotheken durch das Internet nicht aussterben werden. Genau genommen sind sie wichtiger denn je. Neue Technologien vereinfachen den Zugang, machen jedoch die traditionellen Funktionen von Bibliotheken nicht obsolet.

Als Beispiel möchte ich noch ein Detail hervorheben, das mich persönlich begeistert hat. Das historische Gebäude der Los Angeles Public Library wurde von Bertram Goodhue geplant. Im Buch beschreibt die Autorin in mehreren Absätzen seinen Ansatz, dass ein Gebäude eine Geschichte erzählen sollte. Seine Form, seine Kunst, Ornamente, alle Elemente zusammen sollten wie ein Buch gelesen werden können und die Geschichte darüber erzählen, was in dem Gebäude passiert. In meinen Augen ist das ein wunderbarer, fachübergreifender Zugang, der Architektur von reiner Zweckmäßigkeit auf eine künstlerische Ebene hebt. Bertram Goodhue war jedoch nicht nur Architekt, sondern hat unter anderem auch die Schriftart Cheltenham erschaffen.

It declares that all these stories matter, and so does every effort to create something that connects us to one another, and to our past and to what is still to come.

EDIT [20. Dezember 2019]: Es gibt eine Podcast-Episode von The Maris Review, in der Susan Orlean über die Geschichte des Buches spricht und unter anderem erzählt, warum ein Feuer in einer Bibliothek in Los Angeles eine besondere Bedeutung hat (mit Verweisen auf die aktuellen Waldbrände). Via Lithub.

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Roman

Colson Whitehead – The Underground Railroad

And destroy that what needs to be destroyed. To lift up the lesser races. If not lift up, subjugate. And if not subjugate, exterminate. Our destiny by divine prescription – the American imperative.

Dieser Roman gibt tiefe Einblicke in das Leben der Sklaven im Süden der USA im 17. und 18. Jahrhundert. Die Protagonistin Cora flieht von der Baumwollplantage, auf der sie geboren wurde und ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hat. Sie ergreift trotz großer Gefahr die Chance auf ein freies Leben. Ihr Weg ist lange und von vielen Rückschlägen und Demütigungen geprägt. Am Ende des Buches ist sie noch immer auf dem Weg.

Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Der Leser lernt sowohl die Sicht der Sklaven kennen, die bereits auf der Plantage geboren wurden und kein freies Leben kennen, als auch die der Gegner der Sklaverei, die teilweise ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um Menschen die Freiheit zu ermöglichen und sie vor Misshandlung und Mord zu schützen.

Cora hat in einem ihrer Verstecke viel Zeit, sich mit Büchern auseinanderzusetzen und über die Ungerechtigkeit der Welt nachzudenken. Dem Autor ist es gelungen, ihre Weltsicht einzufangen, ohne ausschließlich zu moralisieren. Interessant ist auch die Perspektive des Sklavenjägers (siehe Zitat oben), die auch die Meinung vieler Sklavenhalter widerspiegelt. Teilweise schmerzt es fast, die Beschreibungen der damals weit verbreiteten Rassenlehre und damit der Vorstellung von mehr oder weniger wertigen Menschen zu lesen. Es ist auch erschreckend (und notwendig), sich bewusst zu machen, dass auch heute noch eine Klassengesellschaft existiert, in der manche Menschen als wertvoller erachtet werden als andere. Die Idee der Chancengleichheit für alle ist nach wie vor eine Illusion oder ein nobles Wunschbild.

Helfen kann hierbei nur der Gedanke, dass jede und jeder auch an einem anderen Ort, in einer anderen Kultur, unter anderen Umständen geboren werden hätte können. Wir haben uns unseren Platz im Leben nicht nur selbst erarbeitet, wir haben Startvoraussetzungen mitbekommen, die rein vom Zufall bestimmt sind. Für diese Startvoraussetzungen sollten wir dankbar sein und jene unterstützen, die mit weniger Vorteilen ins Leben gestartet sind. Gerade Menschen, die aus einem anderen Land zu uns kommen, die in einem Land geboren wurden, in dem Krieg herrscht und in dem sie kein gutes Leben führen können, sollten alle Chancen bekommen, die ihnen bisher versagt wurden. Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf ein gutes Leben. Jede und jeder.