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Roman

Jeanette Winterson – Frankissstein

Progress is a series of accidents, of mistakes made in a hurry, of unforeseen consequences.

In diesem Buch fließen mehrere Zeitebenen ineinander, die die Frage nach dem Ursprung des Lebens und gleichzeitig dem Leben nach dem Tod aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Dieses Ineinanderfließen spiegelt schon der Titel wider, in dem der bekannte Name Frankenstein durch einen Kiss unterbrochen und gleichzeitig verknüpft wird.

Frankenstein was a vision of how life might by created – the first non-human intelligence.

Eine Zeitebene folgt der Autorin Mary Shelley und ihren Gedanken, die zur Erfindung von Dr. Frankenstein und seinem Monster führten. Die historisch bekannten Fakten scheinen im Buch richtig wiedergegeben, im Vordergrund stehen jedoch die Fragen, die auch im Buch Frankenstein behandelt werden: was ist Leben? Die Kreatur, das von Victor Frankenstein erschaffene Monster, ist das Leben? Wenn es Leben ist, dann drängt sich als nächste Frage eine Wertigkeit in den Vordergrund: ist das Leben dieses Monsters gleich viel wert wie das Leben eines Menschen?

In weiterer Folge wird die Frage auch mit der Art und Weise verbunden, wie Menschen traditionell Leben erschaffen: Mary verliert mehrere Kinder an diverse Krankheiten und auch daraus lässt sich die Frage konstruieren, ob Menschen überhaupt Leben erschaffen sollten, wenn doch der Tod immer schon programmiert ist.

Only the human mind can accomplish the leap of thought that is a leap of genius.

Auf einer heutigen Zeitebene folgen wir Ry auf eine Konferenz, auf der die Zukunft der künstlichen Intelligenz und Robotik im Vordergrund steht. Es folgt eine (möglicherweise zu ausführliche) Erörterung des Themas Sexroboter. Die Frage, ob Roboter ein Bewusstsein haben könnten oder sollten, stellt sich bei den Gefährtinnen, die Hersteller Ron hier anpreist, (vorerst) kaum: sie sprechen 200 Worte und sind als moderne Sklavinnen programmiert. Aber wie wird es sich auf unsere Gesellschaft auswirken, wenn wir die Gesellschaft von servilen Robotern der anderer Menschen vorziehen? Werden gesellschaftliche Umgangsformen überholt, weil Roboter keinen Wert darauf legen? Werden ganze Wirtschaftszweige unnötig und stattdessen neue entstehen?

Randnotiz: Zum Thema Roboter und freier Wille kann ich die Serie Westworld sehr empfehlen. Es sei allerdings die Warnung ausgesprochen, dass es einige wirklich sehr brutale Szenen gibt.

If data is the input and the rest is processing, then humans aren’t so special after all. 

Auf der oben genannten Konferenz spricht auch der Wissenschaftler Victor Stein, der in einem geheimen Labor in einem ehemals militärischen Komplex in Tunneln unter der Stadt Manchester daran arbeitet, das menschliche Bewusstsein zu konservieren. Die Idee der Kryokonservierung ist nicht neu, die erste Konservierung wurde vor über 50 Jahren durchgeführt. Bis jetzt ist jedoch unklar, wie das Bewusstsein nach dem Auftauen wiederbelebt werden kann. Victor Stein argumentiert als Wissenschaftler gegen die Notwendigkeit eines Körpers an sich. Wenn das Bewusstsein vom Erhalt eines Körpers, vom Befriedigen der elementaren Bedürfnisse befreit wäre, wären dann nicht größere geistige Leistungen möglich? Wie würde das Leben für ein derartiges körperloses Bewusstsein aussehen? Oder sich anfühlen? Unser Bewusstsein ist an das Gefühl der Körperlichkeit gewöhnt. Müssten wir ein Körperlichkeitsgefühl künstlich erzeugen, damit das Bewusstsein die Körperlosigkeit überhaupt aushält? Stein transportiert ein mechanistisches Welt- und Menschenbild, Emotionen und Motivationen sind ihm im behavioristischen Sinne egal.

That’s not what I meant. I meant that we are freaks according to the behaviour of the world.

Als Transmann stellt Ry (Ry als Abkürzung von Mary) ein menschliches Brückenglied dar. Einerseits finde ich es sehr begrüßenswert, eine Transperson als Charakter im Buch zu haben, andererseits bin ich unsicher, ob die Darstellung der mit dem Trans-sein verbundenen Gefühle authentisch sein kann. Die sich entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Ry und Victor Stein hat für mich einen Unterton, ein Gefühl, als ob Ry in seiner Transheit objektiviert würde. Vielleicht ist das aber auch ein überzogener Anspruch, die Authentizität der Darstellung einer erfundenen Person überhaupt beurteilen zu wollen.

He will steal life from the gods. At what cost?

Ethische oder religiöse Bedenken schweben auf einer Metaebene durch das ganze Buch. Was sollen Menschen tun dürfen, wo werden Grenzen gesetzt und wo müssen/dürfen/sollen sie durchbrochen werden? Technikfolgenabschätzung als Bremse der Wissenschaft, welchen Wert hat Fortschritt an sich?

Das Buch wirft auf eine sehr unterschwellige Art mehr Fragen auf als es Antworten gibt. In den Dialogen zeichnet sich deutlich ab, dass die Autorin intensiv recherchiert hat und durch ihre Charaktere verschiedene Perspektiven zum Thema sprechen lässt.

Schließen möchte ich mit dem folgenden Zitat, weil es in so starkem Kontrast steht zum Gotteskonzept, das Octavia E. Butler in Parable of the Sower und Parable of the Talents zum Leben erweckt. Ist Gott tatsächlich unveränderlich oder Veränderung? Ist beides gleichzeitig möglich?

Everything changes, said Claire. I change. You change. God changes not.

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English Roman

David Levithan – Someday

What I’m learning is that the heart has the capacity to love so many people. I used to think I had to give that capacity to just one person, and never hold back any love for myself. But how wrong I was.

Nach Every day und Another day, in dem der Autor die Geschichte des Kennenlernens von Rhiannon und A aus beider Perspektive beschreibt, folgt mit Someday eine Fortsetzung, die überraschenderweise noch mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet.

Am Ende der beiden vorhergehenden Bücher hat A sich entschlossen, den Kontakt zu Rhiannon abzubrechen. Natürlich können sie einander nicht vergessen und nehmen schließlich den Kontakt wieder auf. Beide erkennen, dass ihre Beziehung zu Beginn darunter gelitten hat, dass sie sich nicht in gewöhnliche Beziehungskonzepte pressen lässt. Wenn die bekannten Beziehungsmuster nicht zu passen scheinen, kann eine Beziehung nicht erfolgreich sein, das denken sowohl A als auch Rhiannon. In diesem Buch definieren Rhiannon und A ihre Beziehung neu: Sie muss nicht exklusiv sein. Sie muss nicht den gängigen Vorstellungen einer lebenslangen Beziehung entsprechen. Sie muss nicht einer klassischen Beziehungsentwicklungslinie (mir fällt leider wirklich keine bessere deutsche Version für relationship escalator ein) folgen. All diese Ansprüche haben eine Beziehung zuvor verhindert. In dieser Fortsetzung konzentrieren sich beide darauf, was sie einander geben können, was sie zusammen haben können und daraus entsteht etwas völlig Neues. Das Sprengen von gesellschaftlichen Vorstellungen und Rahmenbedingungen und Schaffen von Räumen für eigene Ideen abseits der gängigen Normalitätsfolien schafft Möglichkeiten, die zuvor undenkbar waren. Diese ermutigenden Botschaften zwischen den Zeilen sind eine der besonderen Leistungen des Autors.

But if it becomes normal for us – that’s good. That’s all we can ask for.

Zumindest so spannend wie der Beziehungsaspekt war für mich die Tatsache, dass nun auch andere Personen wie A zu Wort kommen. Dadurch wird die Perspektive auf die Frage, was eine Person ausmacht, erneut erweitert. Die körperwandernden Personen beschreiben ähnliche aber zugleich vollkommen unterschiedliche Erfahrungen. Worauf es ankommt, ist wie die Person mit einer Situation umgeht. Täglich treffen wir Entscheidungen, die sich nicht nur auf uns selbst, sondern auch auf andere Personen auswirken. Ob wir dabei hauptsächlich auf unseren eigenen Vorteil schauen oder auf das Wohl anderer Menschen oder sogar auf das große Ganze – das macht in meinen Augen einen wesentlichen Aspekt der Persönlichkeit aus.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch kurz das Konzept Body neutrality erwähnen, das sich im weitesten Sinn auch im Text verorten lässt. Bei diesem Gegenkonzept zu Body positivity geht es nicht darum, den eigenen Körper um jeden Preis schön zu finden, sondern darum, dass es auf den Körper nicht so ankommt: der Mensch im Körper ist wichtiger als wie der Körper aussieht. Das Hadern mit dem eigenen Körper lässt sich im Allgemeinen nicht von einem Tag auf den anderen (und vielleicht überhaupt nie) vollständig ablegen. Aber der Gedanke, sich von der Doppelbelastung, den eigenen Körper perfektionieren und gleichzeitig den unperfekten Körper lieben zu müssen, verabschieden zu können, kann nicht oft genug geteilt werden.

But the whole point of love is to write your own version of normal.

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Roman

David Levithan – Another Day

In Every Day beschreibt der Autor eine Person namens A, deren Bewusstsein täglich in einem anderen, fremden Körper aufwacht. Die Geschichte wirft viele Fragen auf, unter anderem, was eine Person, einen Menschen eigentlich ausmacht. Wenn wir einen Menschen lieben, was lieben wir dann genau? Idealerweise lieben wir die Menschen, die wir lieben, so wie sie sind, auch wenn sich das mit der Zeit verändert. Niemand bleibt an einem bestimmten Punkt stehen, wir entwickeln uns weiter und können uns daher auch in eine Richtung entwickeln, die mit einem Menschen, den wir lieben, nicht kompatibel ist.

Another Day erzählt die Geschichte nochmals und zwar aus der Perspektive von Rhiannon. Auch im ersten Teil kommt ihre Gefühlswelt zum Ausdruck in den vielen Gesprächen, die Rhiannon und A führen. Nun aber blickt die Leserin tiefer in Rhiannons (Selbst-)Zweifel und kann verfolgen, wie Rhiannons Weltbild durch die Begegnung mit A auf den Kopf gestellt wird. Rhiannon muss sich fragen, was eine Beziehung für sie ausmacht. Kann Liebe langfristig funktionieren, wenn eine traditionelle Beziehung nicht möglich ist, niemals möglich sein wird? Kann sie A lieben, auch wenn ihr mentales Bild von A niemals mit dem Körper zusammenpasst, in dem A gerade steckt?

Auch dieses Buch endet mit weiteren Fragen: A hat herausgefunden, dass es noch andere Personen gibt, die so leben. Es gibt eine Möglichkeit, den Körper zu übernehmen und dauerhaft mit diesem zu leben. Dazu müsste A jedoch das Bewusstsein des anderen Menschen töten. Dies wirft neue Fragen auf über die Wertigkeit von Leben und die Entscheidung, das eigene Leben über das anderer Menschen zu stellen. Fragen, denen der Autor in einer Fortsetzung nachgeht: Someday.

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Roman

Eric-Emmanuel Schmitt – Die Frau im Spiegel

Sich fortzupflanzen? War es das, was die Frauen in ihrer Umgebung alle nicht erwarten konnten? Selbst die unbändige Ida?

Dieses Buch hatte ich schon auf meiner letzten Reise begonnen, nur irgendwie war der Anfang etwas schleppend und ich konnte mich nicht wirklich auf die drei Protagonistinnen einlassen. Das Buch beschreibt drei Frauen, die sich den Normen ihrer aktuellen Gesellschaft nicht unterwerfen können oder wollen. Sie lehnen sich auf gegen die Erwartungen, die an sie als Frau gestellt werden: zu heiraten, fruchtbar zu sein, sich in Liebe einem Mann zu unterwerfen. In unterschiedlichen Epochen und unterschiedlichen Verhältnissen lebend bleiben den Frauen verschiedene Möglichkeiten, sich mit den gesellschaftlichen Erwartungen zu arrangieren oder sie herauszufordern.

Anne von Brügge läuft ihrer eigenen Hochzeit davon, fühlt sich nur mit der Natur eins und wird aufgrund ihres unerschütterlichen Glaubens, dass Gott in der Natur lebt und durch sie spricht, schließlich als Ketzerin verbrannt.

Hanna Waldberg droht unter den Erwartungen ihres Ehemannes und seiner Familie, ihm möglichst bald Kinder zu schenken, zusammenzubrechen. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse eröffnet ihr schließlich einen neuen Lebensweg abseits der Pfade, die die Gesellschaft für eine Frau in ihrer Stellung vorgesehen hat.

Anny Lee lässt sich als erfolgreiche Schauspielerin von ihrer Agentin gängeln und versucht ihre Freiheit durch Alkohol- und Drogeneskapaden auszuleben. Ihr fehlt nicht nur ein Bezug zur realen Welt sondern auch ein Gefühl für ihren eigenen Körper. Dabei können ihr auch die Beziehungen zu wechselnden Männern nicht helfen. Erst als sie ihre Vorstellungen davon, was Liebe sein muss, zurücklassen kann, findet sie eine neue Perspektive auf die Welt.

Du bist sehr viel mehr, als das, was du glaubst zu sein.

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Roman Science Fiction

David Levithan – Every Day

If there’s one thing I’ve learned, it’s this: We all want everything to be okay. We don’t even wish so much for fantastic or marvelous or outstanding. We will happily settle for okay, because most of the time, okay is enough.

Es ist ein seltsames Setting, das David Levithan für diese Lovestory gewählt hat. Die Geschichte wird erzählt aus der Perspektive von A. A hat keinen eigenen Körper, sein Bewusstsein erwacht jeden Tag im Körper eines anderen Menschen. A hat dann Zugriff auf das Wissen und die Erinnerungen dieses Menschen und hat gelernt, sich jeden Tag durch ein neues, fremdes Leben zu manövrieren.

In your heart, in your bones, no matter how silly you know it is, you feel that everything has been leading to this, all the secret arrows were pointing here, the universe and time itself crafted this long ago, and you are just now realizing it, you are just now arriving at the place you were always meant to be.

Eines Tages wacht A im Körper von Justin auf und verbringt einen Tag mit dessen Freundin Rhiannon. Und verliebt sich in sie. Von diesem Zeitpunkt an ist für A nichts mehr wie zuvor. A weiß, er kann mit Rhiannon niemals so zusammen sein, wie Justin es kann. Und doch sind die Gefühle so stark, dass für A alle selbst aufgestellten Regeln nicht mehr gelten.

Mir fällt gerade auf, wie schwer es ist, im Schreibfluss das Wort er zu vermeiden. Da A keinen Körper hat und sowohl Junge als auch Mädchen ist (oder auch keines von beidem), hat er auch kein Geschlecht. Dies wird im Buch mehrfach thematisiert. Es ist schwierig für Rhiannon, zu verstehen, dass man sich weder als Mann noch als Frau fühlen kann. Durch die unterschiedlichen Perspektiven, die A Tag zu Tag erfährt, scheint sein Bewusstsein deutlich reifer zu sein als das gleichaltriger Jugendlicher. Der Leser begleitet A durch die unterschiedlichen Leben. Besonders bedrückend und realistisch ist A’s Tag im Körper eines depressiven Mädchens. Der Autor beschreibt, wie sich alles schwarz anfühlt, als würde eine dunkle Wolke stets den Körper umhüllen, sodass von außen nichts durchdringen kann.

Beim Lesen stellte ich mir unwillkürlich die Frage, was einen Menschen ausmacht. Ist A ein vollständiger Mensch, obwohl er keinen eigenen Körper hat? Kann Rhiannon ein Bewusstsein lieben, das ihr täglich in einem anderen Körper erscheint? Der eigene Körper definiert einen wichtigen Teil unserer Selbsterscheinung, auch, wenn man sich nicht ständig mit den Schönheitsidealen der Medien beschäftigt. Wer jahrelang wegen seines Aussehens verspottet wird, entwickelt sich zu einem anderen Menschen als ein besonders schöner Mensch. Es muss nicht unbedingt eines von beidem besser sein, aber es macht auf jeden Fall einen Unterschied. Die körperliche Entwicklung gehört ebenfalls zum Bewusstsein. Kann Liebe über das Bewusstsein triumphieren? David Levithan findet eine ungewöhnliche Antwort in seinem überraschenden Ende dieser Geschichte.

It’s as if when you love someone, they become your reason.