Categories
Erfahrungsbericht Memoir

Sue Monk Kidd und Ann Kidd Taylor – Granatapfeljahre

Was mich zum wichtigsten Grund dafür bringt, warum es der reine Wahnsinn wäre, wenn ich eine Schriftstellerkarriere anstreben würde: Es erfordert viel zu viel Selbstvertrauen.

Wenn ich schon selbst nicht verreisen kann, dann kann ich wenigstens einen Reisebericht lesen, dachte ich mir. Die Reisen sind aber in diesem Buch eigentlich nur der rote Faden für die Entwicklung der beiden Autor*innen und ihrer Beziehung zueinander. Sie sind Mutter und Tochter.

Die Jüngere kämpft mit einer Ablehnung, die ihr den Lebensweg verstellt, den sie sich als Erfüllung ihrer Träume vorgestellt hat. Die Ältere hadert mit dem Übergang in eine neue Lebensphase, die Menopause macht ihr nicht nur körperlich zu schaffen, sondern lässt sie auch seelisch ihre Lebensentscheidungen hinterfragen. Auf ihrer spirituellen Suche befassen sie sich mit der griechischen Sage von Demeter und Persephone, der Jungfrau von Orleans und der Gottesmutter Maria, hauptsächlich in Gestalt der Schwarzen Madonnen, die berühmteste ist im französischen Rocamadour zu finden.

Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Mythen und den Rollen, die Frauen in ihrem Lebensverlauf spielen (können), hilft schließlich beiden, sich über ihren weiteren Lebensweg klar zu werden. Der spirituelle Zugang mag nicht allen Leser*innen gefallen (mir war es streckenweise auch zu viel innere Einkehr), für mich war es aber ein interessanter Zugang, das Reisen nicht nur um des Reisens willen zu betrachten, sondern auch als „Reise zu sich selbst“.

Categories
Erfahrungsbericht Sachbuch

Oliver Sacks – Zeit des Erwachens

Wir müssen sogar noch weiter gehen: Wenn nämlich unsere Patienten Erlebnissen unterworfen sind, die so eigentümlich sind wie die Bewegungen ihrer Träger – und wir haben Grund, dies anzunehmen –, dann benötigen sie viel Hilfe, eine sorgfältige und geduldige Zusammenarbeit, um das beinahe Unsagbare sagen und das beinahe nicht Vermittelbare mitteilen zu können. Wir müssen Mutentdecker sein im unwirtlichen Reich des vom Parkinsonismus Befallen-Seins, in diesem Land jenseits der Grenzen der normalen Erfahrung.

Dieses Buch wurde mir vom lieben Freund A. geschenkt (er hat ausgemistet und mich gefragt, ob ich Interesse hätte). Warum ich es haben wollte, weiß ich ganz ehrlich nicht mehr. Schon bei der Einleitung kamen mir heftigste Bedenken. Aber wegen des kürzlich erlittenen Fehlschlags (#nonmention) wollte ich nicht gleich das Buch ins Korn werfen.

Der Neurologe Oliver Sacks arbeitete zuerst am Mount Zion Hospital in San Francisco. Kurz nach der Übernahme der Professur für Neurologie am Albert Einstein College of Medicine in New York entdeckte er in einem Hospital für chronisch Kranke eine Gruppe von Postenzephalitikern, deren Krankheitsverlauf und Therapiegeschichte schließlich die Grundlage für dieses Buch bildeten. Es folgen ein paar Grundlagen, die ich mir selbst erst aneignen musste (es ist immer wieder faszinierend, was man über eine Krankheit zu wissen glaubt, obwohl man eigentlich gar nichts weiß).

Der Begriff Parkinson-Syndrom ist ein Überbegriff für Erkrankungen mit den Leitsymptomen Rigor (Muskelstarre), Bradykinese (verlangsamte Bewegungen) bis zu Akinesie (Bewegungslosigkeit), Tremor (Muskelzittern) und posturale Instabilität (Haltungsinstabilität). Bekannt ist im Allgemeinen Morbus Parkinson als idiopathische Erkrankung (ohne bekannte genetische oder äußere Auslöser). Es gibt jedoch auch andere Formen des Parkinson-Syndroms, die etwa durch andere Krankheiten ausgelöst werden können (sekundäre Syndrome) oder im Rahmen anderer neurodegenerativer Erkrankungen (atypische Syndrome) auftreten.

Ein Spezialfall ist hier die Encephalitis lethargica, an der die meisten von Oliver Sacks Patienten erkrankt waren. Es handelt sich hierbei um eine Gehirnentzündung, die Krankheit trat zwischen 1917 und 1927 epidemisch auf, danach sind nur noch Einzelfälle dokumentiert. Während der akuten Krankheitsphase leiden die Patienten an Lethargie und unkontrollierbaren Schlafanfällen. Die Folgeerkrankungen ähneln oft den Parkinson-Symptomen und wurden daher auch in dieses Gebiet eingeordnet.

Lediglich ein Bereich – und nur dieser – blieb gewöhnlich von der gewaltigen Krankheit verschont: die „höheren geistigen Fähigkeiten“ wie Intelligenz, Vorstellungskraft, Urteilsfähigkeit und Humor. So konnten die Patienten, selbst in extremen Grenzsituationen, ihren Zustand bei völliger geistiger Klarheit erleben; sie behielten die Fähigkeit, sich zu erinnern, Vergleiche anzustellen, zu differenzieren und Zeugnis über ihr einzigartiges Schicksal abzulegen.

Oliver Sacks dokumentierte nun in seinem Buch die Behandlung der Patienten mit L-Dopa, einer Vorstufe des Neurotransmitters Dopamin (heutzutage oft das Glückshormon genannt). Das Parkinson-Syndrom ist unter anderem durch einen Mangel an Dopamin gekennzeichnet, wie der Pharmakologe Oleh Hornykiewicz in Wien und der Neurologe André Barbeau in Montreal im Jahre 1960 feststellten. Anfang 1967 berichtetet George Cotzias schließlich über Behandlungserfolge bei Parkinson-Patienten durch L-Dopa. Zwei Jahre später war der Preis für das neue „Wundermedikament“ gefallen, sodass Oliver Sacks es auch an seinen Patienten in Mount Carmel anwenden konnte.

Jeder beschriebene Patient ist an sich einer Erwähnung wert, die Lebens- und Fallgeschichten sind sehr unterschiedlich. Es gelingt Oliver Sacks auf ganz erstaunliche Art, jeden Patienten als Persönlichkeit zu betrachten und auch abzubilden. Auch die Reaktionen der Patienten auf das neue Medikament und die Veränderungen, die es in ihrem Leben auslöste, sind sehr verschieden. Gerade in den abschließenden ergänzenden Kapiteln, die der Autor erst für die später veröffentlichten Ausgaben hinzufügte, zeigt sich, wie unterschiedlich die Patienten auch auf die Langzeitanwendung von L-Dopa reagierten.

In den abschließenden Reflexionen erläutert Oliver Sacks auch die Zusammenhänge zwischen Erwachen und Heimsuchung, die alle Patienten in der einen oder anderen Form erlebten. Mich erinnerte der untenstehende Absatz daran, dass Dopamin als Glückshormon bezeichnet wird und Glück und Zufriedenheit viel zu oft gleich gesetzt werden. Diese Erkenntnisse sollten uns auch klar machen, dass durch Medikamente auch keine immerwährende Glückseligkeit erreicht werden kann. Der Mensch und sein Gehirn sind komplexer als nur die Summe ihrer Einzelteile und der chemischen Reaktionen dazwischen.

Erwachen zeichnet sich durch vollständige Befriedigung aus, durch völlige Erfüllung der Bedürfnisse des Organismus. Zu diesem Zeitpunkt sagt der Patient: „Ich habe, was ich brauche, ich brauche nichts mehr, ich habe genug, alles ist gut.“ … „Es geht mir gut“ bedeutet immer „Es ist genug“ – bedeutet Befriedigung, Zufriedenheit, Erfüllung, Erleichterung. … Aber leider, leider dauert dieses Glück des „genug“ niemals an. Nach einer gewissen Zeit geht es verloren und von da an gibt es nie mehr eine zutreffende Dosierung, das „Genug“ wird durch Zuwenig und Zuviel ersetzt, der Patient kann nicht mehr im Gleichgewicht gehalten werden.

In einem weiteren Kapitel vergleicht Dr. Sacks den Zustand des Parkinsonismus mit der Chaostheorie. Die über die Jahrzehnte entstandenen technischen Möglichkeiten wie zum Beispiel genaue EEG-Aufzeichnungen der Gehirnströme bildeten die Basis für einen neuen Blick auf die Krankheit und die Wirkungen des verabreichten Medikaments. In manchen Ticks der Patienten erkannte Dr. Sacks auch eine fraktale Dimension und verweist in diesem Zusammenhang auf Mandelbrot.

Das Chaos, das zunächst allem Verständnis zu trotzen schien und das dem Intellekt die völlige Niederlage androhte, zieht uns nun an und stellt eine neue Herausforderung dar. Anfangs empfanden wir das Chaos als den Feind der Vernunft, nun dient es als Grundlage einer neuen Rationalität, einer neuen Vernunft.

Die vielen unterschiedlichen Perspektiven, die man beim Lesen des Buches von der Krankheit und dem Umgang damit kennenlernt, sind zum großen Teil der Vielseitigkeit und dem ganzheitlichen medizinischen Ansatz von Oliver Sacks zu verdanken. Trotz des hohen Informationsgehalts bleibt das Buch auch für einen Nichtmediziner verständlich. Beim Lesen lernt man nicht nur die Krankheit kennen, sondern auch die Patienten und vor allem den Autor und Forscher, der die Krankheit untersuchte und die Patienten auf ihrer Lebensreise begleitete.

Buzzfeed: ein berührender Artikel von Bill Hayes, Lebensgefährte von Oliver Sacks, über ihre Beziehung und das Leben an sich