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Graphic Novel

Koren Shadmi – Love Addict

CN dieses Buch: häusliche Gewalt (Werfen und Zerstören von Gegenständen), sexuelle Handlungen (grafisch dargestellt), Alkohol- und Drogenmissbrauch, Sexismus, Fat Shaming
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Leider lässt mich meine Dokumentation erneut im Stich, ich kann nicht nachvollziehen, auf welchem Weg diese Graphic Novel auf meiner Liste gelandet ist. Jedenfalls landete ich heute nach meinem Besuch im Theatermuseum (siehe Bericht weiter unten) in der Bücherei-Zweigstelle Schwendermarkt. Nach der schnellen vor-Ort-Lösung eines (satirischen) Literatur-Geocaches konnte ich das Buch aus der Bookmarkliste in der Büchereien-App, das ich mir vorgemerkt hatte, nicht finden und nahm mir noch Zeit, in meine Tabelle zu schauen, in der ich interessante Bücher verzeichne. Da fand ich dann dieses Werk, das in dieser Zweigstelle auch verfügbar war. Das andere Buch konnte ich dann mit Unterstützung des Personals auch ausfindig machen (Pro-Tip: die Krimis haben oft ein Extra-Regal und sind nicht bei den Romanen einsortiert).

Die Graphic Novel befasst sich mit den Risiken und Nebenwirkungen des Online Datings. Protagonist K. lässt sich nach einer gescheiterten Beziehung von seinem Mitbewohner zu einem Account auf einer Online-Dating-Plattform überreden. Nach ein paar enttäuschenden Dates (Klischees wie zB die Frau ist hasserfüllt und betrunken, die Frau sieht ganz anders aus als auf dem Foto, die Frau ist sehr kapitalistisch orientiert und sehr unsympathisch) scheint sich das Schicksal zu wenden. K. gewinnt Selbstvertrauen durch einige positive Dating-Erfahrungen und rutscht in eine Abhängigkeit ab, die dazu führt, dass er ständig neue Frauen kennenlernen will, sie zunehmend miteinander verwechselt und er schließlich mit einem Filmriss im Zimmer einer rothaarigen Unbekannten mit Postern der Musicals Cats, Wicked und Rent an den Wänden aufwacht (diese Seite hat mir persönlich gut gefallen).

Die Geschichte nimmt einen erwartbaren Lauf, K. erkennt schließlich, dass ein weiterer schöner Körper im Bett ihn nicht glücklich macht. Sexismus lässt sich in den vielen Zeichnungen nackter Frauen sicher sehen, die meisten Frauen werden eindimensional und stereotypisch dargestellt. Irgendwie blieb bei mir ein etwas schaler Geschmack zurück, auch wenn die Moral von dieser Geschichte natürlich von Anfang an offensichtlich ist.


Theatermuseum mit dem bunten Plakat zur Ausstellung Austropop, dahinter der Kirchturm der Augustinerkirche

Im Theatermuseum ist aktell und noch bis 4. September 2023 die Sonderausstellung Austropop zu sehen. Den Untertitel Von Mozart bis Falco finde ich gelinde gesagt irreführend, denn diese Formulierung suggeriert, dass mit dem Tod von Falco vor nunmehr fast 25 Jahren der Austropop (s)ein Ende gefunden hätte. Natürlich sind gerade diese beiden Protagonisten der österreichischen Musikszene international bekannt und eignen sich daher als Zugpferde für die Ausstellung. Aber zum Glück beschränkt sich die Ausstellung nicht nur auf diese beiden Persönlichkeiten, sondern versucht, die Entwicklung des Austropop nachzuzeichnen und jeder Epoche ihre eigene Bedeutung zukommen zu lassen.

mehrere Schallplatten-Cover auf einem Pop-Art-Wand-Hintergrund mit sich überlappenden Kreisen in rot-orange-Farbtönen

Einen eigenen Raum nehmen auch die in Wien uraufgeführten Musicalproduktionen ein, die teilweise auch direkte Austropop-Verbindungen aufweisen. Dazu zählen etwa die Musicals Mozart! und Schikaneder, deren Hauptfiguren direkt der Austropopgeschichte entstammen. Die Musicals Ich war noch niemals in New York und I am from Austria hingegen erzählen eine erfundene Geschichte untermalt mit der Musik bekannter Austropopgrößen wie Udo Jürgens und Rainhard Fendrich. Neben Szenenfotos aus den Musicals sind auch Programmhefte, Kostümzeichnungen sowie Kostüme ausgestellt.

5 Kostümzeichnungen aus dem Musical Elisabeth, darüber zwei Plakate der japanischen Produktionen von Elisabeth und Mozart

Neben dieser Sonderausstellung gibt es auch eine kleinere Dokumentation zu Richard Teschner (1879–1948) zu sehen. Im Figurentheater sah er „die Möglichkeit der Überwindung herkömmlicher (theatralischer) Ausdrucksformen“ (Zitat aus der Ausstellung). Mit der Entdeckung javanischer Stabpuppen fand er schließlich einen Weg, seine Vorstellungen von Theater und Poesie umzusetzen. Dies führte er zuerst in einer Guckkastenbühne namens „Der Goldene Schrein“ aus. Aufgrund der beengten Platzverhältnisse entwickelte Teschner in weiterer Form seinen „Figurenspiegel“, „auf dem ab 1932 hinter einer kreisförmigen, konkaven Glasscheibe gespielt wird. Hier sollte er alle ihm zur Verfügung stehenden Techniken (Projektionen von chemischen Prozessen, Lichteffekte, Rückprojektionen, Verfeinerung der Technik der Figuren etc.) noch einmal exzessiv erweitern“ (Zitat aus der Ausstellung). Die hinter Glas ausgestellten Stabpuppen sind leider sehr schwer zu fotografieren, auf der Webseite des Theatermuseums zu dieser Austellung gibt es jedoch einige schöne Aufnahmen zu sehen.

Goldener Schrein, Guckkastenbühne für Stabpuppen mit halb geschlossenen Türen und reichlich goldener Verzierung

Im zweiten Stock fand ich dann noch eine kleine Ausstellung mit dem Namen Spielräume, die sich mit verschiedenen Bühnenformen befasst. Modelle illustrieren einen Vergleich der verschiedenen Bühnenformen und ihrer Eigenschaften. Die Simultanbühne wird etwa heute bei den Musicalaufführungen auf der Felsenbühne Staatz eingesetzt. Die breite Bühne weist verschiedene Schauplätze auf, die ohne Umbauten direkt nacheinander in den Szenen bespielt werden können. Ein Modell der Bühne des Alten Hofburgtheaters (das Gebäude wurde Ende des 19. Jahrhunderts abgerissen) zeigt eindrucksvoll das Konzept der Guckkastenbühne und der vielen Maschinerien, die innerhalb dieses Bühnenraums zum Einsatz kamen.

Obwohl ich mir wirklich viel Zeit gelassen habe, habe ich nur knapp 90 Minuten gebraucht, um alle Räume zu durchwandern, Fotos zu machen, Texte zu lesen und die gesammelten Informationen auf mich wirken zu lassen. Das Theatermuseum ist also eines jener Museen, die sich auch als kurze Museumsaktivität zwischendurch einschieben lassen.

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Graphic Novel

Julie Maroh – Blau ist eine warme Farbe

CN dieses Buch: Homophobie, Krankheit, Tod, Trauer
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Als ich kürzlich in einer entlegenen Filiale der Büchereien Wien nach einem Buch suchte, das ich (vermeintlich) für einen Literatur-Geocache brauchte, landete ich wieder mal vor einem Regal mit Graphic Novels. Dieser Titel war mir sofort in Erinnerung, wenn ich auch nicht mehr sagen könnte, in welchem Zusammenhang.

Der Inhalt beschreibt eine Coming-out-Erfahrung. Die Protagonistin Clementine setzt sich gezwungenermaßen Stück für Stück mit der Tatsache auseinander, dass sie sich zu Frauen (bzw. speziell zu Emma) hingezogen fühlt. Die abwertenden Kommentare ihrer Mitschüler:innen und Eltern helfen dabei natürlich nicht: Clementine sagt sich selbst, dass sie so nicht sein darf:

Ich bin ein Mädchen, und ein Mädchen muss mit einem Jungen gehen.

Während sich die ersten zwei Drittel des Buchs Zeit lassen, die Erkenntnis und Entwicklung von Clementines und Emmas Gefühlen füreinander zu beschreiben, geht am Ende alles ganz schnell. Von Clementines 17. Geburtstag, an dem ihre Eltern sie mit Emma „erwischen“ und deshalb aus dem Haus werfen, bis zum Ende der Geschichte in einer anderen Zeitebene, sind es nur noch 24 Seiten.

Besonders gut gefällt mir, wie die Autorin die spezifischen Möglichkeiten des Mediums Comic / Graphic Novel nutzt. Das zeigt sich etwa auf einer Seite, auf der die Protagonistin Clementine ein Gespräch mit ihrem Freund Valentin in der Gondel eines Riesenrads führt. Die Seite besteht aus neun Panels, in denen die beiden teilweise miteinander sprechen, teilweise schweigen. Auf jedem Panel zeigen sie unterschiedliche Gesichtsausdrücke, die allein schon den Verlauf des Gesprächs erahnen lassen, ohne den konkreten Inhalt zu kennen.

Ein anderes Beispiel ist eine Seite, die aus vier übereinander stehenden seitenbreiten Panels besteht. Im obersten Panel ist nur Clementines Gesicht auf dunklem Hintergrund mit Sternen um ihren Kopf zu sehen. Die darunter liegenden drei Panels „zoomen“ aus diesem Close-up heraus und zeigen Stück für Stück die strahlende Clementine in einer U-Bahn umgeben von scheinbar leblosen Menschen in Grau und Grau.

Die Farbgestaltung spielt eine wichtige Rolle, wie der Titel bereits erahnen lässt. Die blauen Augen und Haare von Clementines Schwarm und später Partnerin Emma dominieren den Großteil der ersten Hälfte des Buchs, die Clementine als Jugendliche zeigen. In einer späteren Zeitebene sehen wir Emma mit inzwischen blonden Haaren, hängendem Kopf, traurigen Augen und in blau-grün-gelb getönten Panels zurückblicken.

Der Autorin ist das Meisterwerk gelungen, eine an sich traurige Geschichte gleichzeitig hoffnungsvoll wirken zu lassen.

Die Liebe entflammt, schläft ein, zerbricht, zerbricht uns, lodert wieder auf … Lässt uns wieder aufleben. Die Liebe kann nicht ewig sein, aber sie verleiht uns Ewigkeit …

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Graphic Novel

Liv Strömquist – Der Ursprung der Welt

CN dieses Buch: Geschlechtsorgane, sexuelle Handlungen, Genitalverstümmelung
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Eine spezielle Empfehlung führte mich zu dieser als Comic erzählten Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechtsorgans. Liv Strömquist setzt sich damit auseinander, wie in verschiedenen Epochen dem weiblichen Geschlechtsorgan zu viel oder zu wenig oder die falsche Aufmerksamkeit geschenkt wurde, kritisiert dabei Machtstrukturen der jeweiligen Zeit und verleiht ihren Texten auch noch einen sarkastischen Schliff, der dem teilweise schwierigen Thema etwas die Schärfe nimmt. Sie nimmt die Werbebotschaften der Hersteller von Menstruationshygieneprodukten auseinander und belegt anhand von vielen historischen Darstellungen und literarischen Quellen, dass das Verstecken und Tabuisieren des weiblichen Geschlechtsorgans eine relativ moderne Erfindung ist. Eine sehr unterhaltsame Lektüre mit wichtigem Informationsgehalt.

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Graphic Novel Memoir

Kristen Radtke – Imagine Wanting Only This

CN dieses Buch: Krankheit, Tod, Trauer, Verlust
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Ruins are often born in the wake of stasis. That’s easy enough to sense.

In diesem Graphic Memoir verbindet die Autorin unterschiedliche Geschichten, die sich mit Verlust und Trauer auseinander setzen. In einer verlassenen Kirche findet sie Fotos in Plastikbeuteln. Diese wurden dort hinterlassen von den Hinterbliebenen einer Person, die in einem Zugunglück umgekommen ist (was sie erst bei einer späteren Recherche heraus findet).

It felt like I had to see everything, as if it was the only way my life would count or matter. I didn’t care where we were going as long as it was someplace new. 

Die eigene Familie ist betroffen von einer vererbbaren Herzerkrankung (eine Form der Kardiomyopathie). Der Tod ihres Lieblingsonkels wird zu einer lebensprägenden Erfahrung, die zu weiteren Recherchen führt. Feuer, Bomben, Waffen, Krieg. Was Menschen einander antun.

Verlassene Orte wie die Kirche in Indiana oder der Teil einer isländischen Stadt, der im Zuge eines Vulkanausbruchs von Lava bedeckt wurde, werden zu den Markern ihrer Suche nach der Erinnerung. Oder dem Versuch, dem Vergessen Einhalt zu gebieten. 

Graphisch besonders in Erinnerung geblieben ist mir die Seite, auf der sie in 20 einzelnen Panels den Akt des Nachdenkens in unterschiedlichen Varianten eines Screen Savers nachstellt. Dies soll nur als Beispiel dienen für die vielen interessanten Bilder, die die Autorin ihrer Geschichte zugrunde legt.

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English Graphic Novel

Emil Ferris – My Favorite Thing is Monsters

CN dieses Buch: Mord, visuelle Darstellung sexueller Handlungen, Mobbing, Tod, Sterben, lebensbedrohliche Krankheit, Depression, Alkoholismus
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This is just another reason why being a human girl stinks compared to being a monster. When I’m a monster I won’t have to keep my mouth shut. No, I’ll open my mouth and use my rows of long sharp teeth to rip up guys like Jerry.

Mir sind ja Buchstaben eigentlich schon lieber als Bilder (bewegt oder unbewegt). Aber manchmal ist die Kombination aus beidem auch sehr reizvoll. Bisher habe ich nur zwei Graphic Novels gelesen, beide von Alison Bechdel (Fun Home, Are You My Mother?). Die Empfehlung für Emil Ferris stammt aus diesem Lithub-Listicle über 2017 erschienene Bücher, die nicht ausreichend Aufmerksamkeit erhielten. Und jetzt bin ich gerade erstaunt, dass ich offenbar schon so lange Lithub lese … die Zeit vergeht echt, ohne dass wir es merken.

Das Buch behandelt unzählige schwierige Themen durch die Augen der Protagonistin Karen.

  • Ihr sehnlichster Wunsch: von einem Werwolf gebissen zu werden, um selbst ein Werwolf zu werden. Dieser Wunsch verstärkt sich noch angesichts der Krebserkrankung ihrer Mutter. Als Werwolf könnten nämlich beide unsterblich sein …
  • Karens frühere Freundin Missy hat sich äußerlich den normalen Mädchen angepasst: Sie entsagt den Horror Comics und Gruselfilmen und beschäftigt sich stattdessen mit Kleidung und Haarstyling. Und schlägt sich auf die Seite der Mädchen, die Karen schon lange mobben.
  • Zeitlich verortet sich das Buch im Jahr 1968, der Mord an Martin Luther King Jr. (4. April 1968) dient als kalendarischer Anker. Zwischen den vielen schwarz-weißen oder nur mit wenigen Farbklecksen versehenen Schilderungen von Karens Alltag finden sich immer wieder Comicbuch-Cover in schreienden Farben, die mit ihren Datumsangaben den Verlauf der Zeit nachzeichnen. An dieser Stelle möchte ich auch die Notizbuch-Optik erwähnen: Die gezeichneten Szenen scheinen auf einem linierten Collegeblock entstanden zu sein, die Lochungen werden immer wieder in die Zeichnungen eingebaut. Eine Bildersuche auf eurer bevorzugten Suchmaschine liefert zahlreiche Beispiele aus dem Buch.
  • Die Nachbarin Anka, mit der sich Karen gut versteht, wird ermordet aufgefunden. Ihr mordverdächtiger Ehemann trauert durch die Flasche um seine Ehefrau und lässt Karen schließlich teilhaben an einer Audiokassette, auf der Anka von ihrer Kindheit und Jugend in Berlin erzählt. Diese Geschichte innerhalb der Geschichte wird leider bis zum Schluss nicht aufgelöst (wie vieles andere), nur Stück für Stück erfährt die Leserin von Ankas Aufwachsen im Bordell und ihrer späteren Deportation ins Konzentrationslager.
  • Im Verlauf der Geschichte wird Karen erkennen, dass sie ihre Freundin Missy nicht nur auf platonische Art gern hat. Sie erzählt ihrem Bruder davon, der erstmal ausflippt und ihr deutlich zu verstehen gibt, dass sie die kranke Mutter mit diesem queer talk gefälligst nicht zu belästigen hat. Ein äußerst schmerzhaftes Coming-out.
  • Der Wunsch, ein Monster zu sein, hat für Karen unterschiedliche Bedeutungen. Wie oben bereits erwähnt, stellt sie sich vor, ihre Mutter vor dem Tod retten zu können, indem Karen als Monster auch ihre Mutter in ein unsterbliches Monster verwandelt. Gleichzeitig müsste sie sich als Monster nicht so viel gefallen lassen, sie könnte sich wehren, sich verteidigen. Auch ihren Bruder könnte sie beschützen vor der schlechten Gesellschaft, in der dieser sich verstrickt hat. Die Vorstellung der eigenen Monsterhaftigkeit hat jedoch auch die Funktion, das Anderssein zu verdeutlichen. Und die Schwierigkeiten des Andersseins.

Einen zweiten Teil scheint es zu geben, allerdings scheint der aktuell vergriffen zu sein. Hoffe sehr, dass mir der irgendwann noch über den Weg läuft.

Sometimes a thing happens that’s so bad that it feels like things should be made to look on the outside, the way they feel on the inside.

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Graphic Novel

Alison Bechdel – Are You My Mother?

Das Buch hätte definitiv einen längeren Eintrag verdient, aber dazu würde es 2017 nicht mehr kommen, daher besser kurz als viel zu spät.

In ihrem ersten Buch Fun Home erzählte die Autorin von der Beziehung zu ihrem Vater, von seiner lange unterdrückten Homosexualität, die letztendlich mutmaßlich zu seinem Selbstmord führte und der Entdeckung ihrer eigenen sexuellen Identität. In dieser Fortsetzung (?) beschreibt sie großteils Träume, Therapiesitzungen und Ergebnisse ihrer psychologischen Recherchen, in denen sie sich intensiv mit dem Verhältnis zu ihrer Mutter auseinandersetzt. Sie vertiefte sich intensiv in die Schriften Donald Winnicotts, der wichtige Beiträge auf dem Gebiet der Mutter-Kind-Beziehung geleistet hat.

Immer wieder hatte ich beim Lesen das Gefühl, das ich ohne eigene vertiefte Recherche zu diesen psychologischen Themen die erzählte Geschichte nicht vollständig erfassen kann. Gleichzeitig fehlt mir aber nicht nur die Zeit, sondern auch noch die Geduld, diesen Theorien hinterherzurennen, bei der jeder zweite Link auf der Wikipedia zu einem völlig anderen Gebiet führt. Anstatt der Genrebezeichnung a comic drama könnte auch eine laienpsychologische Beziehungsanalyse auf dem Titel stehen. Vielleicht steht das tatsächlich bald auf dem Titel der deutschen Übersetzung … nein, steht es nicht. Der Titel der deutschen Übersetzung lautet übrigens Wer ist hier die Mutter? Was meines Erachtens nach eine vollkommen andere Aussage tätigt als der Originaltitel.

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Graphic Novel

Daniela Schreiter – Schattenspringer

Daniela Schreiter beschreibt in diesem Buch in vielen Bildern ihr Aufwachsen mit dem Asperger-Syndrom. In welchem Alter sie ihre Diagnose erhalten hat, konnte ich weder im Buch noch auf der Webseite finden, doch die Geschichte legt nahe, dass erst im Erwachsenenalter klar wurde, warum Daniela anders ist.

Meine Kenntnisse über das Asperger-Syndrom beschränkten sich bisher auf wenige Fakten, einige davon durfte ich während der Lektüre auch revidieren. Der ganze Komplex Autismus / ADHS wird oft gemeinsam behandelt, hat jedoch so viele Facetten, dass sie für die neurotypische Bevölkerung kaum überschaubar sind (so lange man sich nicht explizit damit befasst).

Aus Daniela Schreiters Comic lässt sich lernen:

  • Asperger-Autisten haben Schwierigkeiten beim Verstehen von nonverbalen Signalen und Redewendungen. Sie nehmen vieles für bare Münze, was als Redewendung oder Scherz daher kommt und schätzen daher klare Worte in der Kommunikation.
  • Das intuitive Verständnis für die vielen zwischenmenschlichen Regeln fehlt zumeist. (Das kennen heutzutage vermutlich viele von Sheldon aus der Serie The Big Bang Theory.)
  • Gestört ist bei Asperger-Autisten auch die Reizwahrnehmung. Neurotypische Menschen nehmen eine Vielzahl an Reizen war, jedoch werden diese vom Gehirn gefiltert. Bei Asperger-Autisten funktioniert dieser Filter nicht richtig, sie müssen sich bewusst konzentrieren, um nicht von der Masse an Reizen überwältigt zu werden.

Ein gutes Beispiel ist etwa die Beschreibung der Wahrnehmung einer Party:

Toll! Das Buffet war klasse, so wunderschön farbig arrangiert! Teilweise sogar komplementär!
Und sie hatten so süße Salz- unf Pfefferstreuer in ihrer Küche!
Und die Handseife im Bad hatte einen wunderbaren Geruch!

Das Comic-Format macht die Geschichte zugänglich und ermöglicht einen spielerischen Zugang zu diesem sperrigen Thema. Ein interessantes Interview mit Asperger-Autistin Denise Linke findet sich auf wrint.de. Mehr von Daniela Schreiter.

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Graphic Novel

Alison Bechdel – Fun Home

Hinter diesem Buch steckt eine lange vergangene Geschichte. Als 2008 die deutsche Ausgabe erschien, hatte eine Freundin von mir mit dem Coming Out ihres Vaters zu kämpfen. Ihre Familie schien auseinanderzubrechen und ich hatte das Buch damals bestellt, um es ihr zu schenken, dann aber nie den Mut oder die Gelegenheit dazu gefunden. Unsere Wege trennten sich, irgendwann mistete ich das Buch aus, ohne es jemals aufgeschlagen zu haben. Jetzt hat es mich eingeholt.

Vielleicht hat es mich damals nicht reingerissen, weil mir das Konzept der Graphic Novel nicht so erstrebenswert erscheint. Ist ja immerhin kein richtiges Buch … (so dachte ich jedenfalls). Stellt sich raus: es ist sogar ein ziemlich gutes Buch.

Die Autorin beschreibt ihre Kindheit, ihre Familie, die Beziehung zu ihren Eltern, ihre Entwicklung zum erwachsenen Menschen. Erst im letzten Drittel wird der überraschende Tod ihres Vaters Bruce und dessen versteckte aber nicht vollständig unterdrückte Homosexualität ein Thema.

Sexual shame is in itself a kind of death.

Wer wie ich an einen Comic Strip mit jeder Menge Boom und Bang denkt, wird (in meinem Fall angenehm) überrascht. Sprachlich ist das Werk deutlich interessanter, als ich es erwartet hatte. Nicht nur einmal musste ich eine unbekannte englische Vokabel nachschlagen. Besonders schön formuliert fand ich etwa diese Beschreibung der jungen Alison, wie sie versucht, sich zwanghaftes Verhalten abzugewöhnen.

My recovery was hardly a joyous embrace of life’s attendant chaos — I was as obsessive in giving up the behaviors as I had been in pursuing them.

Richtig waren meine Befürchtungen jedoch, dass es teilweise schwierig zu lesen ist, weil die Augen ständig auf der Seite herumspringen müssen, um den nächsten Anhaltspunkt zu suchen.

Das titelgebende Fun Home bezieht sich übrigens auf das Funeral Home (Bestattungsinstitut) der Familie, indem Bruce Bechdel bis zu seinem Tod arbeitet. Ein Wortspiel, das typisch für Alison Bechdels charmant-ironischen Stil ist.

Wärmste Empfehlung von meiner Seite. Eine witzige, herzerwärmende Geschichte über das Leben und das Überleben, über das Zu-sich-selbst-finden und das Gefunden-werden.

Reading Challenge: A graphic novel