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English Erfahrungsbericht Memoir

Cheryl Strayed – Wild

CN dieses Buch: Krankheit, Sterben, Tod, Drogenmissbrauch, Abtreibung, Suizid, Mord, Trauma
CN dieser Post: Trauma


Als ich letztes Jahr das Buch von Christine Thürmer über ihre Erlebnisse auf den großen amerikanischen Trails gelesen hatte, blieb ich mit einem Gefühl zurück, als ob da etwas gefehlt hätte. Genau diese Ebene ist in Cheryl Strayeds Wandergeschichte zu finden. Sie verarbeitet in ihrer Zeit auf dem Pacific Crest Trail den frühen Tod ihrer Mutter, gescheiterte Beziehungen, die Gefahr einer ernsthaften Suchterkrankung und eine generelle Ziellosigkeit in ihrem Leben. Dadurch ist dieses Buch weniger die Geschichte einer Wanderung, sondern mehr eine Coming-of-Age-Story, an dessen Ende eine veränderte Cheryl auf der Brücke zwischen Washington und Oregon steht.

But this time she just gazed at me and said, “Honey,” the same as she had when I’d gotten angry about her socks. The same as she’d always done when she’d seen me suffer because I wanted something to be different than it was and she was trying to convince me with a single word that I must accept things as they were.

Wie Christine Thürmer spart auch Cheryl Strayed ihre mangelnde Vorbereitung, ihre Schwierigkeiten auf dem Trail und ihre körperlichen Strapazen nicht aus. Die emotionalen Strapazen ihres Lebens, die sie auf dieser Wanderung verarbeitet, stehen jedoch im Vordergrund. Sie schreibt so schonungslos über ihre Familienmitglieder, dass ich mich manchmal fragte, was ihre Geschwister wohl davon halten, so porträtiert zu werden.

Im 3Books Podcast von Neil Pasricha kam Cheryl Strayed übrigens kürzlich in Episode 98 zur Sprache, als IN-Q ihre Kolumnensammlung Tiny Beautiful Things als eines seiner 3 most formative books erwähnte (in Episode 69 war Cheryl Strayed selbst zu Gast). Dabei beschrieb Neil auch das Cover seiner Ausgabe von Wild, das so auch in meiner eBook-Version enthalten ist (aus dem Gedächtnis sinngemäß zitiert): „… it’s basically Reese Witherspoons face with a giant backpack …“. Was mich überrascht hat, war, dass ich sie nicht erkannt hatte auf diesem Buchcover, obwohl ich gerade kürzlich erst Little Fires Everywhere geschaut habe. In der Filmversion von Wild aus dem Jahr 2014 wirkt sie einfach völlig anders als in ihrer Rolle als Vorstadtmutter in Little Fires Everywhere (2020).


Randnotiz: Die Stornoversicherung nervt mich noch immer mit ständigen Nachfragen nach anderen Dokumenten bezüglich meiner Covid-Erkrankung. Die Nerven, die mich das bisher gekostet hat, wiegen den Geldbetrag inzwischen ziemlich auf. Das war für lange Zeit die letzte Versicherung, die ich abgeschlossen habe. Das Unternehmen dahinter ist übrigens refundable.me.

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English Erfahrungsbericht Memoir

Ruth Reichl – Save Me the Plums

CN dieses Buch: –
CN dieser Post: –


Die Autorin Ruth Reichl war von 1999 bis 2009 Chefredakteurin des Magazins Gourmet, das vom bekannten Verlag Condé Nast herausgegeben wurde. In diesem Buch schreibt sie über ihren Aufstieg von ihrer Rolle als Restaurantkritikerin zur Gestalterin eines renommierten Food-Magazins. Sie gibt Einblicke in die Prozesse, die hinter der Produktion eines solchen Magazins ablaufen, sie lässt die Leserin in die Testküche schauen und erklärt die komplexen Bezüge zwischen den verschiedenen Abteilungen. Die Dominanz der Anzeigenkundschaften, die wiederum von Herausgeberseite an die Chefredaktion und von dort an die anderen Abteilungen weitergegeben wird, war mir nicht vollständig neu. In einem amerikanischen Verlag wie Condé Nast steht für die Beteiligten jedoch immer noch mehr auf dem Spiel.

Ruth Reichl erzählt von ihrer eigenen Faszination mit dem Magazin in ihrer Kindheit und Jugend, es wird deutlich, wieviel es ihr bedeutet, jetzt die Geschicke dieses Traums in der Hand zu haben. Sie beschreibt den Kampf zwischen Tradition und Fortschritt, wie schwierig es ist, neue Ideen durchzusetzen, ohne die langjährigen Leser*innen und Anzeigenkundschaften zu vergrämen. Jeder kontroverse Artikel kann ein Dealbreaker sein, und selbst eine Ausgabe mit einem Cupcake auf der Titelseite kann eine Revolution inklusive Gegenrevolution auslösen:

The battle raged for more than a year, and while I’ll admit I stirred the pot and printed the letters, I never really understood what the fuss was all about. Now, looking back, it is very clear. Gourmet cried, “Let them eat cupcakes!” and our readers got the message. The exclusive little world of food was growing both larger and more inclusive, and those who’d thought they’d owned it didn’t like it one bit.

Es ist ein Einblick in eine interessante Welt, deren Ende wie vieles in der Magazinbranche von der zunehmenden Verbreitung des Internets eingeläutet wurde. Auch diesen Übergang hat Ruth Reichl noch in ihrer Rolle als Chefredakteurin miterlebt. Sie beschreibt hier ihre fassungslose Reaktion auf das Unverständnis der Entscheidungsebenen des Verlags. Überlebt hat daher nur die ausgelagerte Rezeptsammlung Epicurious. Das Printmagazin Gourmet wurde 2009 eingestellt.

Ruth Reichl erzählt auch von vielen Begegnungen mit Menschen, die wir üblicherweise nur aus den Medien kennen. Das folgende Zitat beschreibt eine Begegnung mit der Schauspielerin Frances McDormand, die auf die Bitte einer unbekannten Person um ein Autogramm folgendermaßen reagiert haben soll:

Fran frowned down at the paper for so long I thought she was going to refuse. At last she accepted the pen. “I’m just an actor, and no more interesting than you are.” She scribbled her name. “Probably not as interesting, actually. You should pay more attention to yourself and less to people like me. You’ll be better off that way.”

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English Erfahrungsbericht Memoir

Kristin Newman – What I Was Doing While You Were Breeding

CN dieses Buch: Die Autorin schreibt Comedy und macht in ihrem Buch viele Scherze über Themen, die manchen Leser:innen vielleicht nicht gefallen: Rassismus, Geschlechtsteile, Kolonialismus, Krankheit, Drogenmissbrauch, Vergewaltigung.

CN dieser Post: –


Randnotiz vorab: Ich habe nicht ausreichend recherchiert und dieses Buch mit einer völlig falschen Erwartungshaltung gelesen. Genau genommen habe ich die Autorin mit einer anderen Reiselustigen verwechselt, was zu einer zunehmenden Irritation führte. Das könnte dazu beigetragen haben, dass ich mit dem Buch nicht besonders glücklich war.

I realized they didn’t look at travel the way I looked at it, like medicine, like my chance to right all of the wrongs that might exist in my life.

Was mir gerade klar geworden ist, als ich das obige Zitat, das ich beim Lesen markiert habe, abgeschrieben habe, ist: Diese Sicht auf das Reisen ist wiederum nicht meine Sicht. Irgendwie hatte ich seit Längerem das Gefühl, dass meine Reisen eigentlich gar nicht zählen, weil ich nie ziellos durch irgendein Land oder einen Kontinent unterwegs war oder in Hostel-Schlafsälen geschlafen habe. Der Grund ist dafür ist aber ganz einfach, dass ich das halt nie wollte. Was mich nicht zu einer schlechteren Reisenden macht. Es ist einfach nur ein anderer Weg. Fortsetzung meiner Gedanken zum Reise-Thema im nächsten Post, der sich ebenfalls mit einem Travel Memoir beschäftigen wird.

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English Roman

Emily St. John Mandel – Station Eleven

CN dieses Buch: Mord, Tod, Krankheit, Pandemie, Epidemie
CN dieser Post: Pandemie, Sterben, Krankheit


Was für eine Geschichte … ich musste am Anfang des Buchs nachschauen, wann das veröffentlicht wurde, und es ist beängstigend wenig lange her (2014). Ich möchte mir nicht vorstellen, was die Autorin empfunden hat, als es 2020 mit der aktuellen Situation losging …

Es handelt sich aber hier nicht nur um eine Geschichte, die die Katastrophe und ihre Nachwirkungen beschreibt. Viele Rückblicke zeigen die Charaktere in ihrem Leben VOR der Katastrophe, was auch notwendig ist, um diese dann in berührend unterschiedlichen Szenarien sterben zu lassen. Ohne diese Geschichten VOR der Pandemie gäbe es die Frage nicht, wer denn wohl überleben wird und wie.

Of all of them there at the bar that night, the bartender was the one who survived the longest. He died three weeks later on the road out of the city.

Eine großartige Verknüpfung ist jedoch die Geschichte des titelgebenden Comics Station Eleven, der einen großen Teil der Protagonisten miteinander verbindet. Wer diese Geschichte erfindet und wie sie in die Hände derer gelangt, die sie nach der Katastrophe weiterhin mit sich tragen, ist sehr clever angelegt und war für mich nicht vorhersehbar.

If you are the light, if your enemies are darkness, then there’s nothing that you cannot justify. There’s nothing you can’t survive, because there’s nothing that you will not do.

Wie bei anderen Weltuntergangsgeschichten stellen sich auch hier irgendwann die Protagonisten die Frage, warum manche Menschen überlebt haben und andere sterben mussten. Ein Prophet, der daraus eine Licht-und-Schatten-Situation generiert, fehlt natürlich auch nicht. Die vielen Rückblenden ermöglichen eine überdeutliche Beschreibung des VORHER und NACHHER („the divide between a before and an after, a line drawn through his life“).

Unerwartet kommt auch der Funken Hoffnung, der sich am Ende des Buchs spontan einschleicht.

If there are again towns with streetlights, if there are symphonies and newspapers, then what else might this awakening world contain?

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Erfahrungsbericht

Christine Thürmer – Laufen. Essen. Schlafen

CN dieses Buch: –
CN dieser Post: –


Immer wieder interessiere ich mich ja für temporäre alternative Lebensformen. Hier dreht es sich um das so genannte thruhiking, das Wandern auf der gesamten Länge eines der großen amerikanischen Trails: Pacific Crest Trail, Continental Divide Trail und Appalachian Trail. Die Wandernden sind dabei monatelang unterwegs, die Saison wird von den Wetterverhältnissen begrenzt, daher ist auch eine bestimmte Kilometerzahl pro Tag erforderlich. Die Autorin beschreibt ihre Recherche vor dem Aufbruch und ihre Erfahrungen auf den Trails: die besondere Gemeinschaft unter den Wandernden und die Unterstützung der so genannten trail angels, die den Wandernden unterschiedliche Hilfeleistungen zukommen lassen.

Natürlich ist so eine Wanderung mit diversen Strapazen verbunden: Kälte, Hunger, einseitige Ernährung, Verletzungen und so weiter. Christine Thürmer spart diese Aspekte nicht aus, macht aber deutlich, dass es eher das Gesamterlebnis ist, das unzählige Wanderer auf diese Wege lockt. Und trotzdem hatte ich mir irgendwie mehr erwartet. Vielleicht hätte ich doch lieber Wild lesen sollen …

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English Essays Sachbuch

Olivia Laing – The Trip to Echo Spring

CN dieses Buch: Alkoholismus, Sucht, Suizid
CN dieser Post: Alkoholismus


Olivia Laing habe ich in einem meiner liebsten Buchgeschäfte (Shakespeare and Sons in Berlin) entdeckt, es war ein reiner Spontankauf: The Lonely City. Mit ihrem Roman Crudo konnte ich nicht so viel anfangen, aber ihre Non-Fiction-Texte sind in meinen Augen unschlagbar. Es scheint, egal, mit welchem Thema sie sich befasst, sie findet die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Aspekten und betrachtet die beteiligten Personen mit Empathie, Verständnis und Mitgefühl, jedoch ohne die sprichwörtliche rosarote Brille.

Controlling the imagination is one thing, but what if as well as telling yourself soothing stories you found a substance, a magical substance, that could do it for you, providing what you might call mechanical relief from the mechanical oppressions of modern life? This is the practice Petros Levounis termed self-medication: the use of alcohol to blot out feelings that are otherwise unbearable.

In diesem Buch untersucht sie die Verbindungen zwischen Alkoholkonsum und dem Schreiben anhand der Lebensgeschichten von sechs Schriftstellern, die zu unterschiedlichen Zeiten zwischen 1896 und 1988 gelebt haben. Teilweise ergeben sich dabei natürlich Überschneidungen und Bekanntschaften. Besonders interessant finde ich, dass sich die Autorin den beschriebenen Personen im Rahmen eines Road Trips nähert, der sie auf Umwegen durch die USA führt. Sie besucht dabei Orte, die für die verschiedenen Autoren (ja, leider ausschließlich Männer) von besonderer Bedeutung waren. Zwischen dem tiefen Eintauchen in die Leben und Lebenswerke der Schriftsteller erzählt sie daher auch von ihren Erlebnissen und Begegnungen, von Menschen und Gesprächen, von Beobachtungen und Gefühlen, die ihre Reise prägen. Ein literarischer Road Trip sozusagen. Was Besseres kann es für mich eigentlich kaum geben.

The overwhelming infantile wail of that need need need, too urgent even for punctuation. If you carry that sense of starvation – for love, for nourishment, for security – with you into adulthood, what do you do? You feed it, I suppose, with whatever you can find to stave off the awful, annihilating sense of dismemberment, disintegration, of being torn apart, of losing the integrity of the self.

Auch ein psychologischer Anteil kommt nicht zu kurz. Aus den Biographien und Korrespondenzen der Schriftsteller versucht sie, die Motivationen und Voraussetzungen zu ergründen, die zum Alkoholmissbrauch und schließlich lebensbedrohlichem Alkoholismus führen. Dabei spielen nicht nur genetische Faktoren eine Rolle, sondern auch die soziale Entwicklung im Verlauf der Kindheit. Sie zitiert etwa eine Studie, die einen Zusammenhang zwischen Ergebnissen eines Trauma-Scores und der späteren Wahrscheinlichkeit eines Suchtverhaltens nachweist (Vincent J. Felitti: The Origins of Addiction: Evidence from the  Adverse Childhood Experiences Study).

Later, she [Deborah Kerr in der Rolle der Hannah in The Night of the Iguana] delivers one of the most beautiful lines in all Williams’s work: ‘Nothing human disgusts me unless it’s unkind.’ So much of him is in that statement: tolerant, non-judgmental, determined to drag out into the light all the shameful clutter of psychopathology our species has evolved.

Die besprochenen Autoren waren mir teilweise bekannt (F. Scott Fitzgerald – The Great Gatsby habe ich selbst schon gelesen, A Streetcar Named Desire habe ich in der deutschen Übersetzung Endstation Sehnsucht irgendwann vor langer Zeit im Rahmen des Theaters der Jugend auf der Bühne gesehen, zu Ernest Hemingway gab es in meiner Schulzeit ein Referat über Der alte Mann und das Meer), teilweise kenne ich sie zwar namentlich, aber nicht anhand ihrer Werke (John Cheever, John Berryman, Raymond Carver).

Erläutert wird außerdem das 12-Schritte-Programm von Alcoholics Anonymous. Ich war einigermaßen überrascht, dass diese Organisation bereits 1935 gegründet wurde, sie besteht also schon so lang, dass die jüngeren der hier besprochenen Autoren bereits an Meetings teilgenommen haben. Die Erfahrungen dieser Autoren bilden somit auch einen Einblick in die frühen Jahre dieser Organisation.

Das titelgebende Echo Spring ist übrigens kein Ort im klassischen Sinn, sondern tatsächlich eine Metapher für den Schnapsschrank (im engl. Liquor Cabinet). Olivia Laing wirft in diesem Buch deutlich mehr als einen Blick auf ein schwieriges Thema, das Generationen von Frauen, Männern, Kindern und Familien betrifft. Sie analysiert Mechanismen und stellt schonungslos dar, welche Zerstörungskraft Alkoholmissbrauch und Alkoholismus entfalten können (sowohl auf den Körper der Betroffenen, als auch auf ihren Geist und ihre sozialen Beziehungen). Gleichzeitig lässt sie die Möglichkeit der Gesundung (im engl. recovery) nicht außer acht.

We’re all of us like that boy sometimes. I mean we all carry something inside us that can be rejected; that can look silver in the light. You can deny it, or try and throw it in the garbage, by all means. You can despise it so much you drink yourself halfway to death. At the end of the day, though, the only thing to do is to take a hold of yourself, to gather up the broken parts. That’s when recovery begins. That’s when the second life – the good one – starts. 

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English Roman

Dave Eggers – Heroes of the Frontier

CN dieses Buch: sexuelle Handlungen, Geschlechtsteile
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Courage was the beginning, being unafraid, moving ahead, through small hardships, not turning back. Courage was simply a form of moving forward.

Manchmal weiß ich nicht mehr, warum ich ein Buch überhaupt auf die Liste gesetzt habe. Und hier hatte ich mir irgendwie etwas vollkommen anderes erwartet. The Circle (vom selben Autor) habe ich nur als Film gesehen und hier war ich dann von der Protagonistin Josie und ihren Zweifeln an ihrem Leben und ihren Lebensentscheidungen schon sehr überrascht. In Rückblenden erzählt sie von ihrer Kindheit und der Trennung von ihren Eltern, vom konstant abwesenden Vater ihrer eigenen Kinder, ihrer Karriere als Zahnärztin, die mit einem Rechtsstreit endet. Ihr Leben scheint eine Abfolge von schwierigen Situationen zu sein, unterbrochen nur durch kurze Momente der Ruhe, in denen sowas wie Hoffnung aufkommen kann.

Genau dasselbe passiert auch auf der Reise durch Alaska, die in der Jetzt-Zeit des Buchs stattfindet. Mit ihren Kindern Paul und Ana stolpert Josie von einem holprigen Tag in den nächsten. Auf den letzten Seiten fing ich langsam an, mich zu fragen, wie dieses Buch nur zu einem halbwegs erträglichen Ende kommen kann. Dann war ich kurz enttäuscht über den vermeintlich letzten Satz. Und dann kam noch ein Kapitel mit nur einem einzigen Satz. Der hat mich dann wieder mit dem Buch (und dem Leben) versöhnt. Ein schöner Blick auf unsere Zweifel an uns selbst und an unseren Entscheidungen. Und ein Aufruf, niemals aufzugeben und immer weiter zu gehen.

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English Roman

Elizabeth Strout – Olive, Again

CN dieses Buch: Suizid, Sterben
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People either didn’t know how they felt about something or they chose never to say how they really felt about something. And this is why he missed Olive Kitteridge.

Da mir das erste Buch mit Geschichten um Olive Kitteridge so gut gefallen hat, und gerade auch wirklich eine Zeit für diese Art von Lektüre ist, habe ich mir gleich das zweite Buch ausgeliehen. Und bin jetzt schon traurig, dass es vermutlich kein weiteres Buch mehr mit ihr geben wird.

This is a hell of a world we live in. […]
Such a simple statement, but it was completely true.

Zu beschreiben, warum diese Geschichten so beruhigend auf mich wirken, ist mir schon beim ersten Buch nicht gut gelungen. Jetzt, wo sich die Leserin mit der Sprödigkeit und dem Unverständnis von Olive für bestimmte Lebenshaltungen und Werte akklimatisiert hat, kommt allerdings noch mehr zum Tragen, was sie eigentlich auszeichnet. Sie kann die wahre Traurigkeit in den Menschen, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden, wahrnehmen und bestätigen. Gleichzeitig ist ihr aber vollkommen unklar, was mit der Beziehung zu ihrem eigenen Sohn und seiner Familie nicht stimmt.

For a long time, Olive sat on the bed; she was just looking through the glass at the dark field. It seemed to her she had never before completely understood how far apart human experience was.

Am meisten berührt hat mich die Geschichte mit der Poetin Andrea. Olive führt mit ihr im Diner ein spontanes Gespräch über die Einsamkeit, hauptsächlich über Andreas einsames Leben aufgrund ihrer relativen Berühmtheit. Andrea veröffentlicht später ein Gedicht, das Olive zwar nicht beim Namen nennt, aber so deutlich beschreibt, dass es eindeutig ist, wer gemeint ist. In dem Gedicht schreibt Andrea Olive die gesamte Einsamkeit zu. In der Reflexion über dieses Gespräch (aus der auch das obige Zitat stammt) scheint Olive erst wirklich klar zu werden, wie unterschiedlich menschliche Empfindungen und Wahrnehmungen sein können. Sie lernt aus diesem Gespräch. In vieler Hinsicht steht Olive fest zu ihrer Meinung und lässt diese auch durch nichts und niemanden erschüttern. Aber dort, wo es um tief gehende menschliche Emotionen geht, dort kann sie und dort können wir alle immer noch etwas lernen.

You all know who you are. If you just look at yourself and listen to yourself, you know exactly who you are. And don’t forget it.

In einer anderen Geschichte erzählt eine ehemalige Schülerin von Olive, wie ihnen die Lehrerin Mrs. Kitteridge damals den Rat gegeben hat, nur auf sich selbst zu hören. Wir wissen bereits, wer wir sind, wir müssen uns nur die Zeit nehmen, auf uns selbst zu hören und uns nicht ablenken lassen von den Erwartungen der Gesellschaft oder dem, was andere Menschen für oder von uns wollen. Ein wunderbarer Rat für junge Menschen, aber auch für ältere Semester, die sich ihres Weges nicht mehr sicher sind.

Brené Brown schließt ihren Podcast Unlocking Us meistens (immer?) mit diesem Satz:

Stay awkward, brave and kind.

Genau das sehe ich in Olive Kitteridge. Genau das würde ich mir wünschen, in mir selbst und in anderen Menschen zu sehen.

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English Roman

Elizabeth Strout – Olive Kitteridge

CN dieses Buch: Suizid, Sterben
CN dieser Post: –


Stupid – this assumption people have, that things should somehow be right.

Zu Beginn weißt du nicht, was du mit dieser Protagonistin anfangen sollst. Sie ist augenscheinlich kein sympathischer Mensch. Olive ist ungeduldig, direkt und verständnislos gegenüber Gejammer oder alltäglichen Sorgen. Sie erscheint harsch und spröde; die Bekannten aus der Kleinstadt fragen sich, wie ihr Mann es mit ihr aushält. (Tatsächlich hält er es nicht mit ihr aus, er akzeptiert und liebt sie einfach so, wie sie ist.)

Who, who, does not have their basket of trips? […] She thinks of Eddie Junior down there skipping stones, and she can only just remember that feeling herself, being young enough to pick up a rock, throw it out to sea with force, still young enough to do that, throw that damn stone.

Und doch ist Olive genau dann verständnisvoll, wenn ihre Mitmenschen in Notlagen sind. Dann kann sie schlicht die Situation anerkennen (so, you’re in hell). Was in solchen Situationen schon oft das Einzige ist, was wir für die Menschen, die da gerade durch müssen, tun können: anerkennen, dass sie gerade das Schlimmste erleben und mit ihnen in diesem Schmerz bleiben.

One afternoon as she was typing, her hand began to shake. When she held up her other hand, it was shaking too. She felt the way she had on the Greyhound bus that weekend Jace had told her about the blonde, when she kept thinking: This can’t be my life. And then she thought that most of her life she had been thinking: This can’t be my life.

Gleichzeitig ist das Buch eine Hymne an das Leben. Eine Aufforderung, unsere Zeit nicht zu verschwenden an Menschen, die uns nicht gut tun. Ein Aufruf, nicht aufzugeben, niemals das Leben einfach nur vorbeiziehen zu lassen, so schwer es manchmal auch sein mag.

Ich könnte noch mehr schreiben, aber das würde diesem Buch nicht gerecht. Wem das nicht reicht: The 2009 Pulitzer Prize Winner in Fiction. 

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English Roman

Elizabeth Gilbert – City of Girls

CN dieses Buch: Krieg
CN dieser Post: –


What we’re doing here tonight doesn’t matter a bit in the cruel scheme of the world, but we’re doing it anyhow. Make it worth your while.

Ein wunderschöner Roman. Am ersten Teil, der im Rahmen eines etwas heruntergekommenen New Yorker Theaters stattfindet, hat mir besonders der Bezug zur Theaterwelt so gut gefallen. Die liebevolle Arbeit der Erzählerin Vivian an den Kostümen der Darsteller*innen des Lily Playhouse fühlte sich ähnlich an wie die Faszination an außergewöhnlichen Kleidungsstücken von Louisa in Still Me, die Kreativität ließ mich an Emi aus Nina LaCours Everything Leads to You denken, die mit einem ähnlichen Perfektionsanspruch an der Gestaltung von Filmsets arbeitet.

Eventually, all of us will be called upon to do the thing that cannot be done.

Kurz nach der Premiere kommt es jedoch zu einer Katastrophe. Vivian stolpert in eine Situation, die ihrer Kontrolle entgleitet und muss sich mit allen Konsequenzen auseinandersetzen, die ihr Fehlverhalten nach sich zieht. Sie verlässt die Stadt und lässt damit nicht nur die geliebten aber verletzten Personen, sondern auch ihre sich entwickelnde Persönlichkeit zurück.

The war had invested with me an understanding that life is both dangerous and fleeting, and thus there is no point in denying yourself pleasure or adventure while you are here.

Der Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 bringt neben dem Kriegseintritt der USA schließlich auch Vivian zurück nach New York City. Von nun an entwickelt sich ihr Leben in eine andere Richtung, sie arbeitet hart, lässt den hedonistischen Teil ihrer Persönlichkeit zu großen Teilen in der Vergangenheit zurück und wächst Stück für Stück an ihren feministischen Perspektiven auf das Leben. Der Roman porträtiert mehrere Frauen, die ein damals zur Zeit des 2. Weltkriegs selbst im liberalen New York nicht akzeptiertes Lebensmodell für sich wählten.

Nor did the threat of danger ever deter me. These were risks I was willing to take. It was more important for me to feel free than safe.

Dass sich diese Umstände in unserer westlichen Gesellschaft in den vergangenen 80 Jahren geändert haben, soll uns nicht darüber hinweg täuschen, dass in vielen anderen Ländern und Kulturen Frauen immer noch als minderwertig betrachtet werden und wesentlich weniger Rechte und Freiheiten in ihrem Leben haben. In Saudi-Arabien dürfen Frauen erst seit 2019 Auto fahren. Homosexualität ist im Iran (und vielen anderen Ländern) nach wie vor strafbar. In diesen Ländern sind Frauen (unabhängig von ihrer Religion) verpflichtet, ihr Kopfhaar zu bedecken. In Österreich gilt umgekehrt ein Verbot der Gesichtsverhüllung, was irgendwie genauso widersinnig der Freiheit im öffentlichen Raum widerspricht.

Seit 1. Oktober 2017 gilt in ganz Österreich ein Verbot der Gesichtsverhüllung. Das Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz soll u.a. zwischenmenschliche Kommunikation ermöglichen, die für ein friedliches Zusammenleben in einem demokratischen Rechtsstaat erforderlich ist.

In der aktuellen Situation sind unsere Freiheitsrechte sowieso noch mehr in Gefahr, als das sonst schon der Fall ist. Mit der Notwendigkeit des gesundheitlichen Schutzes von Menschen(-gruppen) lassen sich viele Maßnahmen argumentieren, gegen die wir unter anderen Umständen jedenfalls lauter protestieren würden. Verlieren wir nicht aus den Augen, welche Rechte uns gerade entzogen werden, damit wir sie später zurückfordern können.

Randnotiz: Wer sich für Frauenrechte und feministische Perspektiven interessiert, der*dem sei herzlich der Lila Podcast empfohlen.