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Roman

André Pilz – Die Lieder, das Töten

Man hat mir oft gesagt, ich sei ein Gerechtigkeitsfanatiker. Ich sei rachsüchtig, wenn ich mich ungerecht behandelt fühlte. Ich war nie so dumm zu glauben, die Welt wäre schwarz und weiß, es gäbe keine zwei Seiten einer Geschichte. Manchmal aber klaffen das vermeintlich Gute und das vermeintlich Böse so weit auseinander, dass man dem Bösen mit allen Mitteln und Waffen entgegentreten muss, egal, welche Opfer es erfordert.

Ein Endzeit-Katastrophen-Roman. Die Inspiration ist deutlich abzulesen. Über zwei Jahre ist es her, dass im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi eine Unfallserie zum Austritt von radioaktiver Strahlung und in weiterer Folge zur Evakuierung und späteren Umsiedlung von über 50.000 Menschen aus der betroffenen Region führte. Auch ich habe damals vor dem Fernseher geklebt und versucht, abzuschätzen, was dieser Unfall für Langzeitfolgen haben wird. Nicht nur für die Menschen in Japan, sondern auch politisch, für die Zukunft der Kernkraft an sich. Wie zu erwarten war, ist seitdem nicht viel passiert. In Europa werden nach wie vor neue Kernkraftwerke gebaut, auch über das direkt an der tschechisch-österreichischen Grenze gelegene Kraftwerk Temelin, das immer wieder wegen mangelhafter Sicherheitsmaßnahmen und der Anrainerproteste in den Medien war, hört man schon länger nichts mehr.

Nie in meinen sechsundzwanzig Jahren zuvor hatte ich mich verlorener gefühlt als in jener Nacht. Diese Einsamkeit, diese Traurigkeit, diese Müdigkeit waren jenseits von allem, was ich mir jemals vorstellen hatte können. Die Einsamkeit hatte mich mein Leben lang begleitet. Sie war immer da. Selbst in wilden Nächten mit wilden Küssen. Nie konnte ich sie vernichten, nie konnte ich ihr entkommen, sie vergessen.

André Pilz hat sich eine fiktive Atomkatastrophe in einem deutschen Kernkraftwerk als Setting für seine Dystopie gewählt. Stück für Stück erhüllt er das Ausmaß der Katastrophe. Eine Explosion hat „roten Regen“ auf die Region niedergehen lassen, wer im „roten Regen“ war, hat mutmaßlich nicht mehr lange zu leben, viele Betroffenen erkranken und sterben bereits in den ersten Tagen. Wer überlebt, lebt in ständiger Angst vor dem nahenden Tod. Vor der Krankheit, vor dem Dahinsiechen. Die Angst vor dem Unvermeidlichen, dem Sterben, ist ein wiederkehrendes Thema. Gestorben wird reichlich, und bei Weitem nicht nur direkt wegen der Atomkatastrophe.

Nicht einmal Selbstmörder wollen sterben. Sie ertragen nur das Leben nicht mehr.

Wir verfolgen Ambros durch die Sperrzone. Er war im „roten Regen“ und hat wenige Tage danach seine Freundin Mona sterben sehen. Das verseuchte Gebiet wurde von der Regierung und den verantwortlichen Instanzen zum Sperrgebiet erklärt. Wer sich dort aufhält, muss damit rechnen, von den Soldaten gejagt und festgenommen zu werden. Direkt am Reaktor arbeiten Ausländer. Hoffnungslose Männer, die hoffen, mit dem Geld, das sie durch diese gefährliche Arbeit verdienen, ihre Familien retten zu können.

Vielleicht hatte es mit ihrem Wesen zu tun, mit ihrer Stimme, ihrem Lachen, ihren Haaren, mit dem, was sie sagte. Das machte sie sexy und unwiderstehlich. Sie war einer von den Menschen, bei denen man spürte, dass sie da waren, dass sie lebten, jetzt und hier, dass sie wie kleine Kinder waren, so neugierig und voller Lust auf Neues, kleine Wirbelstürme. Lucy war da, irgendetwas brannte in ihr, vielleicht zu heftig und zu schnell, aber es griff über, sobald man in ihrer Nähe war.

Auch die Latina Lucy ist in der Sperrzone, um ihre Familie zu retten. Als Frau erfüllt mich die Härte, die dieses Mädchen an den Tag legt, mit Unbehagen. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie man selbst in so einer Situation reagieren würde. In einer anarchistischen Welt, in der der Stärkere gewinnt, ist man als Frau automatisch benachteiligt. Kein Wunder, wenn sich die Überlebenden dann ein Maschinengewehr umhängen und um ihr Leben kämpfen. Ich weiß nicht, ob ich das tun könnte. Die Frage, was würde man selbst tun in so einer Situation, schwingt auch durch das ganze Buch ständig immer wieder mit.

„Schau den Himmel an, friss den Himmel, friss die Bäume, die Wiesen, friss den Sommer, trink die Flüsse, die Bäche, die Seen, trink meinen Saft, lebe, verdammt noch mal, tenés que vivir, tanto como sea posible.“

Ist es die Angst vor dem Tod oder der unzerstörbare Wille zum Leben, der Ambros und Lucy antreibt? Sie können nicht ehrlich zueinander sein, denn beide haben Angst, ihre Aufgabe nicht erfüllen zu können. Obwohl sich unter diesen unwahrscheinlichen und ungünstigen Umständen Gefühle zwischen ihnen entwickeln, ist nie ganz klar, ob es sich dabei wirklich um Liebe handelt oder mehr eine Art Verzweiflung. Verzweiflung, Einsamkeit, nicht allein sein wollen, gerade in einer Welt, die so kaputt und aussichtslos ist.

Als das Leben noch normal war, als so was wie Alltag noch existierte und noch fast niemand in Europa den Ort kannte, an dem eine der größten Katastrophen in der Geschichte Europas stattfinden würde, als nicht alles durcheinander und Chaos war, gab es Bücher und Lieder, die mich bewegten, Filme, die mir das Gefühl gaben, lebendig zu sein. Das alles war aufregend, und manches habe ich als groß empfunden, aber gegen den Schmerz, den man manchmal fühlen kann, wird alles klein, wird alles nichtig.

Ambros ist im Auftrag des Militärs in der Sperrzone. Der Marschall hat ihn beauftragt, den Rebellenführer Strasser zu finden und zu töten. Warum, bleibt ein Geheimnis. Politische Wirren stecken hinter diesem Auftrag. Will der Marschall in Wirklichkeit einen Aufstand der Rebellen in der Sperrzone provozieren, um sie dann mit Genehmigung der Regierung und der Bevölkerung vernichten zu können? Lucy hingegen versucht, das Geld aus dem verschwundenen Geldtransporter aus der Zone zu schaffen. Für ihre Familie. Und die Familien ihrer toten Freunde. Kann in dieser Welt noch irgendetwas gelingen?

Kein Buch, kein Film, kein Lied, kein Wort, keine Droge ist so groß, wie Schmerz sein kann. Nichts wird ihm gerecht, kann es mit ihm aufnehmen. Nichts kann ihn betäuben. Er ist eine Urgewalt, vor der alles und jeder in die Knie geht.

Der Leser sieht Ambros zusehends verfallen. Bereits zu Beginn des Romans kann er ohne Schmerztabletten kaum auskommen. Seine Sucht streckt ihn zusehends nieder. Was soll es auch noch bedeuten? Warum noch darüber nachdenken? Wenn die Welt so schlecht ist, dass sie sich nicht mehr aushalten lässt, was sollte man auch sonst tun?

„What matters most is how well we walk through the fire. Weil sich der Wind irgendwann dreht. Und er dreht sich immer. Immer, hörst du? Das ist ein ewiges Gesetz der Natur.“

Auch Ziele werden in dieser Extremsituation zusehends unwichtig. Alle schlechten Seiten des Menschen treten zutage. Und zwar nicht nur in der Sperrzone, sondern auch bei den Politikern außerhalb, wie wir an der Rolle des verrückten und korrupten Marschall deutlich sehen können. Jeder kann nur noch auf das eigene Überleben schauen. Jeder muss an seine Grenzen gehen. Oder diese überschreiten. Es scheint, als ob jeder irgendein Ziel verfolgt, obwohl alle Ziele in so einer Situation sinnlos zu werden scheinen.

Eine Melodie kann dich davontragen, dich weit wegnehmen aus dem Hier und Jetzt. Kann dein Herz packen und mit ihm machen, was sie will.

Wir sehen Ambros scheitern. Und hoffen, dass die heute Verantwortlichen in den Regierungen Europas und der Welt umdenken und sicherstellen, dass eine Katastrophe wie Tschernobyl oder Fukushima nie wieder passiert.

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Reise Roman

Edgar Rai – Nächsten Sommer

„Was du nicht begreifst, Bernhard, und vermutlich nie begreifen wirst, ist, dass Gefühle ihren eigenen Verstand besitzen.“

Sommerbücher müssen her. Oh, ein Roadmovie, also ein literarisches. Das nehm’ ich. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Roadmovies. Die große Freiheit, das Unterwegs-Sein, mit Freunden die Welt entdecken hat schon immer einen besonderen Reiz auf mich ausgeübt. Vermutlich schon allein deshalb, weil ich mich unterwegs nie so fühle wie die Menschen in den Büchern und Filmen … es ist mehr ein Zustand des entspannten Reisens, den ich gern mal erreichen würde. Leider bin ich auf Reisen nie entspannt. Ständig muss man Entscheidungen treffen, was man als Nächstes macht, wo man essen geht, was man essen soll, wo man überhaupt als Nächstes hingeht … das alles ohne die vertrauten Anhaltspunkte des eigenen Goldfischglases. Verstärkt wird das Ganze noch im Ausland ohne entsprechende Sprachkenntnis. Erst kürzlich in Italien erlebt … keine entspannte Reise.

Umso mehr genieße ich dann das mehr oder weniger entspannte Reisen der vier Freunde, die sich aufmachen, weil Felix von seinem Onkel dessen Haus in Südfrankreich geerbt hat. Spontan beschließen sie die Reise. Spontan stößt die spröde Lilith zu ihnen. Spontan springen sie in einem Canyon in einen Bergsee, aus dem sie dann nur mit knapper Not vom Macho Jürgen gerettet werden. Turbulent geht die Reise weiter, alle Beteiligten lernen dabei etwas über’s Leben. Felix arbeitet die schwierige Beziehung zu seinem Vater auf, das Endergebnis ist ein Schach-Showdown um das Haus.

Ein herrliches Roadmovie. Man möchte sich sofort selbst mit Freunden in einen klapprigen Bus setzen und einfach losfahren. Da es in echt sowieso nie so schön ist, wie man es sich vorher ausgemalt hat, kann man auch gleich zuhause bleiben und lieber ein gutes Buch genießen. Oder?

Love is the answer, at least
For most of the questions of my heart.

Why are we here, and where do we go,
And how come it’s so hard?

(Jack Johnson)

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Roman

John Irving – Letzte Nacht in Twisted River

Vielleicht trug dieser Moment der Sprachlosigkeit dazu bei, dass Daniel Baciagalupo Schriftsteller wurde. Diese Momente, in denen man weiß, dass man etwas sagen sollte, einem die richtigen Worte aber nicht einfallen – als Schriftsteller kann man diesen Momenten nicht genug Bedeutung beimessen.

Es ist ein raues Pflaster. Das Holzfällerörtchen Twisted River, in dem der Koch Dominic mit seinem Sohn Danny lebt. Aus ihrem beschaulichen Leben im Kochhaus wird jedoch eine lebenslange Flucht, nachdem der 12-jährige Danny versehentlich die Geliebte seines Vaters mit einer Bratpfanne erschlägt, weil er sie für einen Bären hält. So absurd, dass es schon wieder zu gut erfunden ist …

Pläne, Pläne, Pläne – wir schmieden Pläne für die Zukunft, als würde diese Zukunft garantiert eintreffen!

Mehrmals bauen sich Danny, der unter einem Pseudonym zum Bestsellerautor wird, und sein Vater Dominic eine neue Existenz auf. Auf der Flucht vor dem Cowboy, der sich wegen des Todes der Indianerin an Dominic rächen will, müssen beide Frauen zurücklassen und immer wieder ihre Heimat aufgeben. Letztendlich landen sie sogar außer Landes – in Toronto, wo sie der Cowboy dann doch noch aufspürt. Gerade auf den Fersen des alten Freundes Ketchum, der die beiden stets zu ihrer Sicherheit außerhalb der USA sehen wollte.

Wie passend, dass die sterblichen Überreste eines Kochs in einer Dose Arnes’ New York Steak Spiee untergebracht waren! Dominic Baciagalupo, dachte sein Sohn, der Schriftsteller, hätte sich darüber womöglich köstlich amüsiert.

Es ist schwierig, diese Geschichte zusammenzufassen, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt. Sie erzählt den größten Teil von Dannys, Dominica und Ketchums Leben und auch viele Geschichten zu den Personen, die ihnen auf ihrem Weg begegnen und sie ein Stück begleiten. Ich kann noch immer nicht identifizieren, wieso mich diese Geschichte deutlich kälter gelassen hat, als etwa Gottes Werk und Teufels Beitrag oder Bis ich dich finde. Die großen Lebensthemen bleiben nicht aus. Auch Bezüge zu geschichtlichen Ereignissen wie dem Vietnamkrieg verdeutlichen die Zeitebenen und zeichnen beinahe wie nebenbei ein Bild der amerikanischen Gesellschaft. Trotzdem glänzen die emotionalen Beziehungen von Dominic und Danny durch Abwesenheit gerade der großen Emotionen. Der Fokus liegt eindeutig auf den Vater-Sohn-Beziehungen. Und trotzdem freuen wir uns über den nochmaligen Auftritt der Heldin Lady Sky …

So versuchen wir unsere Helden am Leben zu erhalten; deshalb erinnern wir uns an sie.

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Roman

Jojo Moyes – Ein ganzes halbes Jahr

Es ist einfach diese Sache, die man am Muttersein erst versteht, wenn man eine ist: Man sieht nicht den erwachsenen Mann vor sich – den unrasierten, stinkenden, rechthaberischen Sprössling –, mit seinen Strafzetteln, ungenutzten Schuhen und einem komplizierten Liebesleben. Sondern man sieht all die Menschen, die er je war, in einem.

Ein spontaner Kindle-Buch-Kauf ließ mich zu diesem Roman aus der aktuellen Bestenliste greifen. Ich gestehe: ich hoffte wiederum auf einen belanglosen Liebesroman (das Cover schaut aber auch dermaßen schmetterlingsmäßig verliebt aus …) Natürlich kam es wiederum anders. Schnell wurde mir klar, dass hier ernste Themen behandelt werden. Auf eine gute und verständliche Art.

Louisa hat schon genug eigene Probleme. Sie unterstützt ihre Eltern und ihre alleinerziehende Schwester durch ihr Einkommen im Café. Als sie diesen Job überraschend verliert, steht sie hilflos da. Keine Ausbildung, kein Job in ihrer Kleinstadt, den sie machen könnte. Doch dann wird sie von der reichen Mrs. Traynor als eine Art Gesellschafterin für ihren Sohn eingestellt. Will sitzt seit einem schweren Unfall im Rollstuhl und kann sich kaum noch bewegen, muss rund um die Uhr betreut werden. Und hat jeden Lebenswillen verloren. Nach einem schwierigen Start finden die beiden einen Zugang zueinander. Bis Louisa zufällig mitbekommt, dass Will bereits einen Termin in einem Zentrum für Sterbehilfe hat. 6 Monate hat er seiner Familie versprochen, zu warten.

Es war, als hätte sich alles verschoben, sei zersplittert und hätte sich zu einem anderen Muster zusammengefügt, das ich kaum wiedererkannte.

Es ist der lockere Ton, die Klassenunterschiede, der Zynismus, mit dem Will und Louisa die Welt betrachten, der das Buch nicht in die Traurigkeit und die Aussichtslosigkeit ihrer beider Situation abgleiten lässt.

Bei den Hochzeiten, zu denen ich normalerweise ging, mussten die Familien der Braut und des Bräutigams getrennt sitzen, weil die Gefahr zu groß war, dass sonst jemand gegen Bewährungsauflagen verstieß.

Louisa stellt sich schließlich der Aufgabe, Will von seinem Plan abzubringen. Will selbst findet eine Beschäftigung darin, Louise herauszufordern. Dass sie ihre Stadt nie verlassen hat und ziellos durchs Leben geht, kann er nicht akzeptieren. Sie schließen Freundschaft. Louisa hat Hoffnung, Will findet stückweise wieder Gefallen am Leben und scheint sich besser und aktiver zu fühlen.

Zum ersten Mal in meinem Leben versuchte ich, nicht über die Zukunft nachzudenken. Ich versuchte einfach nur zu sein, die Empfindungen dieses Abends durch meinen Körper wandern zu lassen.

Mich hat sehr berührt, wie einfühlsam die Autorin Louisas Unsicherheit beschreibt. Sie fragt sich ständig, ob sie wohl das Richtige tut. Obwohl sie eine selbstbewusste Person mit ausgefallenem Kleidungsstil ist (die Bienenstrumpfhosen sind ein wundervolles Symbol), zweifelt sie ständig an sich selbst. An ihrer Persönlichkeit, an ihren Fähigkeiten, ob sie das Richtige tut. Eine Antwort erhält sie natürlich nicht. Denn man kann bekanntlich nie wissen, ob man das Richtige tut. Man kann nur tun, was man im Moment für das Richtige hält und hoffen, dass es das Richtige war oder dass es sich später irgendwie korrigieren lässt.

Richtig gepackt hat mich die Geschichte aber erst gegen Ende. Doch dann bin ich einen ganzen Tag lang im Büro gesessen mit dem Gedanken, „ich will in mein Buch zurück“. Es gab noch einen anderen Gedanken, der mich an diesem Tag gepackt hielt, aber er war bei weitem nicht so hartnäckig, wie die Frage, wie es mit Louisa und Will weitergehen wird. Es ist schwierig, einen Abschlusssatz zu finden, der nichts über das Ende verrät. Daher muss ich mit einer Plattitüde schließen: Es gibt Hoffnung. Auch in den dunkelsten Momenten unseres Lebens.

Du sollst ein unerschrockenes Leben führen. Fordere dich heraus.

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Roman

E. L. Doctorow – Ragtime

Wenn du sie wiederfindest, wirst du ehrlich mit ihnen verkehren können, als die Person, die du wirklich bist. Und wenn du sie nicht findest, dann ist es vielleicht so am besten.

Sie wird sie nicht wiederfinden. Soviel sei vorab gesagt. Denn sie ist nur eine Nebenfigur in diesem großen amerikanischen Roman. Hier möchte ich wiederum die Geschichte erzählen, wie ich an dieses Buch geraten bin. Das Musical Ragtime, das auf diesem Buch basiert, erlebte 2009 ein Revival am Broadway, möglicherweise wurde auch die Produktion beim Shaw Festival 2012 im Musical-Fachmagazin lobend erwähnt, jedenfalls hatte mich eine Rezension neugierig gemacht. Das Buch fiel mir dann ebenfalls auf spezielle Weise zu: zu Weihnachten hatte ich Geschenkgutscheine vom Arbeitgeber erhalten und den Vorsatz gefasst, diese im lokalen Buchhandel auszugeben. Also führte mich ein Hundespaziergang am Samstag Vormittag in den lokalen Buchhandel, wo ich dann viel zu schnell dieses sowie ein weiteres Buch in der Hand hatte. Dann stand es wie gewohnt ein paar Monate im Regal und schien mir nun als Kontrapunkt für den Urlaub zu passen.

Sie waren überzeugt, sie würden auf spektakuläre Weise sterben. Diese Überzeugung verlieh ihnen ein dramatisches, exaltiertes Selbstbewusstsein.

Nach der Lektüre ist mir weiterhin schleierhaft, wie jemand auf die Idee kommen konnte, daraus ein Musical zu machen. So verzweigt ist die Geschichte, so viele Personen mit unterschiedlichen Motiven, deren Lebensgeschichten sich nur streifen. E.L. Doctorow lässt viele historische Persönlichkeiten wie den Entfesselungskünstler Harry Houdini oder die feministische Anarchistin Emma Goldman den gesellschaftlichen Rahmen für seine Revolutionsgeschichte bilden.

Verbindendes Motiv der handelnden Personen ist der Glaube an die Gerechtigkeit bzw. das Streben danach sowie der Glaube an die Wahrheit und Richtigkeit der eigenen Motive. Sowohl Coalhouse Walker, der schließlich sein Leben für seine Vorstellung von Gerechtigkeit opfert als auch der jüngere Bruder, der nach seinem erfolglosen Liebesstreben nur in der Revolution Wahrheit finden kann, stehen so fest auf ihren Grundsätzen, wie man es sogar im Roman selten erlebt.

Ihre Sache hatte ihr Denken entstellt. Sie wollten an den Grundfesten der Welt rütteln. Eine Armee Gründen! Sie waren nichts anderes als schmutzige Revolutionäre.

Kein Wunder, dass disses Buch jahrzehntelang auf der Liste 100 best English-language novels of the 20th century stand. Erwähnte ich bereits, dass ich immer wieder feststelle, dass amerikanische „Schullektüre“ mir viel zu oft besser gefällt als das, was ich in der Schule lesen musste. Was hatte ich mich damals mit Herrenjahre (Gernot Wolfgruber) gequält und geärgert … rückblickend betrachtet muss ich natürlich zugeben, dass ich damals auch mit Der Fänger im Roggen nichts anfangen konnte. Liegt es an der Auswahl unserer Lehrer? Oder am mangelnden Angebot an moderner österreichischer bzw. deutschsprachiger Literatur? Kann Literatur nur entweder unterhaltend ODER bildend sein? Womit wir nahezu zurück beim Musical wären …

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Roman

Natasa Dragnic – Jeden Tag, jede Stunde

Und kein Regenbogen ist in Sicht. Und keine roten Zauberschuhe. Und keine böse Hexe ist tot. Weder im Osten noch im Westen.

Well, my own fault. Da wollte ich mir für den Urlaub eine nette Liebesgeschichte raussuchen (Deja-vu, anyone?) und habe wieder etwas ganz anderes bekommen. Naja, nicht ganz anders, aber zumindest nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte …

Vor allem tut sie aber das, was sie in sich trägt, was sie erfüllt, was in jedem ihrer Atemzüge steckt. Sie muss sich nicht anstrengen, um die erwünschten Gefühle in sich zu finden, sie muss sich allerdings äußerst bemühen, sie in sich zu behalten, sie nicht alle auf einmal herauszulassen, sie unter Kontrolle zu haben und nur tropfenweise zu offenbaren.

Unter Kontrolle … wenn man diesen Roman liest, wird man feststellen, dass es manchmal nicht das Richtige ist, sich unter Kontrolle zu haben. Das Schwierige ist nur, die Momente zu erkennen, in denen es sich lohnt, den Rest der Welt zu vergessen und nur das zu tun, was einem gerade als richtig erscheint, ohne an die Konsequenzen zu denken. Wenn man diese Momente falsch wählt, kann dies zu Enttäuschung und jahrelangem Leid führen. Ein Wunder, dass doch jeden Tag Entscheidungen fürs Leben getroffen werden. Man könnte meinen, man kommt besser davon, wenn man sich die Entscheidungen erspart …

Als Dora tief in der Nacht ihres ersten großen, richtigen Erfolgs am Fenster ihres dunklen Wohnzimmers steht und die Lichter der Stadt, die ihr Zuhause ist, beobachtet, trifft sie unerwartet eine Entscheidung. Sie ist selbst überrascht. Es war ihr nicht klar, dass es etwas zu entscheiden gab, denn alles war schon entschieden.

Alles, was ich über den Inhalt des Buches sagen könnte, erscheint mir banal. Ja, es ist eine große Liebesgeschichte. Dora und Luka lernen sich als Kinder kennen und kleben fortan wie zu lange gekochte Nudeln aneinander. Doch Dora muss mit ihren Eltern nach Frankreich ziehen, Luka bleibt allein zurück und muss seine Mutter sterben sehen und seiner Schwester beim Erwachsenwerden helfen. Als sie sich nach vielen Jahren in Paris wiedertreffen, ist klar, dass es mehr als nur eine Jugendliebe ist.

Warten ist alles, was sie jetzt tun kann. Warten, dass das Leben sie wiederfindet. Das könnte allerdings eine Weile dauern, denn sie hat sich gut versteckt.

Jede Trennung fühlt sich für Dora und Luka wie das Ende des Lebens an. Doch Luka heiratet aus Verantwortungsgefühl eine andere Frau. Nichts, was man nicht bereits tausend Mal gehört oder gelesen hätte. Doch gerade hier erscheint es wieder wie ein einziger großer Fehler. Natürlich werden beide nicht glücklich. Luka verleugnet seine Gefühle für Dora aus Pflichtgefühl, kann jedoch nicht voll für seine Familie da sein und ertränkt seinen Kummer in Alkohol.

Luka kann die Verachtung, die er sich selbst gegenüber spürt, nicht verstecken. Dora hält ihn fest. Sie ist erschüttert, kann nichts sagen. Ein Leben, das mit aller Kraft versucht, sich zu vernichten. Dora ist nach Schreien zumute. So viel Verleugnung und Verschwendung und Selbstbestrafung – und ohne jeden Grund.

Das Happyend bleibt aus. Im Urlaub bin ich übrigens nicht dazu gekommen. Harry Hole hielt mich 3 Tage lang in Atem, den Rest des Urlaubs habe ich mit E.L. Doctorow und leichter Magazinkost verbracht. Weit und breit kein Happy End in Sicht. Eventuell muss ich doch wieder mal auf Susan Elizabeth Phillips zurückgreifen, um mein Bedürfnis nach Liebesschund zu befriedigen … scheint mehr als nur eine Phase zu sein …

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Krimi Roman

Jo Nesbo – Kakerlaken

Das hat er mir selber gesagt. Dass er das Risiko hast, dass er nicht spielt, wenn er sich nicht sicher ist, zu gewinnen.

Für den Urlaub musste „leichte Kost“ her. Als so leicht erwies sich der zweite Fall von Harry Hole dann jedoch gar nicht. Was mit dem Mord an einem Botschafter beginnt, erweist sich schließlich als kompliziertes Ermittlungsgeflecht im Bereich der Kinderpornografie, natürlich wieder mit einem Showdown am Ende.

In nur drei Tagen war ich durch, ich glaube, so schnell hab ich schon lang kein Buch mehr durchgelesen. Aber wozu soll Urlaub sonst da sein? Naja, wir haben immerhin auch Geocaches in drei Ländern gehoben (darunter alle 7 Caches in San Marino an einem Tag). ;-)

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Roman

A. L. Kennedy – Das blaue Buch

Doch euer jeweiliges Selbst ist verschmolzen, verwischt, verbunden. Er hat ein vereintes Begehren aus dir gemacht, ein Stück Verzweiflung, nur durchs Dasein und Existieren – mühelos.

Da liest man den Klappentext. Man meint sich an ein anderes Werk der Autorin zu erinnern (mein Blog spuckt nichts aus und auch die Titel laut Wikipedia sagen mir nichts) und erwartet sich eine Lovestory, etwas Entspannendes für zwischendurch. Und wird enttäuscht. Aber auch nicht.

Das mag dir hässlich und unangenehm vorkommen, fremd – denn du besitzt Integrität, Unehrlichkeit passt einfach nicht zu dir, wie könnte sie auch? Aber kein Mensch nimmt es immer ganz genau, ist unablässig tapfer: Du kannst dich von diesem oder jenem Rand der Wahrheit abschrecken lassen – so wie jeder.

Anstatt einer entspannenden Kreuzfahrt-Liebesgeschichte bekomme ich also ein komplexes Psychogramm inkl. Rückblick in die Kindheit zwecks Ergründung der Entstehung der Persönlichkeitszüge der beteiligten Erwachsenen. Nicht erwartungsgemäß. Bis zum Schluss bleibt unklar, wem die Geschichte im blauen Buch erzählt wird. Es scheint stets ein Außenstehender zu sein. Der in der Geschichte noch nicht vorkam. Ein Irrtum.

Ich versuche nicht bloß, von ihnen wegzukommen, weg von der Hilfe, die sie womöglich anbieten, die mir nicht wirklich helfen kann und die ich nicht ertragen kann, weil mir nicht mehr zu helfen ist, ich mich aber nur ungern daran erinnern lasse. Ich laufe nicht bloß weg, ich suche. Ich suche ihn. Idiotin.

Die Situation erweist sich als spannend. Eine kluge Idee, die beiden Verschwörer durch Zahlen miteinander kommunizieren lassen. Es erlaubt so viele Zwischentöne, so viel Interpretation. Es erschafft eine eigene Welt, die nur diesem Paar gehört. Und doch sind sie kein Paar. Gehören aber vielleicht doch zusammen. Ohne es mit Sicherheit wissen zu können.

Also nicht mehr Gedanken als nötig. Was gut ist. Eins nach dem anderen, nur über das, was wir denken müssen. Nicht über alles. Alles wäre zuviel.

Immer wieder beschleicht mich das Gefühl, dass je nach Lebenslage bestimmte Bücher „zu mir kommen“. Dass ich unwillkürlich zu einem Buch greife, das mir etwas sagt, das zur aktuellen Situation passt. Die kritische Stimme denkt natürlich anders: viel wahrscheinlicher ist es, dass man unbewusst diese Bücher auswählt oder dass man Inhalte anders interpretiert, so dass sie zur eigenen Lebenssituation passen. Im Prinzip könnte man auch das Horoskop lesen … das stellt sich jedoch selten so aufwühlend und am Ende überraschend heraus wie diese Geschichte.

Die lächerlichen, nackten, lächerlichen Dinge, die wir sagen.

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Roman Thriller

Daniel Glattauer – Ewig Dein

„Liebling, das wirst du mir nicht abgewöhnen können. Ich liebe es, dich zu überraschen. Das ist mein schönstes Hobby, das ist mittlerweile fast schon mein Lebenssinn.“ Dazu lachte er. Wenn er versuchte, selbstironisch zu werden, mochte sie ihn am meisten.

Man hat natürlich die Kritiken gelesen über Daniel Glattauers „Stalking-Roman“. Nach den E-Mail-Briefromanen Gut gegen Nordwind
und Alle sieben Wellen legt Daniel Glattauer eine düstere Geschichte nach. Die Hauptfigur Judith ist eine kühle Person, eigenständig, seltsam gefühllos wirkt sie von Anfang an. Umso erstaunlicher ist es dann, im ersten Teil des Buchs zu beobachten, wie sie alle Anzeichen klassischer weiblicher Manipulationsanfälligkeit zeigt. Doch das greift zu weit …

Judith lernt Hannes kennen. Sie hält ihn zuerst für uninteressant. Doch Hannes hängt sich so hartnäckig an Judith, dass diese sich schließlich an seine Nettigkeiten und Aufmerksamkeiten gewöhnt. Auch wenn er ihr stückweise zu sehr klammert, gefällt ihr natürlich seine Hingabe und Bewunderung. Doch natürlich wird es ihr zu eng und sie versucht, einen Schlussstrich zu ziehen. Womit das Psychospielchen erst beginnt …

Bei Daniel Glattauer habe ich erneut das Gefühl, er spielt nicht mit seinen Figuren, sondern mit der Psyche des Lesers. Zuerst wundert man sich, dass Judith diese enge Beziehung zum klammernden Hannes überhaupt zulässt. Wer würde sich drei Wochen lang täglich mit jemandem treffen, den man gerade erst kennengelernt hat? So nett kann er gar nicht sein. Als Hannes sich dann zum Schein zurückzieht, kann Judith nicht anders, als sich zu fragen, ob seine Gefühle nun erloschen sind, und geht ihm wiederum ein Stück entgegen.

Das Ende erinnert in seiner Überraschung an The Sixth Sense. Und lässt den Leser trotzdem oder gerade deshalb mit einem flauen Gefühl im Magen zurück.

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Roman

Barbara Frischmuth – Woher wir kommen

Die Realität ist immer das, was gerade ist. Realität kann nur der Augenblick, in dem du gerade lebst, sein.

In der Onlinebücherei der Büchereien Wien sind oft die aktuellen Bücher eher verfügbar als ältere Werke. Barbara Frischmuths Familienroman ist im vergangenen Sommer erschienen und nach wie vor nur als Hard Cover oder mit 17,99 € für Kindle schon eher teures eBook erhältlich.

Ich möchte behaupten, der Kauf würde sich auch zu diesem Preis lohnen. Aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt die Autorin die Geschichte von drei Frauen einer Familie, die jede für sich mit dem Verlust eines Mannes klarkommen müssen. Die Künstlerin Ada hat ihren Partner und damit einen wichtigen Teil ihrer Inspiration verloren.

War es das? Dass sie sich noch immer nicht ganz sicher war, wofür sie stand, unverwechselbar stand? Warum sonst dieses spontane Interesse an den Kritzeleien?

Adas Vater und damit der Mann ihrer Mutter Martha ist vor vielen Jahren mit seinem Freund Vedat im Ararat-Gebirge verschwunden. Martha und Lalle können nicht loslassen, treffen sich jährlich, um die Geschichte neu zu erleben. Kein Grab, das sie besuchen können, die ewige Ungewissheit, was mit den geliebten Männern geschehen ist.

Das bedeutet, dass das Erlöschen der Erinnerung, das Verschwinden im Schacht der Zeit sich höchstens ein wenig verzögert.

Auch Tante Lilofee, noch eine Generation zuvor, hatte den Verlust eines Mannes zu akzeptieren. Sie versteckte einen Deserteur im Wald, wurde schließlich entdeckt und verraten. Auch sie kann nie sicher sein, was mit ihrem Geliebten geschehen ist. Das Verhältnis zum Vater wird nie wieder dasselbe sein.

Du sollst sehen, dass du Teil der Welt bist und dadurch Einfluss auf sie hast. Üb ihn aus. Zeig uns, was wir sehen sollen.

Wie die drei Frauen weiterleben, wird schnörkellos, aber mitfühlend erzählt. Adas erwachende Liebe zu Jugendfreund Jonas, gebremst durch dessen drei Kinder und die verstorbene Frau, dominiert und setzt schließlich den hoffnungsvollen Schlusspunkt.

Schon allein die Hoffnung würde sie wild im Herzen und klar im Kopf halten.