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Roman

Octavia E. Butler – Parable of the Sower

It scares me how many things I’ve got to learn. How will I learn them? Is any of this real?

Tipp: Wenn du dich unvorbereitet in diese dystopische Welt hineinwerfen lässt, dann rechne mit einem harten Aufschlag. Schon auf den ersten Seiten wird klar: das wird keine einfache Lektüre. In den vergangenen Jahren habe ich einige Dystopien gelesen (zB The Maze Runner oder Der Geschmack von Wasser), aber keine hat mich bisher dermaßen erschreckt und gleichzeitig überzeugt. 

Die Protagonistin Lauren lebt in einer Art Gated Community. Wasser ist knapp, Lebensmittel und Wasser werden immer teurer, es gibt kaum noch Arbeitsplätze. Reichere Menschengruppen verschanzen sich hinter Mauern, während auf den Straßen unter den Armen nur noch das Recht der Stärkeren gilt. Obwohl die Angriffe der Armen auf die Community immer häufiger werden, leben die Menschen innerhalb der Mauern weiter, als hätte sich nichts verändert. Die Situation scheint ausweglos. Die 15-jährige Lauren ahnt jedoch, dass es so nicht weitergehen kann. Sie sieht den Tag kommen, an dem die Tore dem Ansturm nicht mehr standhalten können. Lauren bereitet einen Notfallrucksack vor, um fliehen zu können. Im Norden sollen die Wetterverhältnisse noch besser sein, aber alle Menschen, die die Möglichkeiten haben, zu fliehen, versuchen, dorthin zu gelangen. Die nördlichen Grenzen werden gegen die Flüchtlingswelle verteidigt.

Viele Elemente dieser Dystopie sind so gegenwärtig, so vergleichbar mit aktuellen Entwicklungen, dass es schwer fällt, zu glauben, dass das Buch bereits 1993 geschrieben wurde. Eindeutig sind die Verweise auf den Klimawandel als Auslöser dieser schwierigen gesellschaftlichen Situation, aber auch die wirtschaftlichen Konsequenzen, die sich daraus ergeben (Superreiche verschanzen sich, kaufen ganze Landstriche auf, um daraus noch mehr Geld zu scheffeln, moderne Sklaverei wird nicht nur am Rande erwähnt, sondern auch erklärt, aus welchen Gründen sich verzweifelte Menschen darauf einlassen). Aber auch die sozialen Veränderungen (Gruppenzusammenhalt aber Ausschluss von anderen, anderen nicht zu helfen, um das eigene Leben zu schützen, „Das Boot ist voll“-Mentalität) lassen sich in unserer aktuellen gesellschaftlichen Situation bereits erkennen. 

All that you touch,

You Change.

All that you Change,

Changes You.

The only lasting truth

Is Change.

God

Is Change.

Neben ihren praktischen Notfallplänen (Lauren packt einen Notfallrucksack und bereitet sich auf das Leben außerhalb der Mauern vor) versucht Lauren auch, auf geistiger Ebene mit der Situation zurecht zu kommen. Ihr Vater ist religiöser Führer der Gemeinde, Lauren kann sich jedoch kaum noch mit seinen Lehren identifizieren und entwickelt ihre eigene Sicht auf die Welt, die im Wesentlichen Veränderung über alles stellt. In ihrem Notizbuch notiert sie Verse und Gedanken, die sich schließlich zu einer Art Religion namens Earthseed zusammenfügen. Die meisten Verse lassen sich auch unabhängig vom Glaubensaspekt auf verschiedenste Lebenssituationen übertragen.

Your teachers

Are all around you.

All that you perceive,

All that you experience,

All that is given to you

or taken from you,

All that you love or hate, 

need or fear

Will teach you –

If you will learn.

Es dürfte wohl kaum als Spoiler gelten, wenn ich verrate, dass Lauren am Ende des Buches nicht mehr mit ihrer Familie in der Gated Community lebt. Mir war vor dem Lesen nicht bewusst, dass es sich um eine Serie handelt, ein Abschluss ist daher in diesem Sinne nicht gegeben. Das Buch endet eher mit einem Neuanfang. Auf den ersten Seiten hätte ich nicht gedacht, dass aus dieser beklemmenden Situation noch Hoffnung entstehen könnte.

The universe is God’s self portrait.

Randnotiz: Die Jahresstatistik für 2019 ist äußerst zufriedenstellend. Laut aktueller Zählung habe ich insgesamt 58 Bücher hier im Blog beschrieben, nebenbei habe ich im Rahmen meines Fernstudiums große Mengen an Fachliteratur gelesen. Gezählt habe ich auch wieder die Verteilung auf männliche und weibliche Autoren, die in diesem Jahr sehr deutlich zugunsten der weiblichen Autoren ausgefallen ist. Bezüglich der Buchformate liegt auch 2019 die Overdrive eLibrary eindeutig vorn. Die deutschsprachige Virtuelle Bücherei/Onleihe hat in diesem Jahr ein neues DRM erhalten, das das Lesen auch ohne Adobe ID möglich macht. Leider ist das System noch nicht ausgereift, die App teilweise etwas sperrig in der Handhabung und der Katalog noch nicht so groß. Immerhin drei Bücher habe ich aber dieses Jahr mit der neuen Onleihe-App gelesen und noch einige weitere sind auf der Wunschliste. Auch das Papier-Angebot der Büchereien Wien habe ich 2019 intensiv genutzt, wegen einiger Bücher, die ich für Geocaching-Rätsel brauchte, habe ich auch die Zweigstellen Hormayrgasse und Engerthstrasse besucht. Auch 2020 wird es mit dieser wilden Mischung hier weitergehen.

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Memoir

Kate Bowler – Everything Happens for a Reason and Other Lies I’ve Loved

Die Autorin reflektiert in diesem Buch über ihre Erfahrungen und ihren Umgang mit der Diagnose Darmkrebs. Ihre Situation lässt sie anders denken über Lebenspläne und Lebensqualität, über persönliche Beziehungen und die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Wieviel Zeit vergeuden wir täglich mit Ärger über unwichtige Dinge? So viele Wünsche und Träume verschieben wir auf eine Zukunft, die vielleicht niemals kommt. Erst im Angesicht einer potentiell tödlichen Krankheit wird klar, dass wir aus jedem Tag das Beste machen können und das, was uns glücklich macht, nicht auf später verschieben dürfen.

She is working harder than anyone I have ever known, but her selflessness has caused her to surrender too much of herself to “someday”. And now someday has come, at least for me.

Als gläubiger Mensch erhält sie viel Feedback von ihrer Kirchengemeinde und nach einem online veröffentlichten Artikel über ihre Situation auch von völlig Fremden. Der Titel des Buches verweist auf die vielen wohlgemeinten, aber nicht hilfreichen Ratschläge, die sie in ihrer Situation von Bekannten und Fremden erhalten hat. Ein Ansatz dabei ist, dass jede Situation eine Prüfung ist, die Gott uns stellt und die uns stärker machen soll. Wesentlich schwieriger zu verarbeiten ist die Perspektive, dass die Krankheit eine Strafe für begangene Sünden oder nicht ausreichend intensiven Glauben ist. Viele Menschen berichten ihr auch von ihren eigenen Problemen, die sie im Allgemeinen als wesentlich schlimmer erachten als das Schicksal anderer. Daraus folgt zwar die Erkenntnis, dass das Leben für jeden irgendwie schwer ist (that life is hard for everyone), aber macht das die eigene Situation in irgendeiner Form besser? Wie ich kürzlich bei Barry Schwartz in The Paradox of Choice gelesen habe, machen uns Vergleiche jeder Art – speziell mit dem Leben anderer Menschen – immer unglücklich.

I have still, somehow, clung to the idea that I am able to save myself.

Jede schwierige Situation im Leben gibt uns Gelegenheit, zu wachsen und daraus zu lernen. Die Autorin fragt sich im Angesicht ihrer potentiell tödlichen Krankheit, ob sie jemals eine vollständige Person sein wird (wondered if I would ever be one, whole person). Was kann uns überhaupt zu einer vollständigen Person machen? Im Rahmen meiner jüngsten Krise habe ich begonnen, mich mit Selbstakzeptanz zu beschäftigen und der Frage nachzugehen, ob das eigene unperfekte Selbst eigentlich schon genug ist. Auch wenn wir uns täglich verändern und an unseren Lebenserfahrungen wachsen, können wir jemals genug oder ganz sein? Wenn wir es jetzt noch nicht sind, welche Erfahrung könnte dazu führen, dass wir ganz werden? Eine Frage, die mich vermutlich noch länger beschäftigen wird.

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Roman

Neil Gaiman – American Gods

„Gods are great“, said Atsula, slowly, as if she were comprehending a great secret. „But the heart is greater. For it is from our hearts they come, and to our hearts they shall return …“

In diesem monumentalen Roman beschäftigt sich der Autor mit Göttern und Mythen. Aus amerikanischer Sicht sind die meisten Götter eingewandert, sie stammen beispielsweise aus Irland (Leprechauns) und sind mit den irischen Einwanderern, die an sie glauben, nach Amerika gekommen. Wenn diese Gottheiten nun ihre Anhängerschaft Stück für Stück verlieren, geraten sie in Vergessenheit.

All they had in common was a look, a very specific look. It said, You know me; or perhaps, You ought to know me. An instant familiarity that was also a distance, a look, or an attitude – the confidence that the world existed for them, and that it welcomed them, and that they were adored.

Das große Thema des Buches ist nun ein (vermeintlicher) Kampf zwischen alten und neuen Göttern. Der Protagonist Shadow wird nach drei Jahren aus dem Gefängnis entlassen und muss feststellen, dass sein sorgfältig vorbereiteter Plan (Rückkehr zu seiner Frau, Job im Fitness-Center seines Freundes) in Stücke zerbrochen ist. Seine Frau und sein Freund wurden bei einem Autounfall getötet. In diesem Schockzustand wird Shadow von Mr. Wednesday aufgelesen, der ihm einen Job und somit eine Beschäftigung, eine Lebensmöglichkeit anbietet. Schon am zweiten Tag dieser Beschäftigung wird Shadow von den neuen Göttern in einer Limousine bedroht. Der Autor lässt diese Götter namenlos bleiben, ihre Handlanger nennen sich Mr. Town, Mr. World und Mr. Stone und scheinen keine Persönlichkeit zu haben. Sie haben keine Geschichte, ihre Energie stammt rein aus der Gegenwart. Durch das Vernichten der alten Götter hoffen sie auf noch mehr Popularität, die sie am Leben hält.

He hoped he would live through this, but he was willing to die, if that was what it took to be alive.

Eine der Geschichten (als Traum von Shadow erzählt) beschreibt ein Gottwesen namens Ifrit, das Besitz von einem anderen Körper, einer anderen Person, einem anderen Leben nimmt. Die Geschichte kam mir bekannt vor und tatsächlich hat Neil Gaiman hier einen Mythos verwendet und auf moderne Art neu erzählt. Gerade wegen dieser Umgangsweise mit spirituellen Inhalten (die von vielen Gläubigen als respektlos empfunden werden kann) wurde der Roman kontrovers aufgenommen, wie der Autor selbst in seinem Vorwort schreibt.

After this there would be no more obligations, no more mysteries, no more ghosts.

Die Geschichte besteht jedoch nicht nur aus Mythen, sondern hält einige spannende Wendungen bereit, die für mich als Leserin nicht vorhersehbar waren. Es entwickelt sich ein fesselndes Gesamtkonzept, das zwischen den Zeilen auch noch ein Plädoyer für religiöse Toleranz beinhaltet.

In einem Interview am Ende des Buches outet sich Neil Gaiman übrigens als einer derjenigen, der nie genug Zeit hat für alle Dinge, die er gerne tun möchte:

There is not enough time, and I wind up just wanting to do things that I don’t have time for. There are so many things that I’d love to do, and I have to put off, or that it’s a matter of me choosing, when really I’d love to do both. And if only time were infinitely stretchy, I could.

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Roman

Eric-Emmanuel Schmitt – Die Frau im Spiegel

Sich fortzupflanzen? War es das, was die Frauen in ihrer Umgebung alle nicht erwarten konnten? Selbst die unbändige Ida?

Dieses Buch hatte ich schon auf meiner letzten Reise begonnen, nur irgendwie war der Anfang etwas schleppend und ich konnte mich nicht wirklich auf die drei Protagonistinnen einlassen. Das Buch beschreibt drei Frauen, die sich den Normen ihrer aktuellen Gesellschaft nicht unterwerfen können oder wollen. Sie lehnen sich auf gegen die Erwartungen, die an sie als Frau gestellt werden: zu heiraten, fruchtbar zu sein, sich in Liebe einem Mann zu unterwerfen. In unterschiedlichen Epochen und unterschiedlichen Verhältnissen lebend bleiben den Frauen verschiedene Möglichkeiten, sich mit den gesellschaftlichen Erwartungen zu arrangieren oder sie herauszufordern.

Anne von Brügge läuft ihrer eigenen Hochzeit davon, fühlt sich nur mit der Natur eins und wird aufgrund ihres unerschütterlichen Glaubens, dass Gott in der Natur lebt und durch sie spricht, schließlich als Ketzerin verbrannt.

Hanna Waldberg droht unter den Erwartungen ihres Ehemannes und seiner Familie, ihm möglichst bald Kinder zu schenken, zusammenzubrechen. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse eröffnet ihr schließlich einen neuen Lebensweg abseits der Pfade, die die Gesellschaft für eine Frau in ihrer Stellung vorgesehen hat.

Anny Lee lässt sich als erfolgreiche Schauspielerin von ihrer Agentin gängeln und versucht ihre Freiheit durch Alkohol- und Drogeneskapaden auszuleben. Ihr fehlt nicht nur ein Bezug zur realen Welt sondern auch ein Gefühl für ihren eigenen Körper. Dabei können ihr auch die Beziehungen zu wechselnden Männern nicht helfen. Erst als sie ihre Vorstellungen davon, was Liebe sein muss, zurücklassen kann, findet sie eine neue Perspektive auf die Welt.

Du bist sehr viel mehr, als das, was du glaubst zu sein.

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Roman

Bernard Cornwell – Der leere Thron

Letztens hatte ich mich kurz gefragt, ob der Cornwell eigentlich kürzlich mal wieder was geschrieben hätte, und daraufhin festgestellt, dass seit dem letzten Mal, dass ich mich das gefragt hatte, bereits zwei Jahre vergangen sind und sogar zwei neue Uhtred-Romane inzwischen erschienen sind. Dafür wollte ich die geschenkten Gutschein-Karten des Mainstream-Bookstores einlösen, bekam aber beim ersten Anlauf nur Der leere Thron.

Das Buch beginnt mit einer Episode aus dem Blickwinkel von Uhtreds Sohn, auf einen kurzen Moment der Verwirrung folgte ein Moment der Erleichterung, als mit dem zweiten Kapitel wieder Uhtred selbst das Erzählen übernimmt. Ich kann es nicht erklären, warum mich diese Geschichte auch im achten Band noch fesselt, obwohl Schlachten, Schwerter und Schildwall fester Bestandteil jedes Bandes sind. Bernard Cornwell pflegt einen Erzählstil, der spannend bleibt und obwohl so mancher Ausgang einer Schlacht vorhersehbar ist, gelingt es ihm immer wieder, überraschende Wendungen einzubringen, die trotzdem nicht unglaubwürdig wirken. Nicht nur einmal musste ich beim Lesen auflachen, weil der körperlich angeschlagene, aber schlaue Uhtred seine Gegner gefinkelt hinters Licht führt. Ach, und für die Read Harder Challenge konnte ich es auch verbuchen: Read a book of historical fiction set before 1900.

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Biografie

Malte Prietzel – Jeanne D’Arc

Ursprünglich hatte ich mir dieses Buch als Material für ein potentielles Projekt ausgeliehen. Als es dann vier Wochen unangetastet herumgelegen war, wurde mir klar, dass es für dieses Projekt wohl doch nicht genug Interesse und Energie in mir gibt. Lesen wollte ich es aber trotzdem noch.

Verständlicherweise würde Gott nur zu solchen Menschen sprechen, die seine Gebote befolgten und ein vorbildliches Leben führten. Echte Propheten fluchten also nicht, sie waren fromm und bekannten sich zu ihrem Glauben in Wort und Tat, sie waren sexuell allenfalls mit ihrem Ehepartner aktiv oder, besser noch, sie lebten enthaltsam. All das traf auf Jeanne zu.

Diese Biografie zeichnet ein ausführliches Sittenbild des Frankreich des fünfzehnten Jahrhunderts. Der Autor erklärt verständlich, wie es dazu kommen konnte, dass ein Bauernmädchen als Kriegsherrin und Prophetin verehrt wurde. Entscheidend dafür war die damalige Religionsauffassung. Jeanne hatte Visionen, sie hörte Stimmen, die sie für die Stimmen von Heiligen hielt. Diese befohlen ihr, die Engländer aus dem teilweise eroberten Frankreich zu vertreiben und Karl VII. zur Königsweihe zu führen. Der oben zitierte Absatz erklärt, warum Jeannes Prophezeiungen schließlich Glauben geschenkt wurde. Hätte irgendjemand Zweifel an ihrer Jungfräulichkeit beweisen können, wäre ihr Leben sicherlich anders verlaufen. Sie glaubte unerschütterlich daran, dass sie auserwählt war, auf Erden Gottes Recht durchzusetzen.

An ihrer Rolle bei der Beendigung der Belagerung von Orléans zeigt sich auch, welche Wirkung sie auf die Bevölkerung hatte. Jeanne war keine Kriegerin, sie verstand nichts von taktischer Kriegsführung, jedoch war sie für die Menschen ein Symbol. Sie trug furchtlos ihre Standarte heran und machte damit den Soldaten und der belagerten Bevölkerung Mut.

Es ist durchaus möglich, dass die französischen Truppen die Belagerung auch ohne Jeanne hätten beenden können. … Aber ohne Jeannes Drängen und ihr Vorbild im Kampf wäre Orléans wohl später befreit worden. Womöglich hätten die französischen Hauptleute so lange gezögert, dass die Stadt kapituliert hätte.

Bei einer so lange zurückliegenden Lebensgeschichte widersprechen sich natürlich viele Quellen. Der Autor versäumt es jedoch nicht, die Aussagen der Zeitzeugen auch anhand ihrer eigenen Interessen zu bewerten und einzuordnen.

Nach Jeannes Gefangennahme wird sie von der gegnerischen Partei als Ketzerin angeklagt. Dieser Prozess wird sehr genau beschrieben, die damaligen Rechtsgelehrten scheinen sich große Mühe gegeben haben, Jeanne auf einer angemessenen Rechtsbasis auf den Scheiterhaufen zu bringen (…). Der Rehabilitationsprozess 25 Jahre nach ihrem Tod diente hingegen nur dazu, den inzwischen über ganz Frankreich herrschenden König vom Verdacht freizusprechen, mit einer Ketzerin im Bunde zu sein. Für ihre Gegner und Nutznießer war Jeanne also nur eine Figur auf dem politischen Schachbrett. An ihren eigenen Ziele und Überzeugungen hielt sie jedoch bis zum letzten Moment fest.

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Erfahrungsbericht Sachbuch

Khaled Al-Berry – Life is more beautiful than paradise

Wenn über den Islam gesprochen wird, wissen die wenigsten Menschen, was diese Religion eigentlich ausmacht, wo sie herkommt und wie die Gläubigen leben. Ich weiß selbst beschämend wenig darüber. Wenn es dann um fundamentalistischen Islam geht, um die Menschen, die für ihre Religion in einen Glaubenskrieg ziehen, dann hört das Verständnis zumeist total auf. In unserer Gesellschaft liegt das vermutlich auch zu einem großen Teil daran, dass viele gläubige Katholiken es eigentlich nur auf dem Papier sind. Sein Leben an religiösen Vorschriften ausrichten, die über 2.000 Jahre alt sind? Für die Einhaltung von Vorschriften kämpfen, die einem das Alltagsleben erschweren, die einem Chancen zunichte machen, die darüber entscheiden können, ob man einen Job bekommt, oder nicht? Das kennt man im heutigen Katholizismus nicht mehr. Dass noch vor 1.000 Jahren die christlichen Glaubensritter auf Kreuzzüge auszogen, um die „einzig wahre“ Religion zu verbreiten, wird zumeist auch vergessen.

Dieses Buch erzählt nun also die Geschichte eines fundamentalistischen Islam-Gläubigen. Khaled Al-Berry schloss sich in jugendlichem Alter Anfang der 90er-Jahre einer Extremistengruppe an, die den fundamentalistischen Islam vertritt. Die Jama’a Islamiya formierte sich an ägyptischen Universitäten als Organisation militanter Studenten mit dem Ziel, die ägyptische Regierung zu stürzen und durch einen Islamischen Staat (auch islamische Republik, nicht zu verwechseln mit der heute bekannten Organisation Islamischer Staat) zu ersetzen.

Eine der interessantesten Stellen des Buches beschreibt den schleichenden Eintritt in die fundamentalistische Religion. Khaled Al-Berry erzählt, wie aus den Diskussionsgruppen, in denen er mit Gleichgesinnten Auslegungen des Korans und anderer islamischer Schriften diskutierte, schließlich politische Dimensionen entsprangen. Zuerst geht es nur um die Einhaltung der Vorschriften durch jeden für sich selbst. Dann geht es um die Einhaltung der Vorschriften durch alle anderen Gläubigen. Dann geht es um den Staat und dass dieser keinesfalls von Ungläubigen geleitet werden darf.

When anyone takes his first steps in the Jama’a, he cannot tell where the path begins or at what point he will find himself fully committed; everything flows seamlessly. The study circles do not discuss how to confront society, or how the state should be governed. They discuss what is forbidden and what is permitted, they discuss prayer, the rules governing fasten, the rules governing how to look at a woman and listen to music, the limits to be placed on the exposure of the body, the acts that render ritual ablutions void and those that require the ritual purification of the whole body, the proprieties to be observed when bathing and when eating.

Einen wichtigen Punkt bildet dabei auch die Rechtfertigung des Tötens, denn natürlich enthält auch der Koran eine Vorschrift, die das Töten anderer Menschen untersagt. Leider enthält er auch Passagen, die in die eine oder die andere Richtung interpretierbar sind. Fundamentalistische Gruppen verstehen es, diese Passagen so auszuwerten, dass im Kampf gegen Ungläubige und um den einzig wahren Glauben zu verteidigen, jedes Mittel erlaubt ist, wie es auch die Jama’a Islamiya in ihrem Motto verfolgte:

Fight them on until there is no more Tumult, and there prevail justice and faith in Allah; but if they cease, Let there be no hostility except to those who practise oppression.

Khaled Al-Berry erklärt in diesem Zusammenhang auch den Unterschied zwischen Töten (zu verstehen im Sinne einer Exekution als Strafe für falsches Verhalten) und Kämpfen (im Sinne eines Krieges oder eines Aufruhrs gegen das bestehende Regime):

To put the matter in a contemporary context, killing resembled the carrying out of a judicial sentence of execution, whereas fighting was an armed uprising against the ruling regime, or a war with another state’s regime.

Während eines Aufruhrs an der Universität wird der Autor verhaftet. Aus dem Buch geht nicht hervor, dass er irgendeine Form der kriegerischen oder gewalttätigen Handlung begangen hätte, er gehörte schlicht einer politischen Gruppierung an, die sich gegen das bestehende Regime auflehnte und daher von der Regierung niedergeschlagen werden sollte. Dieser Teil des Buches beschreibt Verhörmethoden, mangelnde Gerichtsverfahren, Folter in weitaus mehr Details, als ich jemals wissen wollte. Auf eine ungewisse Zeit in einem Security Camp (einer nicht näher beschriebenen militärischen Einrichtung) folgt eine ebenso ungewisse Zeit im Gefängnis – ohne Hoffnung auf Entlassung.

But the experience itself is different. Prison is a cage in which a person who has complete power imprisons another who has no protection and deprives him of the sight of the sun, of walking in the open air, of going to the toilet, or of seeing friends. … Prison likewise deprives one of his control over time and place.

Die Zeit im Gefängnis hat Khaled Al-Berry nicht von seinen religiösen Vorstellungen geheilt oder befreit, sie jedoch massiv verändert. Er beschreibt deutlich schamvoll, wie sehr ihn die schließlich wiedererlangte Freiheit verändert. Auch den titelgebenden Punkt, an dem er feststellte, dass das Leben auf dieser Erde schöner ist, mehr wert ist, als das Leben nach dem Tod im Paradies. Er verfolgt keine politischen Ziele mehr, versucht unter dem Radar zu fliegen, sein Studium abzuschließen und nicht aufzufallen. Er bleibt gläubig, lässt aber Stück für Stück von seinen radikalen Ansichten ab. Im letzten Absatz des Buches bezeichnet er sich selbst als a young man raised on illusions. Das dürfte wohl auf viele Glaubenskrieger zutreffen.

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Roman

James Michener – The Source

He asked his mother, “If a bee does so much good in the wadi and is tormented by an enemy as fatal as the bird …” He followed the fliegt of the dazzling predator and watched as it swooped down upon a bee returning from the flowers and then spit out the wings. It was an ugly incident and he said, “Is it possible that we also have enemies somewhere in the sky, waiting to pounce on us?” Again he paused, and then put into exact words the problem that had begun to torment his mother: “Suppose the rain has a spirit of its own? Or the sun? What then with our wheat?”

Sobald ich selbst lesen konnte (vielleicht aber auch schon davor), war meine Familie ständiger Gast in der Stockerauer Stadtbücherei. Meine Mutter, meine Schwester und ich teilten uns über Jahre einen Bibliotheksausweis. Woche für Woche schleppte meine Mutter kiloweise Bücher nach Hause und wieder zurück in die Bücherei. Damals las ich die deutsche Version Die Quelle, ich habe einen unfassbar dicken Wälzer in Erinnerung, den ich damals aber in der vorgeschriebenen Ausleihzeit von 2 Wochen problemlos weggelesen habe. Schon damals faszinierte mich die detaillierte Beschreibung der unterschiedlichen Epochen und die geschickte Strukturierung der Geschichte, die am Ende alle Fäden zusammenlaufen lässt.

“El has no home, for he is everywhere.”
This simple idea reached Timna’s inquisitive mind like sunshine after storm, like a rainbow after a fall of cold rain.

Anhand einer fiktiven Ausgrabunsstätte namens Makor, gelegen im heutigen Israel, lässt der Autor Generationen wieder auferstehen. Es beginnt in einer Höhle, wo Ur mit seiner Familie lebt. Sie kommunizieren, jagen, führen jedoch ein einfaches Leben, völlig abhängig von der Witterung. Als Urs Familie entdeckt, dass sich Getreide gezielt anbauen lässt, sind sie gezwungen, ihre Höhle zu verlassen, und sich neben den Feldern niederzulassen. Als die Ernte wiederholt von Stürmen vernichtet wird, entsteht der erste Funke des Glaubens an einen Wettergott, den man erzürnen oder besänftigen kann (Zitat ganz oben). Dieser Moment ist in diesem Roman der Ursprung aller drei Weltreligionen, James Michener beschreibt eindrucksvoll, wie sich der Glaube an eine höhere Macht in den Menschen festigt, wie er ihnen Trost spendet, wie sie aber auch aus Glaubensgründen Fehler machen und ihre Mitmenschen verraten.

… but rather by the sensible logic that pervaded all religions: the Jews had borrowed from the Canaanites, and the Christians had borrowed from the Jews. Now there war approaching from the desert a newer religion that had borrowed even more extensively from both Jew and Christian, but all went back to those primitive urgings which had found expression in Baal, and before him hin the primogeniture divinity of all, the mysterious and self-effacing El.

Auf der Zeitebene der Ausgrabungen in Makor diskutieren der irische Christ Cullinane, der Jude Eliav und der Moslem Tabari die „aktuellen“ (die Originalausgabe erschien 1965) Entwicklungen im Nahen Osten. Die Gebietsansprüche, der Kampf um Jerusalem, das für alle drei Religionen eine wichtige Pilgerstätte ist, die in den Augen von Nicht-Juden unverständlichen und überholungsbedürftigen Regeln der Rabbis, die jedoch das Herz des Judentums ausmachen – all dies besprechen die Archäologen in meist freundschaftlichen Diskussionen und werfen somit zusätzliches Licht auf die Situation und die unterschiedlichen Meinungen.

The Torah says simply, “The seventh day is the sabbath of the Lord thy God: in it thou shalt not do any work…” That’s strait forward. But the rabbis write whole books about what a man shall not do on Shabbat, and when Safad is about to fall to the Arabs you bring out those books to halt sensible work.

Gegen Ende des Buches konzentriert sich die Geschichte sehr auf das Judentum und den Konflikt zwischen den Jahrhunderte alten festgeschriebenen Regeln der Rabbis und der moderneren Interpretation einer neuen Generation von Juden, die stolz auf ihre Herkunft sind und für ihren Staat kämpfen wollen. Das Judentum wird deutlich abgegrenzt von den anderen beiden Weltreligionen, seine Wurzeln gehen tiefer, das mag überraschend für all jene kommen, die heute den Islam für die traditionellste Religion halten.

Dieses Mal habe ich für das Buch mehr als 6 Monate gebraucht. Zu Beginn des Jahres habe ich es begonnen als erstes Buch für die Reading Challenge – A book with more than 500 pages. Bisher hat mir die Reading Challenge hauptsächlich Vielfalt in meiner Leseauswahl gebracht, jetzt fühle ich mich fast etwas eingeschränkt, weil ich eigentlich gerne James A. Michener’s Writer’s Handbook lesen würde, um herauszufinden, wie man solche monumentalen Werke konstruiert. Dass er außerdem die Vorlage zum Musical South Pacific geschrieben hat (seine Erzählungen Tales of the South Pacific), war mir bisher auch entgangen. Und eigentlich möchte ich auch dringend etwas über den Nahost-Konflikt lesen, wie er sich in den 40 Jahren nach dem Ende des Romans entwickelt hat. 1 Buch gelesen, 3 bis 5 neue auf der To Read-Liste. Problems of a Book Nerd.

Reading Challenge: A book with more than 500 pages

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Erfahrungsbericht Reise

Sergio Bambaren – Die blaue Grotte

Diese Seiten werden dir die Kraft geben, das Leben zu leben, das Du gewählt hast, und sie werden Dir das Gefühl geben, dass ich immer bei Dir bin, egal, wo Du bist, und egal, wo ich nun bald sein werde.

Sergio Bambaren (2010 hatte ich Ein Strand für meine Träume gelesen) beschreibt in diesem Band seine Erlebnisse auf einer Lesereise durch Europa. Parallel erzählt er die Lebensgeschichte des Heiligen Franz von Assisi. Die Kurzfassung: Franz von Assisi entstammte einer reichen Familie, entschied sich jedoch, sein Leben wie Jesus Christus in Armut zu verbringen, er wanderte als Prediger durch Italien und fühlte sich der Natur verbunden. Ich erinnere mich an eine Dokumentation über sein Leben, die ich vor vielen Jahren im Religionsunterricht gesehen habe: Brother Sun and Sister Moon. Der Titelsong dröhnt mir heute noch in den Ohren.

Denn ich weiß nun, dass wir immer dorthin gelangen, wo wir hinmüssen, wenn wir uns von den Fesseln des „normalen“ Lebens befreien und unseren eigenen Weg gehen. In meinem Fall habe ich eben auf die Stimme meines Herzens gehört und bin weitergefahren.

Der Autor beschreibt seine Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen auf seiner Reise. Da er im überlaufenen Assisi nicht die erhoffte Ruhe findet, landet er nahe Capri in einem Hotel, das zufällig in einem Gebäude eingerichtet ist, in dem im 13. Jahrhundert von Franz von Assisi ein Kloster gegründet wurde. Auf seiner Reise lernt er viele Menschen kennen, manche geplant, manche zufällig, wie etwa einen Obdachlosen, der ihm (ungewollt, man könnte beinahe sagen: zufällig) eine neue Perspektive vermittelt.

Zu viel denken ist wie billiger Fusel – es tötet die Gehirnzellen. Daher: leben und leben lassen. Und seinen eigenen Weg gehen.

Während des Lesens schwankte ich ständig zwischen dem Gefühl, sofort selbst auf Reisen gehen zu wollen (in letzter Zeit wieder ein häufiger Begleiter) und dem Gedanken, dass diese übertriebene, zur Schau gestellte glückselige Spiritualität einfach nicht wahr sein kann. Mit etwas Abstand betrachtet ist es wahrscheinlich so ähnlich wie mit der Facebook Timeline. In der Facebook (oder Twitter oder Whatsapp oder Instagram …) Timeline zeigen die Benutzer nur die Teile ihres Lebens, die schön sind: das gute Essen, der neue Kugelgrill, das neue Motorrad, den schönen Radausflug. Was man als Leser / Freund / Beobachter nicht sieht, sind die vielen normalen Momente dazwischen, die das Leben wirklich ausmachen. Auch Sergio Bambaren wird auf seiner Reise nicht nur spirituelle Erfahrungen und schöne Begegnungen erlebt haben, sondern auch die Langeweile beim Warten auf den Flug, den Ärger über rücksichtslose Menschen, vielleicht sogar Heimweh oder den kurzfristigen Wunsch, diese Reise niemals angetreten zu haben.

Trotzdem schadet es nicht, sich selbst immer wieder daran zu erinnern, dass es wichtig ist, die schönen Momente im Leben nicht nur zu genießen, sondern sie auch zu erkennen. Damit meine ich nicht die oben erwähnten Highlights, die wir ins Internet hinausschreien, sondern die kleinen Momente des Alltags: den Hund streicheln, Kaffee trinken, die Kinder lachen sehen, Müsli mit frischen Erdbeeren essen. Manche schaffen es vielleicht sogar, das Gras wachsen zu hören. ;-)

Reading Challenge: A book with a colour in the title

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Roman

Kristin Harmel – Solange am Himmel Sterne stehen

Ich rieche backendes Brot, sich färbendes Herbstlaub und einen schwachen Geruch von Feuer, während ich durch die Straßen gehe, und ich atme tief durch, denn es ist eine Mischung, die ich nicht gewohnt bin. Kleine Torbögen, Fahrräder, die an Steinmauern lehnen, und fast versteckte, umzäunte Gärten rufen mir in Erinnerung, dass ich an einem Ort bin, der mir fremd ist, aber irgendetwas an Paris kommt mir dennoch sehr vertraut vor.

Poetisch, mitreißend, eine Liebesgeschichte, eigentlich sogar mehr als eine, eine starke, an sich selbst zweifelnde, weibliche Heldin. Trotzdem kein dummes Frauenbuch.

Eine auch nur ansatzweise Nacherzählung würde zu weit führen, so unheimlich weit verzweigt sind die Familienverhältnisse und Geschehnisse, die die Autorin in ihrem Roman Stück für Stück enthüllt. Eine alte Frau leidet unter Alzheimer. Ihre Vergangenheit im zweiten Weltkrieg hat sie bisher für sich behalten, nicht mal ihre Enkeltochter und ihre Urenkelin wissen, dass sie einer jüdischen Familie in Paris mit polnischen Wurzeln entstammt. An einem guten Tag kehrt ihr Gedächtnis zurück und sie bittet ihre Enkelin, nach den lange vermissten Verwandten zu suchen.

Durch die ganze Geschichte weht stets der Duft von Gebäck. Zwischen den Kapiteln finden sich Rezepte für traditionelle polnisch-jüdische, aber auch muslimische Gebäckstücke, die Rose aus ihrer Zeit aus Paris mitgebracht hat. Freundschaft und Liebe entfalten sich kontinuierlich. Mit dem Aufdecken der Vergangenheit verbessert sich auch die angespannte Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Enthalten ist auch ein feinfühliges Porträt einer Jugendlichen, die unter der Scheidung ihrer Eltern leidet.

Ein nach Zimt und Zuckerguss duftender Wohlfühlroman mit ernsthaftem Hintergrund. Gut recherchiert, vielleicht eine Spur zu optimistisch, manche Wendungen vorhersehbar, aber doch so angenehm zu lesen, dass der Winter für ein paar Stunden etwas wärmer wird.

„…, du kannst nicht dein Leben lang nach allen Regeln leben und immer nur das tun, was andere Leute von dir erwarten, ohne an dich selbst zudenken, okay? Dann wachst du nämlich eines Tages mit achtzig oder so auf und begreifst, dass das Leben an dir vorbeigegangen ist.“