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English Roman

Fleur Jaeggy – Sweet Days of Discipline

CN: psychische Krankheit, Suizid, angedeuteter/möglicher Missbrauch von Schutzbefohlenen


Auf der Suche nach einer Geschichte, die mich nicht überfordern würde, scrollte ich wieder mal durch die Neuerwerbungen in der OverDrive eLibrary und wurde auf dieses Werk aufmerksam. Vor einiger Zeit waren dazu einige Artikel auf Lithub erschienen, unter anderem auch einer vom Designer des neuen Covers (das ich übrigens auch viel gelungener finde, als das, was mir mit dem eBook gezeigt wurde).

When you’re in boarding school you imagine how grand and fine the world is, and when you leave, you’d sometimes like to hear the sound of the school bell again.

Das Buch erzählt von einem Schweizer Mädcheninternat knapp nach dem Ende des 2. Weltkriegs. Töchter aus wohlhabenden Familien werden hier geparkt, um eine angemessene Ausbildung zu erhalten. Die namenlose Ich-Erzählerin schwelgt in den Erinnerungen an ihre Jugend, mäandert zwischen der Langeweile, dem Wunsch nach Freiheit und der Sicherheit, die das Leben in einem Internat mit sich bringt.

I liked German expressionism and the thought of the life, the crimes I hadn’t yet experienced.

Erst jetzt habe ich zur Autorin Fleur Jaeggy recherchiert, sie ist Schweizerin, hat das Buch ursprünglich (vermutlich) auf italienisch geschrieben. Auf ihrer Wikipedia-Seite springt mir der deutsche Titel Die seligen Jahre der Züchtigung entgegen. Das gibt mir ein vollkommen anderes Gefühl als der englischsprachige Titel Sweet Days of Discipline. Teilweise liegt es sicher an der Vertrautheit mit der Sprache, aber schon allein das Wort selig fühlt sich für mich deutlich stärker an, es hat eine religiöse, entrückte Komponente. Gleichzeitig erscheint mir auch Züchtigung als deutlich intensiveres Wort, es hat gewaltvolle Anklänge, ich denke an einen strengen Lehrer, der seinen Schüler:innen mit dem Lineal auf die Finger klopft. Dann sind es Jahre im deutschen Titel, Tage hingegen im englischen Titel. Wie es zu dieser Übersetzungsentscheidung kam, würde mich wirklich interessieren.

Die allgemeine Begeisterung für das Buch kann ich nicht teilen, ich wurde mit der Erzählerin einfach nicht warm. Ich fühlte mich erinnert an Ottessa Moshfegh – My Year of Rest and Relaxation, wo es mir ebenfalls so ging, dass ich mit der Protagonistin nichts anfangen konnte und den Hype um das Buch nicht verstand.

Das Ende hat mich in zweierlei Hinsicht überrascht.

  • Erstens, weil es sehr unerwartet kam, wie so oft folgten nach dem Ende der eigentlichen Geschichte noch unzählige andere Informationen (zur Autorin, zum Copyright und ein Haufen Werbung), die ganze neun Prozent des gesamten Buchs ausmachten. Ich wünschte wirklich, ich könnte im eBook-Reader vorab sehen, wo die eigentliche Geschichte endet.
  • Zweitens, weil das Ende aus einer unerwarteten Einsicht besteht, die die glorifizierte Zeit der jugendlichen Disziplinierung in ein neues Licht rückt.
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Roman

Verena Rossbacher – Mon Chéri und unsere demolierten Seelen

CN: Erwähnung sexueller Handlungen (keine grafischen Beschreibungen), Erwähnung von rassistischen Produktnamen in der Vergangenheit, Depression, Tod eines Elternteils, Krankheit (Krebs), Sterben, Tod, Erwähnung von Krieg und Konzentrationslagern


  • Dieses Buch hab ich mir aufgrund der Empfehlung der lieben Sonja auf die Leseliste gesetzt. Und ich kann mich ihrer kurzen Bewertung („Lesen! Super! Aber bitte nicht vorher die Buchbeschreibung lesen.“) nur vollinhaltlich anschließen.
  • Wir sind vermutlich die Zielgruppe, bei denen dieses Buch besonders gut ankommt: Menschen, die in den 80ern bzw. 90ern aufgewachsen sind und bei der Erwähnung von Inspektor Gadget oder Mixtapes nostalgisch warme Gefühle entwickeln. Das letzte Mal hatte ich sowas bei Minigolf Paradiso von Alexandra Tobor erlebt.

Das waren die Achtzigerjahre. […] Klingt, als wäre das hundert Jahre her, was? Aber ich bin dabei gewesen! Es war kurz nach dem Mittelalter und ich war mittendrin!

  • Neben diesen Nostalgieeffekten zeichnet sich das Buch aber auch noch durch eine unfassbar sympathische Protagonistin aus: Selbstironisch, ständig am Stolpern, mäßig erfolgreich in allen ihren Lebensbemühungen. Gleichzeitig geht sie aber mit einer scheinbaren Leichtigkeit durchs Leben, die sich im Verlauf der Geschichte nur noch steigert. Beispielhaft seien hier ihre Versuche, ein passables Selfie zu erstellen, genannt, die beinahe ins Comichafte abgleiten, aber trotzdem nie herablassend oder verzweifelt wirken.
  • Ein zentrales Motiv ist ihre Freundschaft mit Herrn Schabowski, dessen Postengel-Service sie aufgrund ihrer Angst, die Post zu öffnen, in Anspruch nimmt. Aus dieser Geschäftsbeziehung entwickelt sich im Laufe der Geschichte eine tiefe Freundschaft, die für beide Beteiligten das Leben entscheidend verändert.
  • Natürlich kommen auch zwischenmenschliche Beziehungen abseits von Freundschaft (oder darüber hinaus) nicht zu kurz. Eine der besten Szenen des Buchs (Achtung, Spoiler): Die Protagonistin lädt die drei Männer, mit denen sie vor Kurzem körperlich intim war, zu einem gemeinsamen Abend bei sich ein, um allen dreien gleichzeitig reinen Wein einzuschenken. Dazu kommt es an diesem Abend jedoch nicht, weil die gemeinsame Begeisterung für das Instrument zur Gründung eines Ukulelenorchesters führt.
  • Implizit werden auch traditionelle Lebensmodelle hinterfragt, indem sich die Protagonistin einfach nicht zwingen lässt, irgendetwas auf eine bestimmte Art und Weise zu machen. Sie findet ihren eigenen Weg, auch wenn der manchmal Hindernisse und Rückschläge beinhalten mag.

Ich spürte, dass Stück für Stück diese Vorstellungen, wie etwas zu sein hatte, abfielen, und ich fühlte mich gut damit, ich fühlte mich befreit.

Das Buch wurde 2022 mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet.

Eine wunderbare Geschichte, humorvoll, feinfühlig und alles andere als oberflächlich. Große Empfehlung.

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English Roman

Marie Benedict – The Other Einstein

CN dieses Buch: –
CN dieser Post: –


I had tried my hardest to become his ideal, no matter the toll it took on my studies.

Dieser Roman ist eine fiktionalisierte Erzählung über das Leben von Mileva Marić. Sie war die erste Serbin und eine der ersten Frauen, die ein Mathematik- und Physikstudium absolvierte. Am Polytechnikum in Zürich lernte sie Albert Einstein kennen und wurde später seine erste Ehefrau. Das Buch hält sich in vielen Details an die Fakten, die auch im Wikipedia-Artikel zu Mileva Marić nachzulesen sind. Es erzählt aus der Perspektive von Mileva selbst, die als eine der ersten Frauen in einer Männer-Domäne um Respekt kämpft, jedoch von den Realitäten der damaligen Gesellschaft immer wieder eingeholt wird.

Die Autorin betont in der Author’s Note: „the book is, first and foremost, fiction“. Und gerade deshalb hätte ich mir vielleicht eher eine alternative Version dieser Geschichte gewünscht, in der Mileva sich aus den Fesseln der Gesellschaft befreit und einen anderen Weg einschlägt.

Die von ihrem Vater zu einer selbständigen und willensstarken Frau erzogene Mileva lässt sich von Albert Einstein und seinen progressiven Fantasien vom gemeinsamen Bohème-Leben (hier mit einem Fokus auf die Fortschrittlichkeit der Partnerschaft) schließlich zur Überschreitung der gesellschaftlichen Grenzen verführen und wird prompt mit einer ungewollten Schwangerschaft gestraft. Der Kindsvater lässt sie im Stich. („But Albert never came.“) Nicht nur in Bezug auf die Schwangerschaft, sondern in weiterer Folge auch indem er selbst die Lorbeeren für ihre Leistungen einstreift und ihre Beiträge zu seinen Theorien marginalisiert („What does it matter, Dollie? Aren’t we Ein Stein? One stone?“). Die stolze Mileva will einen anderen Weg für sich und ihr Kind suchen, doch die Mutter besteht darauf, dass Mileva alles tun muss, um die Heirat mit dem abwesenden Albert zu ermöglichen. Selbst wenn sie dafür ihr eigenes Kind zurücklassen muss („Listen to me, Mitza. Do you remember our conversation about making a proper family for Lieserl?“).

Besonders bitter erscheint ein fiktives Gespräch, dass Mileva mit der erfolgreichen Physikerin Marie Curie führt. Diese führt aus, wie ihr Ehemann Pierre Curie ihre Forschung förderte und sie auch in den damals üblichen Männerclubs stets verteidigte und unterstützte. Genau das, was sich Mileva von ihrem eigenen Partner gewünscht hätte und das Gegenteil von dem, was sie bekommen hat.

Mir war der Name Mileva Marić nicht völlig unbekannt, weil im Rahmen einer Veranstaltung, an deren Organisation ich beteiligt war, alle Räume nach bekannten Frauen in der Wissenschaft benannt wurden (das vollständige PDF der Raumbeschilderung ist im Wiki unter Design zu finden). Daher hatte ich mich gefreut, ein Buch über ihr Leben zu finden, fiktionalisiert oder nicht. Vermutlich war es mir in Wirklichkeit zu nahe an der Realität, mit der Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts konfrontiert waren.

Raumschild SE 125 Mileva Marić
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Roman

Hansjörg Schertenleib – Nachtschwimmer

Zwei jugendliche Liebende. Die eine mit einem offensichtlichen Problem (ihre prekären Lebens- und Familienverhältnisse), das sich als wesentlich ernster herausstellt, als zuerst klar ist, der andere mit einer tiefer liegenden Krise (Schuldgefühle wegen des Unfalltods des kleinen Bruders).

Gibt es einen Moment, in dem eine Entscheidung einfach unausweichlich wird? Oder ist es eigentlich jeden Tag eine neue Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben? Oder ist es erst eine Entscheidung, wenn die Entscheidung für das Gehen ausfällt?

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Roman

Monique Schwitter – Eins im Andern

Bei einer Erzählung aus der Ich-Perspektive besteht immer die Gefahr, die Erzählperson mit der Autorin gleichzusetzen und anzunehmen, die Geschichte wäre zumindest teilweise autobiografisch. In einem Interview hatte ich kürzlich auch die Auffassung gelesen, jeder Roman wäre immer ein Stück autobiografisch, auch wenn der Autor nicht selbst erlebt hätte, was er beschreibt, sondern eben nur erfunden. In die erfundenen Erlebnisse fließen trotzdem die realen Lebensumstände und Prägungen des Autors ein.

In diesem Buch untersucht eine Ich-Erzählerin ihre vergangenen Beziehungen zu Männern. Dabei beschreibt sie verschiedenste Formen von Beziehungen (das, was auf dem Klappentext als die Gesichter der Liebe bezeichnet wird). Eine Jugendliebe, die an den unterschiedlichen beruflichen Ambitionen und deren Erfolgsaussichten scheitert. Eine Zufallsbekanntschaft, die direkt aus der Schublade geheime Fantasien entsprungen sein könnte. Eine (tatsächlich stattgefundene oder von seiner Frau nur erfundene) Affäre mit einem Professor. Ein Flirt mit einem Schüler. Eine Erwachsenenliebe, die (beinahe?) an einer Suchterkrankung scheitert.

Die Gedanken der Erzählerin scheinen sich zunehmend zu verwirren, sie hinterfragt ihren Lebensstatus und kommt schließlich zu einer für den Leser überraschenden Erkenntnis. Mir persönlich ging die (Nicht-)Auflösung der Zusammenhänge etwas zu schnell. Dass frühere Beziehungen unser weiteres Leben prägen, ist auch keine spektakuläre Erkenntnis. Ein interessanter Roman, aber für mich keine Offenbarung (wie sie der Klappentext verspricht und die Empfehlung andeutete).

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Roman

Robert J. Sawyer – Flash Forward

This would be like that. Everyone would remember where they’d been when this blackout – a blackout of a different sort – had occurred.

Ah, Flash Forward, eine Serie, die ich wirklich gerne zu Ende gesehen hätte, was aber leider nicht möglich war. Meine persönliche Spekulation ist, es war einfach zu teuer zu produzieren, das kann man an den veröffentlichten Folgen problemlos ablesen. Was für eine Freude, als ich bei der Recherche quasi zufällig darauf gestoßen bin, dass die Serie auf einem Buch beruht. Die Hoffnung, endlich das Ende zu erfahren, war groß. Stellt sich heraus: für die Serie wurde das Buch stark bearbeitet. Im Buch schauen die Protagonisten gleich 20 Jahre in die Zukunft, in der Serie waren es nur 6 Monate (was die damit verbundenen Faktoren natürlich erheblich verschärft).

Is it any harder to swallow than the idea that we have seen the future, and that future is immutable, and even foreknowledge of it won’t be enough to allow us to prevent that future from coming true?

Zuerst dachte ich, es wäre nicht möglich, diesen Text ohne massive Spoiler für entweder/oder das Buch oder die Serie zu schreiben. Tatsächlich ist das Buch aber allein stehend so gut, dass man nichts verraten muss und es trotzdem empfehlen kann. Wer beides nicht kennt: plötzlich (in der Serie vollkommen überraschend, das Buch verrät mehr) schaut die ganze Menschheit für etwa zwei Minuten in die Zukunft, in der aktuellen Zeit werden die Menschen bewusstlos, was für ein unvergleichliches Chaos (Verkehrsunfälle, Flugzeugabstürze, Todesfälle, Verletzungen) sorgt. Daraufhin wird untersucht, wie es dazu kommen konnte. Und natürlich stellt sich die Frage: wenn man die Zukunft kennt, kann man sie dann ändern, beeinflussen?

Being conscious, being aware that that was then and this is now and that tomorrow is another day, was an incredible fluke, a happenstance, a freak occurrence never before or since duplicated in the history of the universe.

Das Buch stellt diese Frage viel intensiver als die Serie. In der TV-Serie wurde in meiner Erinnerung die Frage, wer für diesen Vorfall verantwortlich war, viel detaillierter untersucht, das Buch konzentriert sich exakt auf die Frage, wenn ich die Zukunft kenne, kann ich sie dann beeinflussen? Die Protagonisten kennen nur ein sehr kleines Stück ihrer Zukunft und können sich natürlich den Weg, wie es dazu kommt, nicht vorstellen. Wie kann man auf diese Art seine Zukunft verändern? Ist das überhaupt möglich? Ist der Blick in die Zukunft eher ein Segen oder ein Fluch?

The future could be changed; they’d discovered that when reality deviated from what had been seen in the first set of visions. Surely, this future could be changed, as well.

Das Ende des Buches jedenfalls bezieht sich darauf, dass wir nicht veruschen sollten, in die Zukunft zu schauen, sondern uns darauf zu konzentrieren, die Gegenwart zu dem Besten zu machen, was möglich ist. Nicht der schlechteste Rat nach meiner Ansicht.

Reading Challenge: A book based on or turned into a TV show

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Roman

Ela Angerer – Bis ich 21 war

Meine Eltern haben nie ein Boot besessen. Die Szene auf dem Foto sieht nach Glück aus. Nach dem Glück fremder Leute, bei denen wir zu Gast sind.

Über ein Interview im Wiener-Magazin war mir dieses Buch aufgefallen, natürlich habe ich wieder mal kein genaues Zitat parat, aber in meiner Erinnerung warf das Interview die Frage auf, was der Beweggrund der Autorin war, eine derartige Kindheit in einem autobiografischen Roman zu thematisieren. Über den Inhalt wurde nicht viel verraten, geheimnisvoll, perfekte Werbung irgendwie.

Die Ich-Erzählerin beschreibt ihre Kindheit mit einer desinteressierten Mutter, die einen reichen Cadillac-Fahrer heiratet und fortan nur noch an ihren Pelzmänteln und Bridge-Turnieren hängt. Die Erzählerin und ihre Schwester wachsen unter Hausangestellten, Dienstboten und Kindermädchen in einem Schloss auf. Da sie großteils sich selbst überlassen sind, suchen sie sich selbst eine Beschäftigung, die Erzählerin landet dabei bereits mit 12 Jahren in der Dorfdisco und perfektioniert Jahr für Jahr Lügen und Ausweichmanöver, um ihren steigenden Drogenkonsum zu verheimlichen.

Wenn man sich heimlich mit solchen Fragen herumschlägt, obwohl man doch eigentlich nur funktionieren will soll – zu Hause, in der Schule, beim Friseur, im Bus –, dann möchte man sein Gehirn ruhigstellen. In meinem Fall erwiesen sich die Drogen dabei als große Hilfe, wobei ich ja erst am Anfang einer langen Testphase mit den unterschiedlichsten Mitteln stand.

Als die Eltern schließlich mitbekommen, was mit der Tochter los ist, wird sie ins Internat in die Schweiz verfrachtet. Auch aus den dortigen strengen Regeln findet die Protagonistin zumindest für die Wochenenden gekonnt eine Ausflucht. Es scheint, dass einzig der fixe Rückkehrtermin jeden Sonntag Abend sie davon abhält, in eine intensive Drogensucht abzurutschen.

Nur Dinge aussprechen, für die man Worte findet. Nur Szenen festhalten, die sich ohne tieferen Sinn ereignen. So gesehen muss man alle Fotodokumente, die einem im Laufe der Zeit von Verwandten, Bekannten oder Wildfremden unterkommen, neu bewerten. Weil es immer nur um das geht, was darauf fehlt.

Was in den Rezensionen als schonungslos und offen beschrieben wird, hat mich beim Lesen eher irritiert. Die Geschichte gibt vor, die Welt aus dem Blickwinkel des Kindes zu betrachten und doch kann kein Kind dermaßen abgeklärt Risiken eingehen, ohne jemals an die Folgen zu denken.

Die Beschreibung auf Amazon enthält mehr Dramatik als das ganze Buch:

Die Eltern sind abwesend, das Personal hilflos. Mit dreizehn beginnt das Mädchen eine Affäre mit einer jungen Krankenschwester und nimmt Drogen. Das fällt sogar den Eltern auf – die Tochter kommt ins Internat und lernt dort, dass es das Böse wirklich gibt.

Dass es das Böse wirklich gibt … klingt nach Horrorschocker und verfolgt wohl auch dieses reißerische Ziel. Jedoch lenkt dies in meinen Augen eher vom wirklichen Thema des Buches ab: Allein gelassene Kinder können sich nicht entwickeln. Kinder brauchen Führung, um lernen zu können, mit den Freiheiten und Verführungen des Lebens umzugehen. Eine Anklage oder ein Aufruf?

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Musical Sachbuch

Olaf Jubin – Entertainment in der Kritik

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„Die Erfahrung, dass ein persönlich empfundenes Schicksal mit dem Schicksal anderer Menschen übereinstimmt, hat etwas Tröstliches. Es lindert den Druck, den wir immer dann spüren, wenn wir meinen, mit unseren Erfahrungen ganz allein zu sein. Die kommunizierende Kraft des Theaters hebt das Gefühl, ein isoliertes Schicksal zu erleiden, weitgehend auf.“ (Hans Joachim Schäfer)

1.152 Seiten. Dreieinhalb Jahre. Den Großteil dieser Zeit ist dieses Werk natürlich halb gelesen irgendwo in der Wohnung herumgegammelt, weil mich die Trockenheit dieser Untersuchung teilweise wirklich körperlich niedergeschlagen hat. Als Abendlektüre vor dem Schlafengehen eignet sich eine Studie zum Thema Musicalkritiken natürlich ebensowenig als wie zur Unterhaltung an einem lauen Sommerabend. Daher habe ich wie gesagt seit März 2007 kontinuierlich an diesem Werk gelesen und für den zweiten Teil habe ich nicht mal mehr so lange gebraucht (was möglicherweise an den Tabellen der Auswertung lag, die ich mir nicht alle im Detail angesehen habe).

Olaf Jubin ist mit dem Genre Musical sichtlich innig verbunden. Jedem Kapital stellt er den Titel eines Musicalsongs zur Überschrift. Das klingt jetzt nicht so gigantisch, wenn man sich jedoch vor Augen führt, dass seine Überschriften oft bis zur siebten oder achten Ebene gehen und er in den Quellenangaben akribisch Songtitel, Stück, Komponist und Lyricist aufführt, so kann man da schon mal Anerkennung zollen.

Als ganz großen Kritikpunkt muss ich die übertriebene Wertlegung auf gender-neutrale Berufsbezeichnungen anführen. Nach meiner Meinung kann man sich auch als Frau als Journalist oder Mitarbeiter angesprochen fühlen und die Beeinträchtigung des Leseflusses stört mich hier vielmehr als eine möglicherweise fehlende weibliche Berufsbezeichnung. Die letzten 50 Seiten des Werkes wären möglicherweise weggefallen (was wiederum Papier sparte), hätte man sich solche Orgien erspart:

Wenn er/sie allerdings nicht gerade die Finanzierung eines Stückes in Angriff nimmt, reduziert selbst ein(e) etablierte(r) ProduzentIn weitestgehend seinen/ihren Mitarbeiterstab und zwar auf eine(n) GeschäftsführerIn, eine(n) Assistenten/Assistentin und eine(n) LektorIn, der/die nach potentiellen Stücken Ausschau hält.

Im ersten Band erläutert Olaf Jubin erst das Genre und dann die beiden zu untersuchenden Komponisten. Dabei stellt er allerhand interessante Überlegungen zum Thema an und wirft geradezu mit Fachwissen und Recherchen um sich.

Das Genre erzielt also Komplexität durch das Zusammenspiel seiner verschiedenen Bestandteile, von denen jeder für sich genommen – und das gilt besonders für das Buch – diese Eigenschaft nur bedingt aufweisen kann: „Simple characters in a musical book can be full and memorable because they have the richness of music, song, and dance to make them alive in performance.“

Aus meiner Erfahrung war ich eigentlich seit langem der Ansicht, dass ein Musical nicht wirklich gut werden kann, wenn die zugrunde liegende Geschichte nicht passt. Hier wird jedoch die These geäußert, dass die Charaktere erst durch das Zusammenspiel aus Tanz und Gesang Komplexität gewinnen. In weiterer Folge wird auch erläutert, dass Uneinigkeit darüber herrscht, ob Musiknummern die Handlung weitertreiben sollen. Brechen die Charaktere überleitungsfrei in Gesang aus, scheinbar ohne einen Anlass, ist das immer wieder Anlass zur Kritik und ergibt im Allgemeinen einen Bruch der Handlung. Andere Journalisten wiederum erwarten Gesang und Geschichte getrennt. Als Überbegriff wird der Begriff „book trouble“ eingeführt:

Aaron Frankel erläutert, dass darunter in erster Linie ein wie auch immer gearteter Bruch zwischen Dialogstellen und Musiknummern gemeint ist: „,Book trouble’ only means that the elements not put to music fail in craft or in imagination to match those which are. The drop from one energy level to the other shows through.“

In weiterer Folge stellt Olaf Jubin im ersten Band die zu besprechenden Komponisten Stephen Sondheim und Andrew Lloyd Webber vor und wirft einen detaillierten Blick auf deren Karriere bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Werkes (2003, heute also schon etwas angestaubt).

Der zweite Band beschäftigt sich dann mit der intensiven Untersuchung der Kritiken zu Werken von Sondheim und Lloyd Webber. Dabei widmet sich der Autor sehr detailliert den Fragen der Inhalte der Kritiken beispielsweise welche Mitwirkende genannt werden, werden diese bewertet, wie wird das Werk selbst bewertet, welchen Mitwirkenden wird die größte Wichtigkeit beigemessen und vieles mehr. Ins Auge fällt immer wieder, dass Olaf Jubin mit dem Fachwissen der deutschsprachigen Journalisten zum Thema Musical ganz und gar nicht zufrieden ist. Bemerkungen wie diese fallen öfter:

Die wenigen konkreten Gegenüberstellungen beschränken sich zudem auf lediglich vier der insgesamt 19 Sondheim-Musicals im Sample, und diese vier waren alle in Deutschland oder Österreich zu sehen, während Verweise auf Werke des amerikanischen Komponisten, die bislang nur am Broadway und/oder im West End gespielt wurden, völlig unterbleiben. Derartige Verweise würden größeres Fachwissen erfordern, als die meisten deutschsprachigen RezensentInnen mitbringen.

Hier kann ich natürlich nicht umhin, anzumerken, dass Olaf Jubin die Arbeitsbedingungen der deutschsprachigen MusicaljournalistInnen sichtlich nicht bekannt sind. Um Werke von Stephen Sondheim, die in Europa bisher nicht zur Aufführung kamen, zu sehen, bleibt dann wohl nur eine regelmäßige Reise nach New York, was die meisten Arbeitgeber wohl kaum finanzieren werden und vor allem für den freien Journalisten, der seine Reisen selbst finanzieren muss, nicht machbar ist. In den Tageszeitungen gibt es überdies selten Journalisten, die sich nur mit dem Thema Musical beschäftigen. Da diese auch Fachwissen zu anderen Theatergattungen besitzen müssen, kann man ihnen wohl kaum mangelndes Fachwissen in diesem speziellen Bereich zum Vorwurf machen.

Gerade für Journalisten aus diesem Bereich stellt dieses Werk trotzdem eine interessante Betrachtung der eigenen Arbeit dar. Man hinterfragt möglicherweise seine eigenen Strukturen, die sich im Laufe der Jahre der Arbeit von selbst ergeben. Ist dem Komponisten mehr Bedeutung einzuräumen als dem Textdichter? Gerade im deutschsprachigen Raum hat man es außerdem oft mit Übersetzungen zu tun, wo man sich vielleicht öfter die Mühe machen sollte, das Originallibretto intensiver mit dem deutschen Text zu vergleichen. Aus Zeitgründen ist dies leider allzu oft nicht möglich. In jedem Fall muss der Leser auf 1.152 Seiten irgend etwas finden, was ihm zur Fortbildung gereicht, man sollte sich jedoch darauf gefasst machen, bisweilen etwas Flüssigkeit zum Begießen vorrätig zu halten, damit die Trockenheit nicht allzu sehr staubt.

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Unterhaltung

Pascal Mercier – Nachtzug nach Lissabon

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Und zu dieser sonderbaren, beunruhigenden Unzuverlässigkeit meines Urteils kommt noch eine Erfahrung hinzu, die, seitdem ich sie kennengelernt habe, mein Leben stets von neuem in eine verstörende Unsicherheit taucht: dass ich in dieser Sache, über die hinaus es für uns Menschen eigentlich nichts Wichtigeres geben kann, genauso schwanke, wenn es um mich selbst geht.

Wird ein Roman von der Kritik zu sehr hochgejubelt, kann dies auch dazu führen, dass man ihn gar nicht erst angreifen will, weil man sich vor einer zwangsläufigen Enttäuschung fürchtet. „Nachtzug nach Lissabon“ war für mich so ein Roman, der auf dem Regal der ungelesenen Bücher sitzend auf mich herunterstarrte. Die Bedenken hätten nicht unangebrachter sein können.

Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?

Der Lehrer Raimund Gregorius verlässt mitten im Unterricht seine Klasse, um sich auf den Weg nach Lissabon zu machen. Eine Portugiesin, die er nie wiedersehen wird, bringt ihn auf die Spur eines portugiesischen Autors und Schriftstellers. Dessen Gedanken zu unterschiedlichsten Bereichen des Lebens bringen Gregorius zum Nachdenken über sein Leben. Was hat er verpasst? Was hätte er anders machen können? Ein Roadmovie auf den Spuren von Amadeu de Prado beginnt. Gregorius lernt nicht nur den Autor sondern sich selbst neu kennen.

Es ist der Tod, der dem Augenblick seine Schönheit gibt und seinen Schrecken. Nur durch den Tod ist die Zeit eine lebendige Zeit. Warum weiß das der HERR nicht, der allwissende Gott? Warum droht er uns mit einer Endlosigkeit, die unerträgliche Ödnis bedeuten müsste?

Gregorius entdeckt Amadeu de Prado als äußerst vielfältigen und differenzierten Menschen. Sowohl seine Familie als auch seine damaligen Freunde spürt Gregorius auf. Er schafft es, von allen angenommen und ins Vertrauen gezogen zu werden. Er spielt Schach in einem verrauchten portugiesischen Schachclub, lässt sich eine neue Brille anpassen und kauft sich schließlich einen neuen Anzug. Durch das, was Gregorius über den Autor erfährt, erkennt er immer mehr über sich selbst und fühlt sich Prado zunehmend näher als seinem eigenen Leben zuhause in Bern.

Er vermisse auf der Liste die Liebe, sagte Gregorius. O’Kellys Körper spannte sich, und für eine Weile war er hinter dem Rausch wieder ganz wach. „Daran glaubte er nicht. Mied sogar das Wort. Hielt es für Kitsch. Es gebe diese drei Dinge, und nur sie, pflegte er zu sagen: Begierde, Wohlgefallen und Geborgenheit. Und alle seien sie vergänglich. …“

Obwohl Amadeu de Prado selbst nur durch die Worte in seinem Buch und durch die Erzählungen der Menschen, die ihn kannten, zu Wort kommt, prägt sein Leben Gregorius’ Bild von der Gesellschaft. Lange fragt man sich, zu welchem Ende Mercier diese Geschichte wohl führen wird: Wird Gregorius eine Wahrheit über sein Leben erkennen und dann geläutert zurückkehren? Wird er sein bisheriges Leben zurücklassen und in Lissabon die geheimnisvolle Frau von der Brücke wiederfinden? Wird Gregorius sterben und diese ganze verrückte Reise ist nur die Folge eines Gehirntumors, der ihm die Sinne verwirrt? Ahnt er bereits, das er sterben muss, als er aus seinem Leben ausbricht, um sich auf die Suche nach Prado zu machen?

Aber wenn wir uns aufmachen, jemanden im Inneren zu verstehen? Ist das eine Reise, die irgendwann an ihr Ende kommt? Ist die Seele ein Ort von Tatsachen? Oder sind die vermeintlichen Tatsachen nur die trügerischen Schatten unserer Geschichte?

Nicht alle Fragen werden beantwortet. Das ist auch nicht nötig, denn wer Gregorius’ und Prados Geschichte aufmerksam verfolgt, wird daraus problemlos Erkenntnisse für sich selbst ziehen können. Ein Meisterwerk, das Jubel und Recht zurecht erhalten hat.

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Krimi Roman Thriller Unterhaltung

Stieg Larsson – Verblendung

„Wir sind jetzt beim Kern meines Anliegens angekommen. Ich möchte, dass Sie herausfinden, wer in der Familie Harriet ermordet und danach fast vierzig Jahre versucht hat, mich in den Wahnsinn zu treiben.“

Selten kann man sich an einem Krimi erfreuen, der mit einer derartigen Präzision mehrere Handlungsebenen miteinander veknüpft und auf keiner einzigen dieser Ebenen scheitert.

Über die Handlung möchte ich an dieser Stelle nicht allzu viel sagen, dass ich diesen Roman jedem herzlich empfehlen möchte und daher nicht die Spannung zerstören möchte. Ein Handlungsverlauf durch mehrere Länder garantiert einen Spannungsbogen, der die Schicksale der Hauptpersonen sowohl auf beruflicher als auch privater Ebene immer wieder neu miteinander verwebt.

Aber nicht nur die Geschichte selbst ist ein Meisterwerk der Verknüpfung der Handlungsebenen, sondern auch und gerade die Gestaltung der Hauptpersonen macht diesen Roman zu dem Vergnügen, das sich auf beinahe 700 Seiten ausbreitet. Im Vordergrund steht in erster Linie der Journalist Mikael Blomkvist, der sich zwar mit Scharfblick auszeichnet, jedoch scheinbar ohne Emotionen durch die Betten der Frauen hüpft, die sich ihm auf seinem Weg ergeben. Seine Geschäftspartnerin und langjährige Geliebte Erika Berger – mit einem anderen verheiratet – ist ihm als langjährige Freundin eine wichtige Stütze auf seinem Weg, spielt jedoch emotional nur eine Nebenrolle.

Grandios gelungen ist jedoch das Charakterportrait von Lisbeth Salander. In jedem Kapitel entwickelt sie neue Facetten, jede einzelne überzeugend und konsequent illustriert. Als „schwieriges Kind“ aufgewachsen, ihre Mutter heute dement im Altersheim, sie selbst unter der Vormundschaft eines Anwalts, der ihre finanziellen Verhältnisse verwaltet. Gleichzeitig ist sie hochintelligent, kann die komplexesten Vorgänge entwirren und tummelt sich als Hackerin in den Welten des Internet. Als private Ermittlerin ist sie sehr erfolgreich, weshalb es auch zur Zusammenarbeit mit Mikael Blomkvist kommt, über den sie zuvor ein ausführliches Dossier erstellt hat, dass ihm selbst die Sprache verschlägt, als er es zu Gesicht bekommt. Sie allein trägt alle Emotionen in sich, die Stieg Larsson seinen Personen zugesteht, und diese lebt sie auch immer wieder grenzenlos aus. Gleichzeitig handelt sie nach raffinierter Planung mit kühler Präzision, wenn die Situation dies erfordert. Mit diesem grandiosen Charakterportrait allein hat Stieg Larsson eine großartige Leistung abgeliefert. Die Verfilmung werde ich mir wohl kaum ansehen, schon allein, weil mir einige Szenen sicher Alpträume verursachen würden. In den Trailern (Beispiel) macht die schwedische Schauspielerin Noomi Rapace einen soliden Eindruck, ob es ihr jedoch gelingt, die emotionale Tiefe dieser Figur auch zu verkörpern, muss jeder selbst beurteilen.

Eine Warnung sei jedoch anschließend ausgesprochen: Nach der Lektüre dieses Werkes könnte einem ein Brunetti und selbst ein Wallander etwas blass erscheinen.