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English Jugend Roman

Genzaburo Yoshino – How Do You Live?

CN dieses Buch: Tod eines Elternteils, Mobbing, Armut
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We have the power to decide on our own who we will be. Therefore, we will make mistakes. However –
We have the power to decide on our own who we will be. Therefore, we can also recover from mistakes.

Der Fotograf hatte ein Lokal für das Mittagessen vorgeschlagen, drei Türen weiter befand sich der English Book Store Love Story of Berlin, den Rest könnt ihr euch dazu denken, oder? Schweren Herzens habe ich mich entschlossen, nur ein Buch zu kaufen (ja, ok, das andere, das in der engeren Auswahl war, hab ich dann woanders gekauft, dazu später mehr …). Dieses war in einer Ecke in Szene gesetzt und mit einer speziellen Empfehlung des Personals versehen. Dazu noch der Titel und das wunderschöne Cover und ich konnte nur zugreifen.

Buchgeschäft, Schild mit dem Namen „Love Story of Berlin – English Book Store“, neben der Tür ein Schild mit dem Text „The answers you get from literature depend on the questions you pose“, im Vordergrund ein Buch mit dem Titel „How do you live?“ von Genzaburo Yoshino

Das Buch erzählt aus der Perspektive eines männlichen Teenagers, der sich mit philosophischen Fragen um das Funktionieren der Gesellschaft und ihrer (Un-)Gerechtigkeiten auseinandersetzt. Im Austausch mit seinem Onkel zeigt Copper stets eine erstaunliche Weitsicht für sein Alter, er scheitert jedoch immer wieder an der Umsetzung seiner Ideale in seinem Alltagsleben.

Copper had an odd feeling. The watching self, the self being watched, and furthermore the self becoming conscious of all this, the self observing itself by itself, from afar, all those various selves overlapped in his heart, and suddenly he began to feel dizzy.

Die Distanziertheit der japanischen Gesellschaft ist mir auch in diesem Buch wieder sehr deutlich bewusst geworden (zuvor zB auch in Strange Weather in Tokyo). Copper und seine aufgeklärten Freund:innen fühlen sich nicht wie reale Jugendliche an, das gelingt nur bei den antagonistischen Bully-Figuren, die wirken sehr überzeugend. Das sagt uns vermutlich, dass sich die Bully-Figuren in den Jahrzehnten (!), die seit der Veröffentlichung dieses Buchs vergangen sind, nicht wesentlich verändert haben. Bruno Navasky, der das Buch ins Englische übersetzt hat, erklärt in seinem Nachwort auch den Hintergrund, vor dem diese Geschichte entstanden ist. Erstmals veröffentlicht 1937 in einem autoritären Umfeld, in dem Kritik an der japanischen Regierung per Gesetz verboten wurde, enthält das Buch deutliche Aufrufe, selbst zu denken und sich für seine Mitmenschen einzusetzen:

[…] it also contains many lessons, and a quiet but powerful message on the value of thinking for oneself and standing up for others during troubled times.

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English Roman

Elizabeth Strout – Olive, Again

CN dieses Buch: Suizid, Sterben
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People either didn’t know how they felt about something or they chose never to say how they really felt about something. And this is why he missed Olive Kitteridge.

Da mir das erste Buch mit Geschichten um Olive Kitteridge so gut gefallen hat, und gerade auch wirklich eine Zeit für diese Art von Lektüre ist, habe ich mir gleich das zweite Buch ausgeliehen. Und bin jetzt schon traurig, dass es vermutlich kein weiteres Buch mehr mit ihr geben wird.

This is a hell of a world we live in. […]
Such a simple statement, but it was completely true.

Zu beschreiben, warum diese Geschichten so beruhigend auf mich wirken, ist mir schon beim ersten Buch nicht gut gelungen. Jetzt, wo sich die Leserin mit der Sprödigkeit und dem Unverständnis von Olive für bestimmte Lebenshaltungen und Werte akklimatisiert hat, kommt allerdings noch mehr zum Tragen, was sie eigentlich auszeichnet. Sie kann die wahre Traurigkeit in den Menschen, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden, wahrnehmen und bestätigen. Gleichzeitig ist ihr aber vollkommen unklar, was mit der Beziehung zu ihrem eigenen Sohn und seiner Familie nicht stimmt.

For a long time, Olive sat on the bed; she was just looking through the glass at the dark field. It seemed to her she had never before completely understood how far apart human experience was.

Am meisten berührt hat mich die Geschichte mit der Poetin Andrea. Olive führt mit ihr im Diner ein spontanes Gespräch über die Einsamkeit, hauptsächlich über Andreas einsames Leben aufgrund ihrer relativen Berühmtheit. Andrea veröffentlicht später ein Gedicht, das Olive zwar nicht beim Namen nennt, aber so deutlich beschreibt, dass es eindeutig ist, wer gemeint ist. In dem Gedicht schreibt Andrea Olive die gesamte Einsamkeit zu. In der Reflexion über dieses Gespräch (aus der auch das obige Zitat stammt) scheint Olive erst wirklich klar zu werden, wie unterschiedlich menschliche Empfindungen und Wahrnehmungen sein können. Sie lernt aus diesem Gespräch. In vieler Hinsicht steht Olive fest zu ihrer Meinung und lässt diese auch durch nichts und niemanden erschüttern. Aber dort, wo es um tief gehende menschliche Emotionen geht, dort kann sie und dort können wir alle immer noch etwas lernen.

You all know who you are. If you just look at yourself and listen to yourself, you know exactly who you are. And don’t forget it.

In einer anderen Geschichte erzählt eine ehemalige Schülerin von Olive, wie ihnen die Lehrerin Mrs. Kitteridge damals den Rat gegeben hat, nur auf sich selbst zu hören. Wir wissen bereits, wer wir sind, wir müssen uns nur die Zeit nehmen, auf uns selbst zu hören und uns nicht ablenken lassen von den Erwartungen der Gesellschaft oder dem, was andere Menschen für oder von uns wollen. Ein wunderbarer Rat für junge Menschen, aber auch für ältere Semester, die sich ihres Weges nicht mehr sicher sind.

Brené Brown schließt ihren Podcast Unlocking Us meistens (immer?) mit diesem Satz:

Stay awkward, brave and kind.

Genau das sehe ich in Olive Kitteridge. Genau das würde ich mir wünschen, in mir selbst und in anderen Menschen zu sehen.

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English Roman

Elizabeth Strout – Olive Kitteridge

CN dieses Buch: Suizid, Sterben
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Stupid – this assumption people have, that things should somehow be right.

Zu Beginn weißt du nicht, was du mit dieser Protagonistin anfangen sollst. Sie ist augenscheinlich kein sympathischer Mensch. Olive ist ungeduldig, direkt und verständnislos gegenüber Gejammer oder alltäglichen Sorgen. Sie erscheint harsch und spröde; die Bekannten aus der Kleinstadt fragen sich, wie ihr Mann es mit ihr aushält. (Tatsächlich hält er es nicht mit ihr aus, er akzeptiert und liebt sie einfach so, wie sie ist.)

Who, who, does not have their basket of trips? […] She thinks of Eddie Junior down there skipping stones, and she can only just remember that feeling herself, being young enough to pick up a rock, throw it out to sea with force, still young enough to do that, throw that damn stone.

Und doch ist Olive genau dann verständnisvoll, wenn ihre Mitmenschen in Notlagen sind. Dann kann sie schlicht die Situation anerkennen (so, you’re in hell). Was in solchen Situationen schon oft das Einzige ist, was wir für die Menschen, die da gerade durch müssen, tun können: anerkennen, dass sie gerade das Schlimmste erleben und mit ihnen in diesem Schmerz bleiben.

One afternoon as she was typing, her hand began to shake. When she held up her other hand, it was shaking too. She felt the way she had on the Greyhound bus that weekend Jace had told her about the blonde, when she kept thinking: This can’t be my life. And then she thought that most of her life she had been thinking: This can’t be my life.

Gleichzeitig ist das Buch eine Hymne an das Leben. Eine Aufforderung, unsere Zeit nicht zu verschwenden an Menschen, die uns nicht gut tun. Ein Aufruf, nicht aufzugeben, niemals das Leben einfach nur vorbeiziehen zu lassen, so schwer es manchmal auch sein mag.

Ich könnte noch mehr schreiben, aber das würde diesem Buch nicht gerecht. Wem das nicht reicht: The 2009 Pulitzer Prize Winner in Fiction. 

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English Roman

Celeste Ng – Little Fires Everywhere

CN dieses Buch: sexuelle Handlungen
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Sometimes just when you think everything’s gone, you find a way.

Mir fehlen beinahe die Worte, um die Großartigkeit dieses Romans zu beschreiben. Ich fühlte mich erinnert an Liane Moriartys Big Little Lies, das ich auch euphorisch gefeiert habe. Die Geschichte beinhaltet so viele Zwischentöne, behandelt so viele Themen und verwebt sie in ein beeindruckendes Spannungsgeflecht. Die Charaktere sind so fein gezeichnet, dass ich mich abwechselnd mit unterschiedlichen Protagonist*innen identifiziert habe, je nach der Situation, mit der sie gerade konfrontiert waren. Die Geschichte werde ich keinesfalls erzählen, da müsst ihr das Buch schon selbst lesen, ich möchte aber unbedingt einige Aspekte hervorheben, die hier thematisiert werden.

After all, were they not smarter, wiser, more thoughtful and forethoughtful, the wealthiest, the most enlightened? Was ist not their duty to enlighten others? Didn’t the elite have a responsibility to share their well-being with those less fortunate?

Die Familien, die hier miteinander interagieren, entstammen unterschiedlichen sozialen Milieus. Vielschichtige Emotionen prägen die Begegnungen: Die finanziell gut gestellten Richardsons bemitleiden die finanziell weniger stabile Familie, fühlen sich überlegen und gleichzeitig verpflichtet, zu helfen und zu teilen. Mia legt jedoch schlicht mehr Wert auf das, was für sie wichtig ist: ihre Tochter und ihre Kunst. Ein riesiges Haus und jede Menge Besitztümer haben für sie einfach nicht denselben Wert wie die Zeit, die sie ihrer Kunst widmen kann.

Anything had the potential to transform, and this, to her, seemed the true meaning of art.

Mias Kunstwerke spielen eine große Rolle in der Entfaltung der Geschichte. Das Foto aus der Kunstausstellung führt schließlich auf die Spur ihrer Vergangenheit. Die Autorin lässt ihren Blick auf die Welt durchscheinen, die Perspektive der Künstlerin, die alles einer näheren Betrachtung für würdig hält, die genauer hinschaut, die die nicht offensichtlich sichtbaren Teile aufdeckt, die nicht an der Oberfläche bleibt. Im das Buch abschließenden Interview erklärt Celeste Ng, warum gerade die Fotografie sie persönlich interessiert:

Photography is particularly interesting to me because it’s often seen as objective – after all, the camera captures what it sees – but it’s also inherently subjective: so much depends on the framing of the photograph, deciding what gets included and what gets left out, how it’s shown.

Irgendwann hatte ich mal darüber geschrieben, welche interessanten Verbindungen sich oft finden lassen zwischen Büchern, die wir in knappem Abstand voneinander lesen. Ich hatte mich gefragt, ob diese Verbindungen zufällig zustande kommen bzw. ob wir sie überhaupt nur sehen, weil wir die Bücher in diesem Zusammenhang lesen oder ob wir die Bücher gerade deshalb unbewusst auswählen, weil sie uns Zusammenhänge aufzeigen. Bei diesem Zitat musste ich an Change Agent denken, wo die Frage, wo wir unterschiedlich urteilen, wenn wir selbst betroffen sind, ebenfalls gestellt wurde:

Yet when personally affected by the issues, even idealists often end up making selfish choices with far-reaching effects. […] Where do we follow the rules, and where do we justify breaking theam?

Die Geschichte spielt Ende der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, einer Zeit, in der Pager gerade erst modern wurden und Menschen nicht in ständigem Kontakt waren und unter anderem durch Zettelnachrichten Verabredungen trafen. Das ermöglicht unter anderem eine Auseinandersetzung mit der in den letzten Jahrzehnten weit verbreiteten Aussage, dass Hautfarbe bzw. ethnische Herkunft keine Rolle spiele. Viele Menschen behaupteten damals (und manche behaupten es noch), sie würden keine Unterschiede sehen, womit sie vermutlich meinen, sie selbst würden alle Menschen gleich behandeln unabhängig von ihrer Hautfarbe und ethnischen Herkunft. Tatsächlich führt das Ignorieren dieser Unterschiede aber eher zum Ignorieren der Ungerechtigkeiten, die auch heute immer wieder zu Tage treten (siehe #BlackLivesMatter).

Now we’re starting to be aware of the problems with not “seeing race”: ignoring race means ignoring longstanding problems and history, as well as ignoring important aspects of a person’s identy.

Nicht zuletzt enthält die Geschichte auch eine feministische Komponente. Einerseits sind alle beteiligten Frauenfiguren auf ihre Art emanzipiert. Gleichzeitig verkörpert aber Mrs. Richardson den Typ, der sich an die Regeln hält, während Mia sich die Freiheit herausnimmt, ihr Leben nach ihren eigenen Regeln zu gestalten. Dieses Zitat verdeutlicht diesen Konflikt, der oft dazu führt, dass Frauen sich gegenseitig verurteilen, anstatt sich zu unterstützen (get back in line):

You can’t just do what you want, she thought. Why should Mia get to, when no one else did?

Nicht umsonst wurde diese Geschichte als Serie verfilmt. Wirklich aufmerksam wurde ich auf das Buch jedoch durch den Podcast Unlocking Us von Brené Brown, die dieser Geschichte gleich zwei Episoden gewidmet hat: Ein Interview mit der Autorin Celeste Ng sowie ein Gespräch mit den Hauptdarstellerinnen der Serie Reese Witherspoon und Kerry Washington. Sowohl für das Buch als auch für den Podcast möchte ich eine herzliche Empfehlung aussprechen.

All her life, she had learned that passion, like fire, was a dangerous thing. It so easily went out of control.

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English Krimi Roman Thriller

Daniel Suarez – Change Agent

CN dieses Buch: Mord, Totschlag, Gewalt, Folter
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I’m arguing that what can happen will happen, but that it’s better that the research take place in the light of day rather than in the dark corners of the world.

Daniel Suarez schreibt ganz ausgezeichnete Technologiethriller (bisher gelesen: Daemon, FreedomTM, Kill Decision, Influx). Es ist erstaunlich, wie er sich immer wieder etwas ausdenkt, das einerseits gerade noch nicht möglich ist, aber andererseits mit aktuellen Thematiken dermaßen verknüpft ist, dass sich viele moralische und ethische Fragen zwischen den Zeilen verstecken lassen. Die Basis-Prämisse dieser Geschichte ist die Entdeckung einer Substanz, die die DNA von erwachsenen, lebenden Menschen verändern kann. Somit besteht die Möglichkeit, mit dem DNA-Profil einer anderen Person einen optischen und genetischen Klon zu erstellen. Was in erster Linie die Frage aufwirft, was eine Person eigentlich ausmacht. Kann die Veränderung von DNA und Physiognomie zu verändertem Verhalten führen? Oder ist es die extreme Situation, die den Protagonisten Kenneth Durand zu Handlungen treibt, die ihm vor seiner DNA-Veränderung vollkommen unmöglich erschienen?

He suddenly wondered what Kenneth Durand was doing here. […] The Kenneth Durand he’d thought he was would never have considered this.

Womit wir bei der Technologie wären: wenn von einer Technologie, von der du denkst, dass es sie eigentlich gar nicht geben dürfte, dein eigenes Leben abhängt, was wirst du dann tun? Kenneth Durand bekämpft Verbrechen im Bereich der illegalen Genetik. Als er durch die neuartige Substanz genetisch und optisch in einen anderen Menschen verwandelt wird, gibt es für ihn jedoch keine Möglichkeit, sein altes Ich zurückzubekommen, ohne selbst diese Technologie zu nutzen und dadurch seine Werte in Frage zu stellen.

Beaming imagery directly onto a viewer’s retinas instead of spraying photons all over the place had many advantages – authentic augmented reality being one. Environmental sustainability another. Privacy another still.

Neuartige Technologien beamen nun Informationen direkt in die Retina der Menschen, die Datenbrille hat ausgedient. Sehr interessant fand ich auch die Nennung von Privatsphäre als Aspekt hier. Wenn dir die Inhalte direkt in die Augen gebeamt werden, kann dir auch niemand mehr über die Schulter schauen, wenn du zum Beispiel auf deiner Tastatur ein Passwort eintippst. Bei konkreterem Nachdenken würden uns vermutlich auch dabei Sicherheitslücken auf- bzw. einfallen, die unsere Privatsphäre wiederum gefährden.

Frey smirked. “You know what they say: when privacy is criminalized, only criminals will have privacy.”

Das obige Zitat beschreibt ein oft thematisiertes Problem bei der Einschränkung von Privatsphäre. Werden beispielsweise sichere Messenger verboten und somit kriminalisiert, schadet das allen. Menschen, die tatsächlich nichts Kriminelles vorhaben, werden nun anlasslos überwacht. Menschen, die Kriminelles vorhaben, werden Wege finden, die Überwachungskanäle zu umgehen.

Privatsphäre wird auch noch in einem anderen Zusammenhang genannt. In einer Welt, in der wir bei jedem Schritt überwacht werden, in der jeder Informationsabruf irgendwo gespeichert und zu Geld gemacht wird, wer würde da nicht eine neue Identität annehmen wollen? Wenn du morgen ein anderer Mensch werden kannst, ist es dann egal, was du heute tust?

DNA is DNA. Merely information. Which means that human beings are merely information. And there is a long-established legal precedent that information can be owned.

Firmen wie 23andme haben in den letzten Jahren bereits unzählige genetische Profile gesammelt. Der Nutzen für die Kund*innen wird mit einer genetischen Analyse beschrieben. Kund*innen erhalten Informationen über ihre genetischen Risiken für besondere Krankheiten und können unbekannte genetische Verwandtschaften finden. Dafür bezahlen sie den Konzern. Wodurch dieser aber eigentlich profitiert, sind die gesammelten genetischen Daten, die ausgewertet und verkauft werden. Dieser Artikel in Scientific American beschreibt diesen Prozess und die Problematik dahinter sehr ausführlich.

“Does one’s identity come from within our hearts or our DNA?”
Durand murmured, “Within our hearts.”
“And what is DNA?”
“Data.”

Ein anderes Buch, das sich ebenfalls in Krimiform mit dem Thema Genmanipulation auseinandersetzt, ist Helix von Marc Elsberg.

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Roman

Elizabeth Strout – Anything is Possible

We’re all just a mess, Angelina, trying as hard as we can, we love imperfectly.

Hier bin ich wieder überraschend auf einen Roman aus lose miteinander verwobenen Kurzgeschichten gestoßen, wie kürzlich bei Serhij Zhadan – Mesopotamien. Und wieder fiel es mir schwer, die komplexen Beziehungen zwischen den einzelnen Familien im Überblick zu halten, vielleicht sollte ich parallel zum Lesen immer gleich eine Grafik oder Liste aller Personen anfertigen …

Eine der Personen ist Lucy Barton, die in einem anderen Roman derselben Autorin die Hauptfigur ist. Sie hat sich aus den ärmlichen Verhältnissen ihrer Kindheit hochgearbeitet und kämpft nun gleichzeitig mit Schuldgefühlen wegen der zurückgelassenen Geschwister und dem Wunsch, ihre Herkunft so weit wie möglich hinter sich zu lassen.

Ähnlich geht es auch anderen Figuren in diesem Buch. Sie können ihre Vergangenheit nicht abstreifen. Selbst, wenn sie sich gegenüber den elterlichen Verhältnissen „hochgearbeitet“ haben, fühlen sie noch immer den „Blick nach unten“, der sie von anderen Gesellschaftsgruppen abgrenzt. Besonders deutlich thematisiert wird das im Kapitel Dottie’s Bed & Breakfast, indem sich die Arztgattin zuerst bei Dottie alles Mögliche von der Seele redet, um dann hinter ihrem Rücken über die Gastgeberin herzuziehen.

Beinahe alle Geschichten befassen sich mit irgendwelchen menschlichen Abgründen, manche Protagonist*innen sind fast unerträglich in ihrer Scheinheiligkeit oder Grausamkeit, andere wiederum erwecken hauptsächlich das Mitleid der Leserin. Genau genommen will uns die Autorin „nur“ zeigen, dass alles im Leben möglich ist.

Anything is Possible.

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Roman Thriller

Marc Elsberg – Helix

Wenn ich nichts anklicke, dachte Helen, entscheidet der Zufall.

Im Bereich Geocaching geht ja ansonsten aufgrund der Jahreszeit kaum etwas weiter, aber immerhin komme ich mit der Leseliste für Literatur-Geocaches gut voran. Die beiden anderen Werke dieses Autors, die ich hierfür brauche, habe ich tatsächlich schon gelesen und dieses war gerade in der Onleihe verfügbar.

Die Geschichte nachzuerzählen würde einerseits zu lange dauern und andererseits den Interessierten das Lesevergnügen verderben. Wie der Titel schon andeutet, dreht sich die rasante Geschichte um die Manipulation des Genoms, der genetischen Ausstattung. Die CRISPR/Cas-Methode (so genannte Gen-Schere) hat in den letzten Jahren breite Bekanntheit erlangt und somit fällt es auch der mit den Details der Genforschung nicht vertrauten Leserin nicht schwer, sich vorzustellen, woran im Geheimen vielleicht tatsächlich bereits gearbeitet wird. Ein großer Teil des Reizes dieser Geschichte liegt darin, dass ein Einblick in einen Bereich strengster Geheimhaltung gewährt wird, von dem die Öffentlichkeit niemals erfährt.

Wie auch schon in den vorigen Büchern des Autors werden viele ethische Aspekte aufgeworfen, die bei dieser Thematik noch stärker zum Tragen kommen. Es werden viele Argumente genannt, warum die Manipulation des menschlichen Genoms nur noch ein weiterer Schritt in eine ohnehin unabwendbare Zukunft sein soll. Die tatsächlichen Ereignisse des Buches sprechen jedoch eine deutlich andere Sprache. Die manipulierten Kinder sind zwar hoch intelligent und ihren „Erzeugern“ in vielen Bereichen überlegen. Es zeigt sich jedoch deutlich, dass ihre sozialen Fähigkeiten weit hinter ihren anderen Qualitäten zurückbleiben. Sie können aufgrund mangelnder Lebenserfahrung die soziale Tragweite ihrer Aktivitäten nicht abschätzen. Lebenserfahrung lässt sich nicht im selben Maße beschleunigen, wie es die Gentechnik möglicherweise bei Muskelwachstum oder Krankheitsresistenz kann.

Sind diese Kinder noch Menschen im herkömmlichen Sinn? Wenn nicht, was sind sie dann? Sind auf sie die Menschenrechte anzuwenden?

Ein anderer Aspekt, den ich hervorheben möchte, ist die Unmittelbarkeit, mit der diesen Kindern die Menschenrechte abgesprochen werden. Noch lange bevor die Machenschaften der betroffenen Kinder aufgedeckt werden, wird ihre Menschlichkeit bereits angezweifelt. Es wird im Buch zwar nicht näher ausgeführt, aber allein dieser kurze Hinweis lädt dazu ein, sich mit der Frage zu befassen, was Menschen eigentlich zu Menschen macht. Neben der Frage, wie weit die Gentechnik gehen dürfen soll, darf auch diese Frage nicht in den Hintergrund geraten.

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Roman

Stephen King – The Stand

Gerade ist mir aufgefallen, dass es tatsächlich den ganzen Jänner keinen Blog Post auf Booksinthefridge gab. Eine Premiere mit mehreren Gründen. Einerseits viel Erwerbsarbeit, andererseits lese ich gerade viel, das es aus Gründen nicht hier ins Blog schafft und andererseits hatte ich mir nach dem Nicht-Horror-Buch Wächter der Nacht ein echtes Horror-Buch vornehmen wollen. Wenn man nach Horror sucht, kann man immer auf Stephen King zurückgreifen. Der Gedanke The Stand aus erwachsener Perspektive nochmal neu zu lesen (ich hatte es als Jugendliche schon gelesen), war mir schon vor längerer Zeit gekommen. Daher hätte ich auch wissen müssen, was es für ein riesiger Wälzer ist. Damals habe ich sicher nicht so lange dafür gebraucht.

There’s always a choice. That’s God’s way, always will be.

King beschreibt in The Stand die amerikanische Gesellschaft in einer unvergleichlichen Krisensituation. Aus einer militärischen Einrichtung entweicht ein gezüchteter Virus, eine Supergrippe. Das erste Buch beschreibt das langsame Ausbreiten des Virus auf ganz Amerika und natürlich auf die ganze Welt, obwohl sich das Geschehen rein in den USA abspielt. Lange wissen die Betroffenen nicht, wie schlimm das Ausmaß der Katastrophe ist. Regierung und Medien vertuschen und versprechen eine baldige Impfmöglichkeit, die niemals kommt. Denn selbst die Regierungseinrichtungen sind vor dem Virus nicht sicher. Stück für Stück bricht die Gesellschaft auseinander. Viele, die gegen das Virus immun sind, sterben im Verlauf der Katastrophe an anderen Gründen. Unfälle, Brände, Selbstmorde, aber auch Amokläufe reißen viele weitere Menschen in den Tod.

Die Überlebenden sind vorerst auf sich allein gestellt. Sie verarbeiten den Schock und versuchen, sich auf die neue Situation einzustellen. Beinahe alle leiden an Alpträumen von einem schwarzen Mann, der ihnen nachstellt.

There was a dark hilarity in his face, and perhaps in his heart too, you would think – and you would be right.

Stück für Stück finden sich die Überlebenden zu Gruppen zusammen. Als Gegenpol träumen viele von einer alten Frau auf ihrer Veranda inmitten von Kornfeldern. Sie machen sich auf den Weg und finden schließlich Mother Abigail, die Frau aus ihren Träumen. Für viele erscheint sie als eine Art göttlicher Bote, der den Gegenpol zur Bedrohung durch den schwarzen Mann bildet. Damit wären auch die sich gegenüberstehenden Pole Gut und Böse definiert (ja, an dieser Stelle erinnere ich mich wieder an Wächter der Nacht).

The roots are rationalism, and I would define that word so: ‘Rationalism is the idea we can ever understand anything about the state of being.’ It’s a deathtrip. It always has been. So you can charge the super flu off to rationalism if you want. But the other reason we’re here is the dreams, and the dreams are irrational.

Zwei Gesellschaften bilden sich in diesem postapokalyptischen Amerika. Der schwarze Mann schart Verbrecher und Ziellose um sich, die Guten – so scheint es – scharen sich um Mother Abigail. Die Gesellschaft in Boulder wächst und dieser Abschnitt im zweiten Buch, indem versucht wird, eine neue Gesellschaftsordnung aufzustellen und ihre Ursprünge zu klären, bringt tiefe soziologische und psychologische Einblicke. Wenn es keine Gerichte und keine Polizei mehr gibt, die Straftäter verfolgen und bestrafen, ist dann alles möglich? Selbst vermeintlich gute Menschen können zu einem hasserfüllten Lynchmob werden, wenn es kein Gesetz gibt, das sie daran hindert. Hass kann die Menschlichkeit außer Kraft setzen. Eine Lehre, die gerade in dieser Zeit, die einen deutlichen Anstieg rechtspopulistischer Politik erlebt, nicht wichtig genug sein kann.

Im dritten Buch kommt es schließlich zur Konfrontation zwischen Gut und Böse. Es wäre jedoch nicht Stephen King, wenn dieses vermeintlich erwartbare Ende nicht mit einigen Überraschungen aufwarten würde. Er entlässt seine Leser mit einem Gefühl, dass das Gute im Menschen triumphieren kann … um dieses Gefühl dann wiederum außer Kraft zu setzen. Einen Endsieg des Guten über das Böse (oder umgekehrt) wird es nicht geben, so lange noch Menschen auf unserer Erde leben. Es existiert ein schwankendes Gleichgewicht, das mal zur einen, mal zur anderen Seite hin ausschlägt.

Wir schreiben den Beginn des Jahres 2017, den Beginn der Trump-Administration in Amerika, rechte Populisten streben in ganz Europa nach Macht. Gerade in diesen Zeiten sollte es jedem Einzelnen ein Anliegen sein, das Gute in uns selbst zu suchen. So lange die Menschlichkeit unser erstes Ziel bleibt, kann das Böse nicht triumphieren.

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Roman

Thomas Glavinic – Das größere Wunder

„Ich glaube, man ist schon jemand“, sagte Jonas. „Jeder ist jemand, und besser als das kann er nicht werden. Er kann nichts anderes werden, und wenn er es doch wird, ist er nicht glücklich.“

Thomas Glavinic lässt seinen Helden Jonas (den wir bereits aus früheren Romanen kennen) den Mount Everest besteigen. Die Romane haben nur bedingte Verbindungen miteinander. Das mag zuerst verwirren, macht aber möglich, dass man die Romane in keiner bestimmten Reihenfolge lesen muss. Ja, man muss sie gar nicht alle lesen. Wer nur eines lesen möchte, sollte dieses nehmen. Und braucht hier nicht weiterzulesen, sondern lieber gleich zum Buch greifen.

Das ist kein heroischer Berg, so wie es keine heroische Art zu sterben ist, da oben für alle Zeit festzufrieren. Hier werden keine Heldensagen geschrieben, jedenfalls nicht von euch.

Auf zwei Erzählebenen verfolgen wir Jonas Weg auf den Mount Everest. Wir erleben Jonas im Basislager des Berges, wo sich sein Körper nur schwer an die Wetterverhältnisse anpasst. Die Höhe macht ihm zu schaffen. Gleichzeitig erleben wir den jungen Jonas, der von seiner alkoholkranken Mutter verlassen wird. Der sich für seinen von Geburt an behinderten Bruder Mike verantwortlich fühlt. Der sich durchs Leben schlägt und Stück für Stück etwas übers Leben lernt.

Manche Dinge findet man nicht, wenn man sie sucht, so schlau und kühn man es auch anstellen mag, denn manche Dinge kommen zu einem, wenn man gar nicht danach verlangt.

Sehr subtil gibt der Autor Jonas Stück für Stück die Möglichkeiten, das Leben zu begreifen. Oder Teile davon. In Das größere Wunder sind die Erkenntnisse wesentlich präsenter und wesentlich existentialistischer. In Die Arbeit der Nacht dauerte es lange, bis der allein gelassene Jonas erkennt, dass ihn das Alleinsein Stück für Stück in den Wahnsinn treibt. Der Leser kann das nicht begreifen, denn niemand hat je so eine große Einsamkeit erlebt. Hier sehen wir Jonas auf einen gefährlichen Berg klettern und verstehen schnell, dass er auf der Suche ist. Sein ganzes Leben war er auf der Suche. Er schwankt zwischen der Sehnsucht nach dem Un-Sinn, dieser Wunsch nach Heimkehr in die Zwecklosigkeit und seinem Wunsch, das Chaos zu beherrschen. Glavinic lässt Jonas nach einem Sinn für sein Leben suchen. Gleich mehrmals betont er, dass ein Leben nur dann Wert hat, wenn man es einem höheren Sinn widmet.

Es waren diese Tage, in denen er vieles begriff. Er würde nie ein erfülltes Leben führen können, wenn er nicht versuchte, es einer Sache zu widmen, die größer war als er.

Ein Leben ist nur dann geschützt, wenn es einer Sache gewidmet ist, die größer ist als der Mensch, der es lebt und der Sache dient.

Der Autor scheut nicht davor zurück, auch ganz banale Motive zu verwenden. Und doch passen sie irgendwie in die Dunkelheit und die Kälte, in denen Jonas schließlich alleine auf dem Berg herumirrt. Man fragt sich, wie das passieren konnte. Wie konnten die Bergführer Jonas gehen lassen, obwohl sie mit seinem sicheren Tod rechnen mussten, wenn er sich zu spät zum Gipfel aufmacht, um noch bei Tageslicht zurückkehren zu können?

Es war bereits hell, was ihn überraschte. Als er auf die Uhr schaute, stellte er fest, dass sie stehengebeblieben war.

Das Ende überrascht. Doch je länger ich darüber nachdenke, umso mehr wird mir klar, dass Thomas Glavinic Recht hat. Nicht anders hätte er demonstrieren können, dass es um diesen Berg nicht geht. Der Berg ist ein Symbol für die größere Sache, für das Wichtigere im Leben, für das größere Wunder. Würde man das Buch nochmal lesen (könnte ich mir durchaus vorstellen), würde man bestimmt noch viele andere Lesemöglichkeiten finden, die die Metapher bereits vorbereiten. Dieses Buch ist voll mit Erkenntnissen und kleinen Andeutungen über Lebensweisheiten, ohne sie plakativ auszuwalzen. Eine absolute Empfehlung.

Jeder Mensch beurteilt sich selbst nach seiner größten Leistung, und zwar so, als hätte es die Tiefen davor und danach nie gegeben, weißt du das? Ich spreche da auch und gerade von moralischen Leistungen. Wir guten Menschen, wir.