Categories
Roman

Pierre Jarawan – Am Ende bleiben die Zedern

CN dieses Buch: Gewalt, Verlust eines Elternteils, Flucht, Krieg,
CN dieser Post: –


Dieses Buch habe ich auf einer Reise im Travel Book Shop in Zürich gekauft. Es stand vermutlich seit ca. sieben Jahren auf meiner Leseliste, ich konnte es aber nie finden, weil … in meiner Liste der erste Buchstabe des Nachnamens des Autors falsch war. Ob das bereits in dem Artikel so war, aus dem ich die Empfehlung hatte, lässt sich leider nicht mehr nachvollziehen (der Link funktioniert nicht mehr). Jedenfalls hatte ich mich vor dem Nieselregen in das Buchgeschäft zurückgezogen, wollte eigentlich nichts kaufen. Nachdem ich mir mehrere Fotobände angesehen hatte, die ich keinesfalls auf dem Rest dieser Reise mitschleppen würde, konnte ich doch nicht umhin, dieses Buch zu kaufen, weil es irgendwie einfach Schicksal war, es dort zu finden …

Fassade des Travel Book Shop in Zürich, über dem Eingang hängt ein Zunftzeichen mit einer Palme, die Fensterrahmen sind grün gestrichen, im Hintergrund ist eine Reliefkarte in einem Schaukasten zu sehen

Samir, der Protagonist der Geschichte, wurde in Deutschland geboren, seine Eltern waren kurz vor seiner Geburt aus dem Libanon geflüchtet. Im Verlauf des Buches beschreibt Samir, wie er sich zwischen den beiden Kulturen verloren fühlt: Er wurde in Deutschland geboren, hat sein ganzes Leben hier verbracht. Die Erzählungen seines Vaters über dessen Heimatland Libanon bedeuten Samir aber umso mehr, nachdem sein Vater die Familie verlassen hat, als Samir acht Jahre alt war. Es war ein Verschwinden von einem Tag auf den anderen, verbunden mit Geheimnissen, auf die sich der achtjährige Samir keinen Reim machen kann. Das unerklärte Verschwinden des Vaters lässt ihm keine Ruhe, kostet ihn schließlich seinen Job in einer Bibliothek, beeinflusst als fixe Idee seine Beziehungen und Freundschaften. Erst der erneute Kontakt mit der Kindheitsfreundin Yasmin rüttelt ihn auf und führt ihn schließlich auf eine Reise in den Libanon mit dem Zweck, die Spuren seines Vaters zu verfolgen.

In den neunziger Jahren veränderten sich das politische Klima und die Welt um mich herum dramatisch. Doch so richtig merkte ich es nicht. Ich war gefangen in diesem verrückten, bunten Jahrzehnt, in dem alles zum letzten Mal analog war. Mitgerissen von einer Generation, die sich vehement weigerte, sich den Spaß nehmen zu lassen, obwohl es genügend Zeigefinger gab, die mahnend in die Zukunft wiesen. Wir hatten keine Kämpfe zu kämpfen. Der Kalte Krieg war vorbei, die Mauer war eingestürzt, die Zwillingstürme noch nicht. Die einzigen Grenzen, die wir kannten, waren die, die wir uns selbst auferlegten.

Der Protagonist Samir wurde Anfang der 80er geboren und in den Beschreibungen der Zeiten seines Aufwachsens, seiner Jugend habe ich vieles wieder erkannt, wie ich es selbst erlebt habe. Im Gespräch mit einer Person, die zur selben Zeit in Israel aufwuchs, habe ich überrascht festgestellt, wie unterschiedlich unsere Erinnerungen an diese Zeit sind. Während der Jugoslawien-Krieg für mich als Kind absolut keine Rolle spielte, waren die Verflechtungen zwischen dem Libanon und seinen Nachbarländern Syrien und Israel viel bestimmender für politische und gesellschaftliche Entwicklungen und laut dieser Person auch wesentlich präsenter im alltäglichen Leben.

Das Buch ist eine wunderbare Mischung aus der persönlichen Geschichte Samirs und den politischen Entwicklungen, die die Erfahrungen so vieler geflüchteter Menschen entscheidend geprägt haben. Samirs Reise in den Libanon erzählt von den Landschaften, die ihm sein Vater als Kind näher gebracht hat, vom Geruch der Zedern, den schroffen Bergen, dem fremden Flair eines Landes, in dem sich Samir aber eigentlich nicht fremd fühlen will. In den Hinweisen, die er aus seiner Kindheit bewahrt hat und den Recherchen, die ihm den Bibliotheksjob gekostet haben, sucht er nach Anhaltspunkten, die ihm dabei helfen könnten, das Schicksal seines verschwundenen Vaters zu ergründen. Oft entwickeln sich scheinbare Sackgassen zu neuen Verbindungen.

Meine uneingeschränkte Empfehlung für dieses Buch. Die Geschichte ist mitreißend mit einer überraschenden Wendung am Ende, die ich absolut nicht kommen habe sehen, und die trotzdem ganz wunderbar passt. Den Schreibstil fand ich sehr angenehm, die Mischung der Zeitebenen (der junge Samir mit seinen Eltern, der „heutige“ Samir auf seiner Reise in den Libanon) wird mit dem Fortschreiten der Geschichte immer enger und führt schließlich komplett in die Gegenwart (1. Auflage 2018). Der umfangreich beschriebene kulturelle und gesellschaftliche Kontext aus einer Zeit, die ich einerseits selbst in Erinnerung habe, in der sich aber in einem gar nicht so weit entfernten Land Dinge zugetragen haben, mit denen ich mich nie befasst habe, hat mich sehr berührt. Wenn wir uns nur mehr mit anderen Kulturen, Lebensbedingungen, Religionen befassen würden, würde es insgesamt vielleicht weniger Konflikte geben. Vielleicht trägt dieses Buch etwas zum Verständnis bei, mir hat es jedenfalls eine unbekannte Welt innerhalb unserer alltäglichen Welt eröffnet.

Categories
Roman

Alexandra Tobor – Minigolf Paradiso

Wer Kobolde heraufbeschwört, darf sich nicht wundern, wenn ein kleiner Metal-Troll dabei rausspringt.

Einer meiner liebsten Unterhaltungspodcasts ist Die Wrintheit von Holger Klein und Alexandra Tobor. Sehr gut unterhalten hat mich dann auch Alexandra Tobors zweiter Roman Minigolf Paradiso. Seit Langem habe ich mal wieder ein Buch gekauft, nur um der Autorin mal extra etwas zurückzugeben für die vielen unterhaltsamen Stunden.

Die Geschichte ist ein wilder Road Trip mit allerlei Irrungen und Wirrungen. Die jugendliche Malina hadert mit ihrer Mutter, die die polnische Herkunft verleugnet und die Familiengeschichte unter den Teppich kehrt. Als die Eltern auf Urlaub fahren, entdeckt Malina auf einer alten Videokassette einen Hinweis auf den möglichen Aufenthaltsort des totgeglaubten Großvaters. Mangels anderer Verpflichtungen macht sie sich auf, die Familiengeschichte selbst aufzudecken und etwas über ihre Herkunft herauszufinden. Auf der Reise trifft sie Elvis, riesige Plüschbären, Metal-Trolle, verständnisvolle Nonnen und zuletzt auch den Cousin, mit dem sie als Kind vor dem Auswandern gespielt haben soll.

Truth be told: Am meisten Spaß dürften diejenigen mit diesem Buch haben, die jetzt Mitte 30 sind und ihre Jugend in den 90er-Jahren verlebt haben. Das Buch ist gespickt mit Trivia aus der Zeit, die im Betreuten Lesen noch zusätzlich mit weiteren Details ergänzt werden. Bei mir hat der Nostalgiefaktor voll eingeschlagen und in Kombination mit dem flüssigen, originellen Schreibstil liest sich das Buch wie eine Tafel Trauben-Nuss-Schokolade. Empfehlung!

„Dann weißt du ja, dass es manchmal besser ist, irgendwas zu wissen, als gar nichts. Ganz egal, ob es stimmt oder nicht. Das Leben ist zufällig und chaotisch. So etwas wie einen Sinn gibt es nicht. Aber das ist eine sehr grausame Erkenntnis. Sie kann uns in den Wahnsinn treiben. Wenn ich den Leuten Sagen erzähle, die sie mir ihren Ahnen verbinden, gebe ich ihnen ein kleines Stück Kontrolle über ihr Leben zurück.“