Categories
English Jugend Roman

Rachel Cohn & David Levithan – Sam and Ilsa’s Last Hurrah

CN dieses Buch: Alkohol, Panikattacke, Selbstverletzung
CN dieser Post: –


Mit einem Besuch im Mumok, den ihr weiter unten lesen könnt.

How do you leave? You tell yourself you can go home whenever you need to. You tell yourself you’re trying something out. And you find something you love to take with you. You give yourself a chance to be someone else, but you don’t turn against the person you were. You give yourself room to breathe, and then you breathe.

Die Jugendbücher vom Autor:innenteam Rachel Cohn & David Levithan glänzen zumeist mit kreativen Persönlichkeiten, absurden Situationen und spannenden Schauplätzen. Das ist auch in dieser Geschichte so, in der die Zwillinge Sam und Ilsa eine letzte gemeinsame Dinnerparty in der Wohnung ihrer Großmutter feiern, bevor diese Wohnung verkauft werden soll. Zwischen den geladenen Gästen (von denen einer sich als Bauchredner mit Sockenpuppe entpuppt) entwickeln sich Ressentiments und Anzüglichkeiten, Themen aus der Vergangenheit werden aufgerollt und schließlich tiefgreifende Fragen gestellt. Eine Teil-Antwort auf eine wesentliche Frage (How do you leave?) gibt das obige Zitat.

Interessant fand ich auch eine Passage, in der die Klimakrise mit dem Untergang der Titanic verglichen wird. Es geht spezifisch darum, dass New York bei steigendem Meeresspiegel überflutet werden könnte. Mit dem Schluss, dass es eigentlich nicht mehr darum geht, die Katastrophe zu verhindern. Es geht darum, Maßnahmen zu ergreifen, um so viele Menschen wie möglich zu retten.

What I’m saying is – there comes a time, long before the accident, when you decide how many lifeboats the Titanic should have. That’s what we need to do – in many ways it’s the only thing we can do. Make sure we have plenty of lifeboats.


Ausgenutzt habe ich meine Bundesmuseen-Card nicht. Ziemlich überrascht stellte ich in der vorletzten August-Woche fest, dass ich nur noch fünf Tage Zeit hatte. Immerhin ein Museumsbesuch ging sich in der Zeit noch aus. So verbrachte ich drei Stunden eines brütend-heißen Sommertags in den klimatisierten Hallen des Mumok. Während des Museumsbesuchs machte ich nicht nur Fotos sondern auch Notizen auf meinem Telefon, was dazu führt, dass ich ich mich jetzt deutlich besser an die Ausstellungen erinnern kann. Das sollte ich beibehalten.

Ausstellungsräumlichkeiten im Mumok, in Pastellfarben gestrichene Wände mit runden Abschlüssen bilden Räume, an den Wänden sind jeweils einige Collagen aufgehängt, rechts vorne ist eine Collage mit pinken und violetten Elementen zu sehen, die ein geometrisches System zeigt mit einem Element, das möglicherweise eine Rakete darstellt
Ausstellungsansicht, Mumok, Elisabeth Wild, Fantasiefabrik

Ich begann meine Tour im obersten Stockwerk, um mich dann nach unten vor zu arbeiten. Dort sind aktuell unter dem Titel „Fantasiefabrik“ Collagen der Künstlerin Elisabeth Wild ausgestellt. Ihre Collagen bestehen aus Elementen aus Magazinen,
sie enthalten kaum menschliche Elemente sondern hauptsächlich Formen in verschiedenen Farben, die zu neuen Formen kombiniert werden. Teilweise sind architektonische Elemente erkennbar, oft ist aber auch nicht ersichtlich, was die einzelnen Teile ursprünglich waren. Ungenauigkeiten wie schräge Schnittkanten, Blitzer, Haare die mit eingeklebt sind, versehentliche Klebespuren oder  durchscheinender Text von der anderen Seite des Papiers sind deutlich sichtbar.

nebeneinander drei hochformatige rechteckige Collagen. Links: geometrische Kombination aus versch. rechteckigen Elementen, Farbwelt hier gelb, braun, Grautöne. Mitte: prominent ist ein goldener Ring, der sich von den Hintergrundelementen abhebt, Farbwelt gold, braun, rötlich. Rechts: zwei Geländer, die von den Ecken links und rechts oben in die Mitte ragen, geben der Collage Tiefe und lenken den Blick auf die Mitte, wo quadratische Elemente eine Art Fliesenmuster bilden, Farbwelt hier türkis, grau, braun.
3 Collagen aus der Ausstellung Elisabeth Wild. Fantasiefabrik

Wiederkehrende Elemente sind Fenster, Türen oder Treppen, die in eine andere Welt zu führen scheinen, auch Uhren in verschiedenen Formen kommen häufiger vor. Die Collagen scheinen eine Tiefe zu haben, sie existieren auf verschiedenen Ebenen, ohne das konkret durch die Reihenfolge des Aufklebens zu demonstrieren. Die Tiefe wird mehr durch die Richtung schräger Elemente erzeugt. Manche Collagen sind geometrisch, andere bilden eine Art Fantasiewelt, in die die Betrachterin hinein gezogen wird. In dieser Fantasiewelt lässt sich manchmal ein Spiel mit Elementen, wo die Größenverhältnisse vertauscht sind, erkennen zum Beispiel das Bild eines Hauses als Lampenschirm.

Besonders gefallen hat mir, dass jede Collage eine eigene Farbwelt hat, sie sind nicht nur bunt, die Farben passen auch zueinander. Jede Collage könnte Grundlage für eine Farbpalette sein, wie ich sie mir sehr gerne auf Colorpalettes.net ansehe.

Auf dem Papier organisierte Wild die Ausschnitte in Darstellungen, die in ihrer traumhaften, abstrakt-futuristischen Erscheinungsart überraschen. Die geschlossenen Kompositionen rufen mit ihren maskenhaften, architektonischen, naturhaften und abstrakten Mustern bei den Betrachter*innen eine Fülle von Assoziationen wach. (aus der Ausstellungsbroschüre)

Auf der anderen Ebene dieser Ausstellung befand sich ein Kartonraum mit Stoffmustern, Gemälden, Fotos, Inseraten vom Antiquitätengeschäft, das die Künstlerin geführt hat. Diesen Teil der Ausstellung musste ich mir erklären lassen, die Ebene soll ihr Haus bzw. ihren Arbeits- und Lebensraum nachempfinden, daher sind die Wände außerhalb des Kartonhauses auch mit Dschungeltapete beklebt. Die Künstlerin verbrachte ihre „letzten zwei Lebensdekaden“ (Zitat aus der Broschüre, so geschwollen würde ich nie schreiben) in Guatemala.

Ausstellungsansicht im Mumok, links eine schwarze Wand an der drei hochformatige Gemälde hängen, rechts eine schwarze Wand mit einem großformatigen Gemälde, auf dem in unterschiedlichen Schattierungen von schwarz und weiß immer wieder die Worte WE ARE NOT zu lesen sind. Dazwischen ist auf einer weißen Wand dahinter eine Gruppe von hochformatigen Bildern zu sehen, die hauptsächlich Formen wie Kreise, Ovale oder Dreiecke auf unterschiedliche Weise miteinander kombinieren
Ausstellungsansicht, Mumok, Adam Pendleton. Blackness, White, and Light

Ein ziemliches Kontrastprogramm zur oben beschriebenen Ausstellung bildet Adam Pendleton. Blackness, White, and Light. Hier werden Reihen von Bildern mit denselben Formen gezeigt, fast ausschließlich schwarz und weiß, teilweise sind Farbtropfen sichtbar, die nach unten rinnen und mich auf den Gedanken bringen, dass es interessant wäre, diese Bilder umgedreht zu hängen, sodass die Tropfen der Schwerkraft entgegen rinnen. Durch die übereinander liegenden Schichten und die Tropfen, die nach unten rinnen, wirken manche Bilder wie Regenwetter, als würde die Betrachter:in die Welt durch einen Regenschleier sehen. Buchstaben sind auch oft Teil der Gestaltungen, teilweise als Worte oder sogar Sätze (we are not), manchmal aber auch nur als Gestaltungselemente.

Pendleton erforscht Blackness als eine Farbe, eine Identität, eine Methode und ein politisches Subjekt – kurz: als Vielfalt. Er stellt dringliche, doch offene Fragen nach dem Vermächtnis der Moderne in der Gegenwart und reaktiviert dazu quer durch die Medien und Zeiträume Ideen historischer Avantgarden. (aus der Ausstellungsbroschüre)

Wieder einmal stelle ich fest, dass ich mit Videokunst einfach nichts anfangen kann. Die Videoräume sind so abgeschlossen, dass du in einer anderen Welt bist, audiotechnisch ist das eigentlich sehr gut gemacht, du spürst den Bass, das Knarzen der Schuhe auf dem Boden scheint von unten zu kommen, die Musik und der Raumklang von überall. Trotzdem kann ich mich darauf nicht so wirklich einlassen. Vielleicht braucht es einen sanften Einstieg in die Videokunst?

Weiters ist im Mumok noch bis 8. Oktober die Ausstellung Agnes Fuchs. Her Eyes Were Green zu sehen. Hier musste ich wirklich zur Ausstellungsbroschüre greifen, weil mir die ausgestellten Exponate so gar nichts sagten. Die technisch-grafischen Elemente, die auf Wänden und Boden eine Struktur anzeigen, konnte ich zuordnen, aber im Ganzen ergaben die Bilder und Installationen für mich einfach keinen Sinn.

Ausstellungen sind für Künstler*innen und ihre Werke ganz allgemein Bühnen der öffentlichen Präsenz und Existenz. Die Ausstellung ON STAGE zeigt Arbeiten seit etwa 1960, die vorwiegend aus der mumok Sammlung stammen und in denen explizit Darstellungen des Bühnenhaften und des Rollenspiels zu sehen sind. (Text aus der Ausstellung)

Ein buntes Potpourri bildet die Ausstellung ON STAGE – Kunst als Bühne, kuratiert von Rainer Fuchs. Für diese Ausstellung alleine hätte ich mir mehrere Stunden Zeit nehmen können, sie beinhaltet so viele Facetten des Künstlerischen und ich war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr richtig konzentrationsfähig. Neben  Werken der Aktionskunst zum Beispiel von Herrmann Nitsch, Marina Abramovic oder Valie Export, wo das Manipulieren des Körpers (des eigenen oder eines anderen) zum Ausdruck der künstlerischen Vision wird, sind Skulpturen, Fotodokumentationen von Aktionen oder Auftritten, Videokunst zu sehen – insgesamt eine bunte Mischung von Werken, die sich irgendwie mit dem Thema Bühne in Verbindung bringen lassen.

Dabei wird auch tiefgründige Kritik nicht ausgespart, etwa thematisiert die Gruppe MATHILDA unter dem Titel „Kunst als Vorwand“ Gewalthandlungen, die in der Mühl-Kommune als Bühnenspektakel inszeniert wurden.

Meinen Besuch im Mumok habe ich nicht nur deshalb sehr genossen, weil ich bei draußen 35 Grad, knapp drei Stunden in den klimatisierten Hallen verbringen durfte. Es war interessant, selbst zu versuchen, die Kunst einzuordnen und dies dann mit den Ausstellungsbroschüren zu vergleichen. Natürlich maße ich mir nicht an, wirklich zu verstehen, was die Künstler:innen aussagen wollen, dazu fehlt mir einfach das Einordnungswissen. Jedoch allein der Kontrast zwischen den beiden Ausstellungen von Elisabeth Wild und Adam Pendleton zeigt deutlich, dass die Möglichkeiten menschlichen künstlerischen Ausdrucks nahezu endlos sind.

Categories
English Roman

Ashley Herring Blake – Delilah Green Doesn’t Care

CN dieses Buch: graphische Beschreibungen sexueller Handlungen
CN dieser Post: –


In einer einsamen Stunde bin ich der Empfehlung von Parnassus Books gefolgt und habe mich von diesem warmen Liebesroman voller interessanter Charaktere, verrückter Aktionen und neuen und lebenslangen Freundschaften aufheitern lassen. Mein Favorit ist natürlich die kämpferische und kreative Titelheldin, aber auch alle anderen Charaktere (abgesehen von dem, der abgesägt wird … ähäm) haben liebenswerte Eigenschaften, mit denen sich die geneigte Leser:in identifizieren kann.

Irgendwie war an mir vorbei gegangen, dass es diese Geschichten jetzt auch in queer gibt. Zum Glück gibt es Fortsetzungen, sodass ich für die nächsten einsamen Stunden jetzt bereits weiß, wo ich mich aufwärmen kann.

Categories
Memoir

Maggie Nelson – Die Argonauten

CN dieses Buch: sexuelle Handlungen, Geschlechtsteile, Pornographie, sexueller Missbrauch von Kindern, Fehlgeburt, Abtreibung, Krankheit, Sterben
CN dieser Post: –


Gerade bin ich die Liste meiner Kategorien nochmal durchgegangen und bin noch immer nicht zufrieden mit der Einordnung dieses Buchs. Schon zu Beginn des Lesens war ich mir nicht sicher, was ich eigentlich vor mir habe. Das Cover enthält nur den Titel, den Namen der Autorin, den Namen des Verlags und ein Zitat aus The Guardian. Der Einband auf der Umschlagseite 2 bestätigt schließlich, dass sich dieses Buch nicht so einfach einordnen lässt; es wird als eine Mischung aus Memoir, Theorie und Poesie beschrieben. Die Themen des Buchs sind die Beziehung der Autorin Maggie Nelson zu einer genderfluiden Person, und die Familie, die sich aus dieser Beziehung entwickelt. Diese Familie besteht aus Maggie, Harry, Harrys Sohn aus einer früheren Beziehung und Iggy, dem gemeinsamen Kind von Maggie und Harry. Diese ungewöhnliche Familienkonstellation bietet umfassenden Raum, um Geschlechterrollen zu hinterfragen, die Bedeutung der Stiefelternschaft zu erörtern oder Familienmodelle generell auf einen (queeren) Prüfstand zu stellen.

Dabei erlaubt sie sich, Fragen zu stellen, die unvermeidlich auftauchen, wenn ein Mensch eine Beziehung eingeht zu einem anderen Menschen, der sich nicht in eine binäre Geschlechtsidentität einordnet. Selbst in queeren Gemeinschaften gibt es Normen und Schubladen (wie butch oder femme); die Gefahr einer Bewertung droht nicht nur von der heteronormativen Normalgesellschaft sondern auch aus der eigenen Community, deren Einstellungen sich ebenfalls auf einem sehr breiten Spektrum verteilen. Gerade zwischen liebenden Menschen entstehen Missverständnisse bezüglich der (von innen) gefühlten und der (von außen) wahrgenommenen Identität. Wir wollen das Beste für unsere Partnerperson und stehen doch oft hilflos daneben.

Ich will einfach, dass du dich frei fühlst, sagte ich, meine Wut getarnt als Mitgefühl, mein Mitgefühl getarnt als Wut. Verstehst du es denn nicht?, schriest du zurück. Ich werde mich niemals so frei fühlen wie du, ich werde mich niemals so heimisch fühlen in der Welt, ich werde mich niemals so zu Hause fühlen in meiner eigenen Haut. So ist es einfach, und so wird es immer sein.

Gerade dieses „zu Hause fühlen im eigenen Körper“ und damit verbundene Veränderungen können wiederum der Partnerperson Angst machen. Kommt es auf eine äußere Transformation überhaupt an, wenn doch eigentlich das Innere unsere Identität ausmacht? Ja, denn Identität ist eben nicht nur das, was wir als unsere Persönlichkeit mit uns tragen. Unsere Äußerlichkeit ist ein Ausdruck dieser Identität. Vielen Menschen, die von der Gesellschaft als das gelesen werden, was sie auch tatsächlich in sich fühlen, ist überhaupt nicht bewusst, welches Privileg diese Einheit von Außenwahrnehmung und Innengefühl darstellt. Es ist keine Selbstverständlichkeit. (Dieses Thema habe ich im Blog Post zu Let’s Talk About Hard Things auch schon kurz angerissen.)

Und was, wenn du dich, nachdem du die großen äußeren Veränderungen vorgenommen hattest, immer noch unwohl in deinem Körper fühlen würdest und unwohl in der Welt? Als hätte ich nicht gewusst, dass es auf dem Gebiet von Gender unmöglich ist zu verzeichnen, wo das Innere und das Äußere beginnen und aufhören –

Ihre eigenen Erfahrungen einer queeren Partnerschaft; einer Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft; ihrer Suche nach einem Platz in der Welt ergänzt Maggie Nelson mit theoretischem Hintergrund in Form von Zitaten von bekannten Theoretiker:innen, die sich mit Fragen zu Feminismus oder Gender befasst haben. Ihre Beziehung zu ihrem Sohn und was es überhaupt bedeutet, eine gute Mutter zu sein, hinterfragt sie intensiv anhand der Schriften von Donald Winnicott, der mir bereits in Alison Bechdels Are You My Mother? begegnet ist (das Maggie Nelson auch an anderer Stelle in ihrem Werk erwähnt. Offenbar ist der deutsche Titel Wer ist hier die Mutter?, was ich sehr seltsam finde).

Auch viele Künstler:innen kommen zu Wort, manchmal als Beispiele für queeres Leben, an anderen Stellen liefern sie Erklärungen für all die Unsicherheiten und Missverständnisse, die auftreten, wenn Menschen nach binären Kategorien eingeteilt werden. Binäre Kategorien sind überall, wie etwa auch „der Binarismus von normativ und transgressiv“, der Menschen dazu zwingen soll, Leben zu leben, „die nur eine einzige Sache sind“.

Ich lag in allem falsch – ich war in meinen eigenen Wünschen und Ängsten eingeschlossen und bin es noch immer. Ich versuche nicht, diese Verkehrtheit hier zu korrigieren. Ich versuche nur, sie offenzulegen.

Der obige Absatz folgt auf eine Reflexion, in der die Autorin ihren Blickwinkel auf Schwangerschaft bzw. schwangere Frauen und ihre Körper in ihrem eigenen Zeitverlauf nachvollzieht. Wir sehen andere Menschen immer aus unserer eigenen Lebenssituation heraus. Nicht nur unsere eigene Identität und unsere Wünsche prägen unsere Wahrnehmung von anderen Menschen, auch unsere aktuelle Lebenssituation und die Lebenserfahrungen, die wir bereits gemacht haben, beeinflussen unsere Wahrnehmung.

Für mich war die zentrale Erkenntnis (oder ein Wieder-Erkennen), dass wir niemals tatsächlich wissen können, was eine andere Person fühlt, selbst dann nicht, wenn wir dieser Person sehr nahe sind. Unsere einzige Möglichkeit, dem Verständnis näher zu kommen, ist es daher, zuzuhören. Zuzuhören, anzunehmen, dass es überhaupt ein anderes Empfinden als das Eigene geben kann und dann zu verstehen, dass jedes Empfinden einzigartig ist, selbst wenn wir Parallelen zu sehen meinen.

Categories
English Jugend Roman

John Green and David Levithan – Will Grayson, Will Grayson

Sowohl John Green als auch David Levithan sind Garanten für anspruchsvolle und trotzdem unterhaltsame Jugendliteratur. Beispiele sind etwa The Fault in Our Stars (die Verfilmung aus dem Jahr 2014 ist ebenfalls sehenswert), Every Day (und die beiden Fortsetzungen Another Day und Someday) oder David Levithans Kollaboration mit Rachel Cohn Dash & Lily’s Book of Dares.

me: you have no idea how wrong you are about me.
tiny: you have no idea how wrong you are about yourself.

Es dürfte wohl kein Spoiler sein, wenn ich verrate, dass die Protagonisten des Buches beide Will Grayson heißen und sich zu Beginn nicht kennen, im Verlauf des Buchs aber aufeinander treffen. Im Interview am Ende des Buches erklären die beiden Autoren, wie sie tatsächlich getrennt voneinander die Figuren entwickelt haben, um diese dann Kapitel für Kapitel aneinander heran zu führen.

Wie so oft in Jugendromanen geht es auch hier um die Suche nach der eigenen Identität und das Klarkommen mit der eigenen Vorgeschichte, mit den Voraussetzungen und Umständen, in die wir hineingeboren werden. Eigentlich sollten sich Erwachsenenromane auch mehr mit diesem Thema beschäftigen (wobei sie das bei entsprechender Betrachtung vielleicht ohnehin tun?), weil wer kann schon sagen, sich seiner Identität sicher zu sein? (Falls eine Identität überhaupt etwas Feststehendes sein sollte und nicht eher ein fluides Konzept. In diesem Fall wäre vermutlich das Konzept sich selbst treu zu bleiben hinfällig.) Den Abschluss des Buchs bildet ein Gespräch zwischen den beiden Autoren, in dem John Green über den Konflikt zwischen unserer inneren Identität und der von außen wahrgenommenen Identität erzählt:

I think a lot of the novel is about the weird relationship between identity and existence: In some ways, you are who you are because other people observe you; but in some ways, you are who you are in spite of other people’s observations of you.

Die Verknüpfung dieses Themas mit den philosophischen Überlegungen zu Schrödingers Katze hat mich besonders amüsiert. Und es mir bei der ersten Erwähnung des Bandnamens Maybe Dead Cats nicht mal aufgefallen …

still, what could i say? that i didn’t just feel depressed – instead, it was like the depression was the core of me, of every part of me, from my mind to my bones?

Einer der Will Graysons lebt mit einer Depression. Es gelingt den Autoren meisterhaft, die Isolation dieser Krankheit zu illustrieren; die Art, wie sie die betroffene Person von normalen Menschen abkapselt. Das Unverständnis der Umgebung und die Vorurteile über mental health issues, mit denen depressive Menschen zusätzlich zu ihrer Krankheit zu kämpfen haben, nehmen einen wichtigen Platz ein. Es geht hier nicht nur um Jugendliche, die ihren Platz im Leben suchen, sondern um Jugendliche, die dies unter erschwerten Bedingungen tun und trotzdem einen Weg finden.

all i wanted was one fucking break, one idiotic good thing, and that was clearly too much to ask for, too much to want.

Dazwischen ist das Buch aber auch noch großartig lustig. Die Absurdität, die ich aus Dash & Lily’s Book of Dares erinnere, spiegelt sich hier in den wahnwitzigen Musicalnummern wieder, die ich wirklich gern auf einer Bühne sehen würde. Nicht zuletzt hat mich die Referenz auf einen Film aus meiner eigenen Jugend amüsiert (Charlie Alle Hunde kommen in den Himmel). Mal sehen, ob ich den irgendwo auftreiben kann …

Categories
English Jugend Roman

Nina LaCour – Everything Leads to You

I thought that her story was comprised of scenes. I thought the tragedy could be glamorous and her grief could be undone by a sunnier future. I thought we could pinpoint dramatic events on a time line and call it a life. But I was wrong. There are no scenes in life, there are only minutes.

Letztens habe ich mir ein paar Minuten gestattet, um nachzuschauen, ob etwas von meiner Buchliste, das bisher nicht in der Overdrive eLibrary verfügbar war, nun neu dazu gekommen ist. Und tatsächlich war dieser Roman dabei. Ersatzweise hatte ich vor zwei Jahren We Are Okay von Nina LaCour gelesen.

Because in the conversation beneath this one, what we’re really saying is I am an imperfect person. Here are my failures. Do you want me anyway?

Dieses Werk ist deutlich fröhlicher angelegt. Die Protagonistin Emi stößt gemeinsam mit ihrer Freundin Charlotte auf einen Brief in der Hinterlassenschaft eines bekannten Schauspielers und die beiden machen sich auf die Suche nach der Lösung des Rätsels. Diese führt sie schließlich zu Ava, der Enkelin des Verstorbenen, die von ihrer Verwandtschaft mit dem Darsteller keine Ahnung hatte.

People talk about coming out as though it’s this big one-time event. But really, most people have to come out over and over to basically every new person they meet.

Zwischen dem Geheimnis hinter Avas Familiengeschichte, der sich entspinnenden Verbundenheit/Verliebtheit zwischen Emi und Ava und den vielen Blicken hinter die Kulissen des Setdesigns der Traumfabrik (Emi arbeitet als aufstrebende Set Designerin) gelingt es der Autorin auch noch, die gesamten Unsicherheiten junger Menschen transparent zu machen. Obwohl ich diese Zeit meines Lebens lange hinter mir gelassen habe, konnte ich mitfühlen mit all den Zweifeln, vor allem Emis Zweifeln an den eigenen Fähigkeiten. Wesentlich wichtiger als die perfekte Lösung für ein Arbeitsproblem ist jedoch der Mut, etwas auszuprobieren und falls es nicht klappt, später auch den Fehler zugeben zu können und nachzubessern. Brave, not perfect.

“What I’m trying to say is that I just want to know you. You don’t have to be at your best. We can’t all be our best all the time. But,” I say again, “I just want to know you.”