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English Jugend Roman

Lois Lowry – Son

CN dieses Buch: Verstümmelung, Krankheit, Sterben
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Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber das Buch hat meine Erwartungen erfüllt und nicht erfüllt. Einerseits werden Menschen zusammengeführt, von denen ich es nicht mehr erwartet hätte und andererseits blieb die zentrale Frage, die am Ende von The Giver offen bleibt (was in der Gemeinschaft passiert, nachdem Jonas sie verlassen hat), ungeklärt. Ob da noch eine Fortsetzung irgendwo lauert? Ich würde jedenfalls gern wissen, was mit dieser Gemeinschaft passiert ist, nachdem all diese Erinnerungen auf die angepassten Menschen in ihrem Alltagstrott losgelassen wurden.

Das Ende dieses Buchs war mir dann ein bißchen zu sehr Hollywood. Dank eines lieben Freundes bin ich nun im Besitz der Film-Version von The Giver und obwohl ich Schlimmes befürchte, plagt mich doch die Neugierde, was die Filmindustrie aus dieser Geschichte gemacht hat.

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English Roman

Liz Moore – The Unseen World

CN dieses Buch: Demenz
CN dieser Post: Demenz


Dieses Buch verflechtet so viele Aspekte, dass ich nicht recht weiß, wo ich anfangen soll, um zu beschreiben, wie großartig diese Geschichte ist. In unterschiedlichen Zeitebenen erfahren wir die Geschichte von Ada (benannt nach der britischen Mathematikerin Ada Lovelace) und David. Ada wächst in einem alternativen, aber sehr förderlichen Familienumfeld mit ihrem Vater David und dessen Arbeitskolleg*innen auf. In ihrem Teenageralter zerbricht diese heile Welt, als Davids Erkrankung an Alzheimer offensichtlich wird. Ada geht zum ersten Mal in ihrem Leben in eine öffentliche Schule und wird konfrontiert mit dem, was David und sie selbst von ihrer Altersgruppe unterscheidet. Das große Thema der Zugehörigkeit (belonging) und der Ausschließlichkeit verschiedener Gruppen wird auf einer Ebene behandelt, die über übliche Identitätsfindungsprozesse im Teenageralter hinausgeht.

But although she was indeed grateful to have it, this token that indicated in some fundamental way that she belonged among her peers, she also sensed the loss of something. Her father’s difference. Her own.

Davids Krankheit verändert Adas Leben auch in einem anderen Bereich. Er hinterlässt ein Rätsel über seine Vergangenheit und seine Identität, das Ada fundamental an sich selbst zweifeln lässt. Gerade im schwierigen Teenageralter muss Ada zwischen mehreren Welten navigieren und ihre eigene bekannte Identität hinterfragen.

[…] she often felt as if there was something fundamentally incorrect about her, as if she were caught between two worlds, a citizen of neither.

Neben dieser Persönlichkeits- und Familienebene behandelt das Buch viele interessante Aspekte aus dem Bereich künstliche Intelligenz. Das Sprachlernprogramm ELIXIR spielt eine wesentliche Rolle in der Enthüllung von Davids Geheimnissen. Aber auch die fundamentale Frage danach, was ein selbstlernendes Computersystem eigentlich vom Menschen unterscheidet, wird gestellt. Diese philosophischen Fragen um künstliche Intelligenz und virtuelle Realität bleiben aber immer eingebettet in Adas Erleben, sie überlagern nicht die menschlichen Fragen sondern erweitern sie auf eine Art und Weise, die charakteristisch dafür ist, wie Computer unser Leben ergänzen können.

Virtual reality, she thought, was the unseen world. Or had the capacity to be. In fact, it could be said that all computer systems were such: universes that operated outside the realm of human experience, planets that spun continuously in some unseeable alternate stratosphere, present but undiscovered.

Das Ende überrascht auf mehreren Ebenen. Die Auflösung habe ich in keinster Weise kommen sehen (ich hoffte natürlich auf eine Lösung des Rätsels und wurde nicht enttäuscht), sie geht sogar noch einen Schritt weiter. Ein großartiger Roman.


Jahresrückblick

Insgesamt habe ich in diesem Jahr 80 Blog Posts verfasst. Das ist deutlich mehr als der Schnitt von etwa einem Buch pro Woche der vergangenen Jahre. Aufgrund der aktuellen Situation kombiniert mit einigen Veränderungen in meinem persönlichen Umfeld hatte ich deutlich mehr Zeit und vielleicht auch Bedarf an Realitätsflucht. Zusätzlich zu diesen 80 neuen Büchern habe ich auch noch 16 Bücher als Re-Reads zu verzeichnen. Womit fast eine Verdoppelung der normalen Zahlen erreicht ist.

Schon beim Blick auf den Januar wird mir klar, dass es kaum möglich sein wird, die Favoriten einzugrenzen. Octavia E. Butlers Parable of the Sower und Parable of the Talents sind jedoch auf jeden Fall dabei. Im April beschloss ich, dass jetzt die Zeit für Harry Potter gekommen wäre. Im Sommer folgte Ransom Riggs Serie um die Peculiar Children. Im Herbst habe ich schließlich mit Game of Thrones begonnen.

Im Bereich Romane möchte ich uneingeschränkte Empfehlungen aussprechen für V.E. Schwab – The Invisible Life of Addie LaRue und Madeline Miller – Circe. Im Non-Fiction-Bereich haben mich persönlich Reshma Saujani – Brave, not perfect und Paul Kalanithi – When Breath Becomes Air am meisten berührt. Auf die letzte Nennung bin ich durch den 3 Books Podcast von Neil Pasricha gestoßen, den ich noch immer sehr gerne höre.

Wie geht’s weiter?

Das wüssten wir wohl alle gerne. Zumindest in den nächsten drei noch eher kühleren Monaten gehe ich davon aus, dass die Lesefrequenz weiter hoch bleiben wird. Sobald es wärmer wird, hoffe ich auf mehr und ausgedehntere Outdoor-Aktivitäten. Beim Durchscrollen der Bücher des Jahres 2020 ist mir auch eine deutliche Tendenz zu Romanen aufgefallen, Fachliteratur bzw. anspruchsvolle Non-Fiction kam kaum vor. Dafür war vielleicht auch einfach die Konzentration nicht da, ich hoffe, dass sich das demnächst wieder einpendelt. Das Einpendeln generell scheint die Hoffnung für dieses Jahr zu sein. Zurück zur Normalität ist mir allein schon von der Begrifflichkeit zuwider und scheint mir auch nicht der richtige Weg zu sein. Jedoch einpendeln von Tag zu Tag, Nachjustieren von Woche zu Woche, Anpassen von Monat zu Monat, das scheint mir ein möglicher Pfad durch diese schwierige Zeit zu sein.

Be patient if you feel anger, fear, grief, or frustration. All things change.

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English Roman

Marylinne Robinson – Home

CN dieses Buch: Alkoholismus, Alter, Sterben
CN dieser Post: –


Maybe she kept the bible out of sight because she was afraid that if he spoke to her that way again she would have to tell him she had no certain notion what a soul is. She supposed it was not a mind or a self. Whatever they are. She supposed it was what the Lord saw when His regard fell upon any of us. But what can we know about that?

Als ich im Oktober mit Gilead begonnen hatte, bemerkte ich erst in der Libby App, dass es sich dabei um eine Serie handelt. Je mehr ich dann gelesen hatte, umso mehr fragte ich mich, wie es hier wohl weitergehen würde. Und die Antwort darauf ist: es geht tatsächlich nicht weiter. In Home erzählt die Autorin erneut dieselbe Zeitspanne, allerdings aus einer anderen Perspektive. Es werden Details enthüllt, die den Blickwinkel aus dem ersten Roman korrigieren bzw. erweitern, speziell auf den im ersten Buch zweifelhaft dargestellten Charakter Jack. Einerseits wird einiges über seine Lebensumstände enthüllt, worüber im ersten Buch nur spekuliert wurde. Andererseits wird das zweite Buch aus der Sicht von Jacks Schwester Glory erzählt und zeigt uns so deutlich mehr davon, was im Haus der Boughtons tatsächlich vorgeht.

Did she choose to be there, in that house, in Gilead? No, she certainly did not. Her father needed looking after, and she had to be somewhere, like every other human being on earth. What an embarrasment that was, being somewhere because there was nowhere else for you to be.

Aus dem Blickwinkel von Reverend Ames in Gilead wirkt Jack wie ein Unruhestifter, der scheinbar zum Spaß religiöse Debatten vom Zaun bricht. In Home wird jedoch klar, dass Jack einfach zutiefst an sich selbst, seiner Familie und deren Glauben zweifelt und eigentlich für sich selbst einen Zugang zum Glauben sucht. Er braucht die Möglichkeit, dass ihm nicht nur sein Vater und seine Schwester seine begangenen Fehler verzeihen werden, sondern dass auch seine Seele gerettet werden kann. Er fragt, ob es Menschen gibt, die böse geboren werden und dann ein entsprechendes Leben leben und unweigerlich in der Hölle landen werden. Er fragt sich, ob er selbst so ein von Grund auf schlechter Mensch ist oder ob es für ihn noch eine Chance gibt, sein Leben zum Besseren zu verändern. Die Antwort bleibt aus.

And his head fell, and it was real regret. He was so tired of himself.

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Roman

Elizabeth Strout – Anything is Possible

We’re all just a mess, Angelina, trying as hard as we can, we love imperfectly.

Hier bin ich wieder überraschend auf einen Roman aus lose miteinander verwobenen Kurzgeschichten gestoßen, wie kürzlich bei Serhij Zhadan – Mesopotamien. Und wieder fiel es mir schwer, die komplexen Beziehungen zwischen den einzelnen Familien im Überblick zu halten, vielleicht sollte ich parallel zum Lesen immer gleich eine Grafik oder Liste aller Personen anfertigen …

Eine der Personen ist Lucy Barton, die in einem anderen Roman derselben Autorin die Hauptfigur ist. Sie hat sich aus den ärmlichen Verhältnissen ihrer Kindheit hochgearbeitet und kämpft nun gleichzeitig mit Schuldgefühlen wegen der zurückgelassenen Geschwister und dem Wunsch, ihre Herkunft so weit wie möglich hinter sich zu lassen.

Ähnlich geht es auch anderen Figuren in diesem Buch. Sie können ihre Vergangenheit nicht abstreifen. Selbst, wenn sie sich gegenüber den elterlichen Verhältnissen „hochgearbeitet“ haben, fühlen sie noch immer den „Blick nach unten“, der sie von anderen Gesellschaftsgruppen abgrenzt. Besonders deutlich thematisiert wird das im Kapitel Dottie’s Bed & Breakfast, indem sich die Arztgattin zuerst bei Dottie alles Mögliche von der Seele redet, um dann hinter ihrem Rücken über die Gastgeberin herzuziehen.

Beinahe alle Geschichten befassen sich mit irgendwelchen menschlichen Abgründen, manche Protagonist*innen sind fast unerträglich in ihrer Scheinheiligkeit oder Grausamkeit, andere wiederum erwecken hauptsächlich das Mitleid der Leserin. Genau genommen will uns die Autorin „nur“ zeigen, dass alles im Leben möglich ist.

Anything is Possible.

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Kinder

P. L. Travers – Mary Poppins

Wir sind alle aus dem gleichen Stoff gemacht, vergiß es nicht, wir aus dem Dschungel und ihr aus der Stadt. Wir bestehen aus dem gleichen Stoff – der Baum über uns, der Stein neben uns, der Vogel, das Tier, der Stern – wir alle sind eins und gehen demselben Ende entgegen.

Schon als Kind liebte ich Musicalfilme und neben Tschitti Tschitti Bäng Bäng (wo in der deutschen Übersetzung der feine Wortwitz des Namens der weiblichen Protagonistin Truly Scrumptious leider völlig verloren geht, das hab ich erst Jahre später verstanden) war Mary Poppins auch einer meiner Lieblingsfilme. Daher habe ich das Buch auch aus einem Erbe behalten, daher weiß ich auch ungefähr, dass es schon mindestens 8 Jahre im Regal der ungelesenen Bücher steht.

Beim Lesen erinnerte ich mich dann an die Musicalversion, die im Jahr 2004 in London Premiere feierte und dass in den Kritiken damals zu lesen war, dass diese Musical-Mary-Poppins deutlich düsterer und sperriger wäre als Julie Andrews im Disney-Film von 1964. Das mag von der Gesamtstimmung her näher an der Buchvorlage liegen, denn hier ist Mary Poppins keinesfalls das strenge, aber immer fröhliche Kindermädchen, sondern durchaus launisch, eitel und ungeduldig.

Die Diskrepanz fühlt sich für mich in etwa so an, wie die zwischen der Musicalversion von Wicked und der Buchvorlage Wicked von Gregory Maguire. Die wesentlichen Personen sind großteils vertreten, ihre Geschichten und Eigenschaften werden jedoch im Musical bzw. Film deutlich anders wiedergegeben oder durch Geschichten erweitert, die ein Happy End oder große szenische Auftritte erlauben. Im Buch zu Mary Poppins kommt Bert nur in einer winzigen Rolle als Streichholzmann vor, während Dick Van Dyke als Bert im Film eine wichtige Rolle bei den Ausflügen spielt, die Mary Poppins mit den Kindern unternimmt (ein romantisches Verhältnis zwischen Mary und Bert wird sehr vage angedeutet). Die Mutter von Jane und Michael (und im Buch auch der Zwillinge John und Barbara, die im Film keinen Platz finden) spielt im Buch nur eine winzige Nebenrolle, während sie im Film als kämpferische Suffragette auftritt.

We’re clearly soldiers in petticoats, and dauntless crusaders for women’s a-votes! Though we adore men individually, we agree that as a group they’re rather stupid.

Kürzlich kam in einem Podcast wieder mal das Thema auf, ob zuerst das Buch gelesen oder dann der Film geschaut werden sollte, oder jedenfalls nur das eine oder andere, weil beides zu konsumieren immer zur Enttäuschung führt. Im Hinblick auf Mary Poppins kann ich jetzt sagen, dass die Filmversion einfach derart tief in meiner Kindheit verankert ist, dass ich dem Buch nicht viel abgewinnen konnte.

Randnotiz: Kürzlich habe ich beschlossen, dass dieser Winter die richtige Zeit für A Song of Ice and Fire bzw. Game of Thrones ist. Ich fange demnächst mit dem ersten Buch an und werde mal sehen, ob ich dann auch Lust auf die Serie haben werde. Alternativen wären nämlich auch die Serie, die auf Big Little Lies basiert oder Little Fires Everywhere (wo ich ebenfalls zwischen Buch und Serie wählen kann).

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Roman

Marilynne Robinson – Gilead

I’ve often been sorry to see a night end, even while I have loved seeing the dawn come.

Dieses Buch stand lange ganz oben auf der Liste der interessanten Bücher, was hauptsächlich daran liegen dürfte, dass ich es zu dem Zeitpunkt hinzugefügt hatte, als ich das letzte Mal meine diesbezüglichen Aufzeichnungen in ein anderes System (aktuell ein Spreadsheet mit Filtermöglichkeit danach, wo die jeweiligen Bücher verfügbar sind) transferiert hatte. Das dürfte im Sommer 2016 gewesen sein.

Mir war nicht bewusst gewesen, dass es sich um eine Reihe handelt (Gilead – Home – Lila), von der aktuell gerade der vierte Band mit dem Titel Jack erschienen ist. Obwohl ich große Schwierigkeiten hatte, mich in dieses Buch wirklich hineinzuversetzen, bin ich nun trotzdem neugierig, wie daraus eine Reihe werden soll.

Another morning, thank the Lord. A good night’s sleep, and no real discomfort to speak of.

Der Ich-Erzähler des Romans ist ein Mann am Ende seines Lebens, er fühlt das schrittweise Versagen seines Körpers und versucht, dankbar für jeden weiteren Tag zu sein, den er mit seiner deutlich jüngeren Frau und seinem Sohn verbringen kann. Er ist außerdem Priester und hadert mit sich selbst und den (negativen) Gefühlen, die er dem Sohn des Freundes (Jack) entgegenbringt. Das Geschriebene ist an den eigenen Sohn gerichtet, der diese Aufzeichnungen nach dem Tod des Vaters erhalten soll, dient aber eigentlich dem Nachsinnen über das Altern, über das Zurücklassen von Menschen, über das Gute und Böse an sich.

But are there people who are simply born evil, live evil lives, and then go to hell?

Passend zur „aktuellen Situation“ fand ich eine kurze Passage, die die Zeit der Spanischen Grippe beschreibt:

We lost so many of the young people. And we got off pretty lightly. People came to church wearing masks, if they came at all. They’d sit as far from each other as they could.

Notiert hatte ich mir das Buch übrigens aufgrund einer Empfehlung von Nick Hornby in All You Can Read. Er schreibt sinngemäß, dass die Begleitumstände, in denen wir Bücher lesen, unsere Wahrnehmung davon beeinflussen: ein Phänomen, das ich auch immer wieder an mir wahrnehme. Er schreibt über den Seelenfrieden, der sich in Gilead ausbreitet und den er zu diesem Zeitpunkt gerade dringend brauchte. Möglicherweise hätte ich mehr daraus ziehen können, hätte ich mir diese Empfehlung vorher nochmal durchgelesen und nicht die ganze Zeit darauf gewartet, dass etwas passiert. Es ist weniger eine Geschichte als eine Meditation über die Themen, die am Ende unseres Lebens noch wichtig sind und wie wir mit diesen Frieden machen können.

If you think how a thing we call a stone differs from a thing we call a dream – the degrees of unlikeness within the reality we know are very extreme, and what I wish to suggest is a much more absolute unlikeness, with which we exist, though our human circumstance creates in us a radically limited and peculiar notion of what existence is.

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Roman

Gertraud Klemm – Aberland

Warum wir nicht Papas Geld nehmen? Schon das Kindergartenkind hat ein Gespür für die Heilsversprechen konservativer Familienpolitik, […]

Dieses Buch erzählt abwechselnd aus den Leben von Franziska und Elisabeth, (es folgt ein kleiner Spoiler), wie sich Stück für Stück herausstellt, ist Elisabeth Franziskas Mutter. Beide reflektieren über ihr Leben, mit ihren Kindern, mit ihren Ehepartnern, über die Rollen von Frauen, die sich zwischen den Generationen leider nur sehr marginal verändert haben.

[…] sie hat kein schlechtes Gewissen mehr, immerhin ist sie Mutter, sie wird sicher bald schwanger und dann hat sie noch neun Monate, streng genommen ist sie in der Endphase ihrer Doktorarbeit, Mutter, und Veganerin ist sie jetzt auch noch, und burnoutgefährdet; irgendwo muss man Abstriche machen.

Franziska ringt mit ihrem Leben. Dem Sohn zuliebe hat sie ihre Dissertation unterbrochen; die Frage, warum Mama überhaupt arbeiten muss, wo doch Papa ohnehin Geld hat, ist einem Dreijährigen kaum zu erklären. Franziskas Ehemann wünscht sich (mindestens) ein zweites Kind, während Franziska nur aufatmet, dass Manuel endlich „aus dem Gröbsten raus ist“.

Franziska, das Gegenteil. Immer schon eine kleine Erwachsene, mit ihrer schlechten Laune und dem Verantwortungsgefühl für die ganze Welt. Als Kind schon mit der Furche zwischen den Augenbrauen, mit den strengen Gesetzen, die zu befolgen sie sich zwang.

Franziska fühlt sich offensichtlich von den unzähligen an sie gerichteten Erwartungen unterdrückt, Elisabeth hingegen urteilt, dass Franziska sich immer schon an von ihr selbst aufgelegte Regeln hielt. Vielleicht kann beides nebeneinander Richtigkeit haben, denn auch der Widerstand gegen gesellschaftlich auferlegte Normen kostet Kraft. Aus einer sicheren Position heraus ist es oft einfacher, sich den Normen anzupassen, als gegen sie zu kämpfen.

Etwas von ihr musste übrig bleiben, für die Zeit danach, wenn Manuel groß ist, dann ist sie Mitte fünfzig, was ist dann, welche Bedeutung hat sie dann, […]

Zwischen ihrer Dissertation, dem Haushalt, der Ehe, dem Kind sucht Franziska nach dem, was von ihr selbst eigentlich übrig bleibt. Der ständige Vergleich mit den anderen scheinbar perfekten Müttern tut sein Übriges, um das Wohlbefinden zu beeinträchtigen. 

[…] wie machen die das, die beruflich erfolgreichen Mütter, die ihr Recht auf Bildung eingelöst und sich trotzdem nicht der Fortpflanzung verweigert haben, wie sieht es bei denen zu Hause aus, stapeln sich da der Dreck und die Rechnungen?

Diese Aufzählung von weiblichen Klischees könnte lustig sein, wenn sie nicht so viel Wahrheit beinhalten würde. Für eine Satire fehlt jedoch der Biss, das Leben der beiden Frauen plätschert zwischen Gesellschaft und Familie dahin. Die Gewöhnlichkeit trieft zwischen den Zeilen durch.

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English Erfahrungsbericht Memoir

Glennon Doyle – Untamed

How much of this was my idea? Do I truly want any of this, or is this what I was conditioned to want? Which of my beliefs are of my own creation and which were programmed into me?

Im November 2017 habe ich Glennon Doyles Memoir Love Warrior gelesen und mich damals eher nur peripher mit ihren Erfahrungen identifiziert. Das ist bei ihrem neuen Buch Untamed deutlich anders gewesen. Das mag jetzt daran liegen, dass sie selbst (und ihre Lebensgestaltung) sich in der Zeit zwischen den Büchern sehr verändert haben, könnte aber auch damit zu tun haben, dass ich mich in dieser Zeit verändert habe. Vermutlich eine Kombination aus beidem.

What matters is not what is real, but what I can convince others is real. What matters is not how I feel inside, but how I appear to feel on the outside.

Auch in diesem Buch setzt sie sich damit auseinander, wie Frauen mit den Erwartungen umgehen, die von außen an sie herangetragen werden oder wie sie schreibt, die „in uns hineinprogrammiert werden“. Als Kinder wachsen wir auf und erleben die Welt und nehmen das, was wir dort erleben, als die Norm an, als das, wie die Welt ist. Wir kennen nur diese Wahrnehmung und nehmen daher an, dass die Welt für alle so ist, wie sie uns gerade erscheint. Wir sehen Frauen und Männer bestimmte Rollen ausüben, wir sehen ein bestimmtes dominantes Familienbild und nehmen an, dass das Leben so zu sein hat.

All of those differing opinions meant that I quite literally could not please everyone. That was a relief. When a woman finally learns that pleasing the world is impossible, she becomes free to learn how to please herself.

Wie ich schon im letzten Blog Post zu Brave, not perfect schrieb, ist es als Frau und speziell als Mutter unmöglich, alle Erwartungen zu erfüllen. Das kann eine Belastung sein, die uns Tag für Tag runterzieht, wir könnten es aber auch als Befreiuung betrachten. Wenn es den richtigen Weg nicht gibt, können wir genauso gut auf uns selbst hören und den für uns richtigen Weg finden.

I have to search for and depend upon the voice of inner wisdom instead of voices of outer approval. This saves me from living someone else’s life.

Für mich stellt sich auch oft die Frage, was denn jetzt die richtige Entscheidung, die richtige Handlung, der richtige Weg ist. Bei großen Entscheidungen habe ich dabei meistens auf meine innere Stimme gehört, bei kleineren (alltäglichen) Entscheidungen neige ich dazu, mich an gesellschaftlichen Normen zu orientieren. Bis zu einem gewissen Grad halte ich das auch für sinnvoll und notwendig, wir können nicht bei jeder alltäglichen Entscheidung das Rad neu erfinden. Normen helfen uns, uns in der Welt zurecht zu finden und nicht aus jeder Kleinigkeit eine existenzielle Lebensentscheidung zu machen. Schwierig ist es nur, den Punkt zu finden, wo Normen uns mehr schaden, als sie uns helfen. Und dann dort eine Grenze zu setzen und sich für das zu entscheiden, was für uns selbst richtig ist.

The norms were created by somebody, and each of us is somebody. We can make our own normal. We can throw out all the rules and write our own. […] We can stop asking what the world wants from us and instead ask ourselves what we want for our world.

Die Autorin bezieht sich dabei auf das Gestalten ihrer neuen Familie. Wie die Leserin aus Love Warrior bereits weiß, ist die Ehe mit Craig mit Schwierigkeiten und Missverständnissen gepflastert. Erst die Scheidung führt dazu, dass die beiden gemeinsam Eltern sein können, ohne Lebenspartner im romantischen Sinn sein zu müssen und dies eröffnet beiden die Möglichkeit, ihr eigenes Leben so zu gestalten, wie es sich richtig anfühlt, ohne das Gegenüber damit zurückzuhalten.

Freedom is not being for or against an ideal, but creating your own existence from scratch.

Selbstverständlich ist für Kinder die Scheidung der Eltern schwer zu verarbeiten. Wenn aber beide Elternteile daran arbeiten, es für die Kinder verständlicher und erträglicher zu machen, dann ist eine Scheidung die bessere Lösung als eine unglückliche Ehe.

Brave does not mean feeling afraid and doing it anyway. Brave means living from the inside out. Brave means, in every uncertain moment, turning inward, feeling for the Knowing, and speaking it out loud.

Es war ein Zufall, dass diese beiden Bücher (Brave, not perfect und Untamed) direkt hintereinander hier im Blog erscheinen. Auf Untamed habe ich wochenlang gewartet, in der Overdrive eLibrary der Büchereien Wien waren drei Kopien vorhanden, aber es warteten immer mehr als 10 Personen darauf. Manchmal können diese Zufälle aber auch interessante Kombinationen an Blickwinkeln hervorrufen. Wie im obigen Zitat beschrieben, geht es bei brave (die deutschen Adjektive mutig, tapfer, heldenhaft, unerschrocken passen für mich irgendwie alle nicht) nicht darum, die Angst zu überwinden. Es geht vielmehr darum, auf uns selbst zu hören und das für uns Richtige zu tun, auch wenn das nicht zwingend das sein wird, was andere erwarten. Es ist nicht brave, in einer Situation auszuharren, die uns unglücklich macht, obwohl wir auch einfach aufstehen und gehen könnten.

If you let yourself shatter and then put yourself back together, piece by piece, you wake up one day and realize that you have been completely reassembled.

Mit ihrer Geschichte macht die Autorin auch Mut, in schwierigen Situationen weiterzumachen. Auch wenn es uns manchmal so erscheint, als gäbe es keine Lösungen, als wäre alles so unendlich kaputt, dass es sich nie mehr zusammensetzen lässt, gibt es immer einen nächsten Schritt. Und aus jeder Krise können wir etwas lernen, gestärkt hervorgehen. Ich muss zugeben, dass ich mit ihrem Ansatz „dort hinhören, wo der Schmerz ist und dann herausfinden, was uns der Schmerz mitteilen will und daraus etwas Gutes machen/etwas lernen“ bisher im Alltag wenig Erfolg hatte, aber ich vermute mal, das geht nicht von einer Sekunde auf die andere. Es gibt immer einen nächsten Schritt. Manchmal sehen wir den erst nach einer Pause, aber es gibt immer einen nächsten Schritt. Nehmen wir uns die Zeit, mehr auf uns selbst zu hören und sehen wir, was dabei herauskommt.

No one can be a supporting actor in someone else’s storyline. They can pretend to, but they will always have subplots brewing inside and unfolding outside.

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Roman

Rasha Khayat – Weil wir längst woanders sind

Und dann werde ich runtergehen zu den anderen und meine Schwester, so wie sie war, für immer verlieren.

Die Autorin beschreibt in diesem Buch den Versuch, „Worte und Bilder zu finden für das Gefühl der Fremdheit im außen“. Wie auch ihre Protagonist*innen Basil und Layla hat sie ihre Kindheit zum Teil in Saudi-Arabien und in Deutschland erlebt. In einem persönlichen Essay, der der Geschichte angeschlossen ist, beschreibt sie, wie sich durch Anpassung, die oft geforderte Integration in die neue Kultur gleichzeitig eine Entfernung zur Familie auftut.

Und gleichzeitig, das merkte ich aber erst sehr viel später, entfernte es mich immer weiter von der Familie, mit der ich dieses Gefühl der Fremdheit teilte, die Sehnsucht nach Zurückgelassenem, nach Petersilie und frischem Koriander.

Basil reist aus seinem Lebensmittelpunkt Hamburg nach Jeddah in Saudi-Arabien zur Hochzeit seiner Schwester Layla. Stück für Stück wird die Geschichte der Familie enthüllt: der Vater Tarek, der von seiner Familie für ein Medizinstudium nach Deutschland geschickt wird und dort schließlich ein deutsches Mädchen heiratet, Barbara. Wie die Kinder zuerst innerhalb der arabischen Großfamilie in Jeddah aufwachsen und den Urlaub bei den deutschen Großeltern verbringen. Worauf dann aber die Entwurzelung folgt, als die Eltern permanent in Deutschland bleiben, damit Tarek seine Ausbildung weiter fortsetzen kann.

Während Basil sich bei der Rückkehr in den familiären Hafen unwohl und fremd fühlt, scheint es für Layla umgekehrt zu sein. Sie hat sich in der deutschen Kultur niemals wirklich willkommen gefühlt und kehrt nun zur Familientradition zurück.

Alles ist immer schwer und zerrissen, immer nur soll man Ecken und Enden von sich abschleifen, soll still sein oder zurückhaltend oder seine Liebe nicht zeigen.

Die Geschichte zeigt sehr deutlich, dass das Aufwachsen in zwei verschiedenen Kulturen für Kinder gleichzeitig bereichernd und anstrengend sein kann. Das Gefühl das Dazugehörens (belonging) kann durch Migration nachhaltig beschädigt werden. Im neuen Land wird Anpassung verlangt und jeder Schritt der Anpassung kann aber zur Entfremdung von der eigenen Kultur und Familie führen. Es ist eine Gratwanderung, die von Migrant*innen unterschiedlich bewältigt wird.

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English Memoir

Tara Westover – Educated

In retrospect, I see that this was my education, the one that would matter: the hours I spent sitting at a borrowed desk, struggling to parse narrow strands of Mormon doctrine in mimicry of a brother who’d deserted me. The skill I was learning was a crucial one, the patience to read things I could not yet understand.

Dieses Buch wurde von Parnassus und sicher auch auf Lithub viele Male empfohlen, ich hatte es auf meiner Leseliste in der Overdrive eLibrary App, lange war es nicht verfügbar. Inzwischen wusste ich absolut nicht mehr, was mich überhaupt erwartet und war dann doch eher erstaunt und getroffen von der schonungslosen Erzählung des Aufwachsens einer Mormonin, deren Mutter allein auf die Heilkraft von Kräutern vertraut und deren Vater sich auf den nahenden Weltuntergang vorbereitet.

What was important to me wasn’t love or friendship, but my ability to lie convincingly to myself: to believe I was strong.

Die Autorin berichtet von Manipulation und Gewalt durch einen ihrer Brüder, geduldet durch ihre Eltern und die einzige Möglichkeit, die ihr blieb, um trotzdem zu überleben: sich selbst einzureden, dass nichts sie berühren kann.

I had come to belive that the ability to evaluate many ideas, many histories, many points of view, was at the heart of what it means to self-create.

Als sie schließlich gegen den Willen ihrer Eltern aufs College geht, wird ihr klar, wie klein ihre Welt bisher war und wie viel Wissen ihr vorenthalten wurde. Diese neue Weltsicht entfremdet sie endgültig von ihrer Familie. Sie scheitert an dem Versuch, zuhause eine andere zu sein als sie am College ist. Eine bedrückende und beeindruckende Entwicklungsgeschichte.