Categories
English Erfahrungsbericht

Matt Haig – Reasons to Stay Alive

CN dieses Buch: psychische Erkrankungen, Depression, Suizid, Selbstverletzung
CN dieser Post: psychische Erkrankungen, Depression, Suizid


In diesem Buch erzählt der Autor von seiner eigenen Zeit der Krankheit. Scheinbar von einem Tag auf den anderen plagen ihn Panikattacken und eine massive Depression, die ihm Stück für Stück allen Lebenswillen nimmt. Dass dieses Buch existiert, ist schon mal ein ausreichender Beweis dafür, dass eine solche Krankheit auch überwunden bzw. überlebt werden kann. Vorausgesetzt, sie wird ernst genommen. Unterstützung durch nahestehende Menschen ist natürlich ebenfalls essentiell.

Aus seiner eigenen Erfahrung berichtet der Autor von typischen Reaktionen, Gedanken, Erlebnissen, in denen sich vermutlich viele Menschen, die von ähnlichen Krankheiten betroffen sind oder waren, wiederfinden. Ich möchte ein paar Beispiele herausgreifen, von denen ich denke, dass sie für Menschen, die nicht in dieser Situation sind oder waren, schwer nachvollziehbar sind. Für das Verständnis der Krankheit sind sie jedoch extrem wichtig:

But with depression and anxiety the pain isn’t something you think about because it is thought. You are not your back but you are your thoughts. 

Psychische Erkrankungen sind unsichtbar. Der Vergleich mit einem gebrochenen Bein drängt sich auf. Jede:r kann sehen, dass da ein Gips am Bein hängt, dass die Person in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt ist, möglicherweise Schmerzen hat, dass diese Person Hilfe braucht. Depression ist von außen nicht sichtbar. Und der betroffene Mensch kann sich davon auch nicht lossagen. Das gebrochene Bein kann ich für die notwendige Zeit schonen, Krücken benutzen, meine Gedanken und meinen Geist anderweitig beschäftigen. Bei psychischen Erkrankungen geht das kaum. Die Krankheit ist in den Gedanken, sie betrifft die eigene Persönlichkeit viel direkter als zum Beispiel ein gebrochenes Bein. (Ich hatte noch nie ein gebrochenes Bein, ich bitte um Verzeihung, falls dieser Vergleich die Realität eines gebrochenen Beins verharmlost.)

Actually, depression can be exacerbated by things being all right externally, because the gulf between what you are feeling and what you are expected to feel becomes larger.

Von außen betrachtet, scheint der psychisch erkrankten Person nichts zu fehlen. Gerade wenn es aber keinen sichtbaren Auslöser gibt (wie zum Beispiel ein Verlust in der Familie oder eine andere Art von Krise), kann sich die betroffene Person erst recht in eine Abwärts-Spirale begeben. „Es geht mir doch eigentlich gut. Mein Leben ist ausgezeichnet. Warum bin ich trotzdem nicht glücklich?“

In einem späteren Absatz kommt in diesem Zusammenhang auch der Begriff meta-worry ins Spiel: Wir sorgen uns oft um irgend etwas, um die Zukunft, um unsere Familie, um die möglichen Nebenwirkungen einer Impfung (um mal ein aktuelles Beispiel heranzuziehen). Was bei Menschen mit Angststörungen und/oder Depressionen jedoch auch noch dazu kommen kann, ist die Sorge aufgrund der Sorge. „Jetzt mache ich mir schon wieder Sorgen, ich sollte mir keine Sorgen machen, …“, also Sorge aufgrund der Sorge ergibt Meta-Sorge.

Das Ende des Buchs fokussiert dann auf die Erkenntnisse, die der Autor durch die Bewältigung seiner Krankheit gewinnen konnte. Manche davon können möglicherweise hilfreich sein für Menschen, die selbst gerade unter einer psychischen Erkrankung leiden. Die folgenden drei Zitate möchte ich für sich selbst sprechen lassen:

[Depression] is not you. It is simply something that happens to you. And something that can often be eased by talking. Words. Comfort. Support.

Don’t worry about the time you lose to despair. The time you will have afterwards has just doubled its value. 

[Depression] may be a dark cloud passing across the sky, but – if that is the metaphor – you are the sky. You were there before it. And the cloud can’t exist without the sky, but the sky can exist without the cloud.

Categories
Erfahrungsbericht Memoir

Sue Monk Kidd und Ann Kidd Taylor – Granatapfeljahre

Was mich zum wichtigsten Grund dafür bringt, warum es der reine Wahnsinn wäre, wenn ich eine Schriftstellerkarriere anstreben würde: Es erfordert viel zu viel Selbstvertrauen.

Wenn ich schon selbst nicht verreisen kann, dann kann ich wenigstens einen Reisebericht lesen, dachte ich mir. Die Reisen sind aber in diesem Buch eigentlich nur der rote Faden für die Entwicklung der beiden Autor*innen und ihrer Beziehung zueinander. Sie sind Mutter und Tochter.

Die Jüngere kämpft mit einer Ablehnung, die ihr den Lebensweg verstellt, den sie sich als Erfüllung ihrer Träume vorgestellt hat. Die Ältere hadert mit dem Übergang in eine neue Lebensphase, die Menopause macht ihr nicht nur körperlich zu schaffen, sondern lässt sie auch seelisch ihre Lebensentscheidungen hinterfragen. Auf ihrer spirituellen Suche befassen sie sich mit der griechischen Sage von Demeter und Persephone, der Jungfrau von Orleans und der Gottesmutter Maria, hauptsächlich in Gestalt der Schwarzen Madonnen, die berühmteste ist im französischen Rocamadour zu finden.

Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Mythen und den Rollen, die Frauen in ihrem Lebensverlauf spielen (können), hilft schließlich beiden, sich über ihren weiteren Lebensweg klar zu werden. Der spirituelle Zugang mag nicht allen Leser*innen gefallen (mir war es streckenweise auch zu viel innere Einkehr), für mich war es aber ein interessanter Zugang, das Reisen nicht nur um des Reisens willen zu betrachten, sondern auch als „Reise zu sich selbst“.

Categories
English Roman

Ling Ma – Severance

We’re selected. The fact that we’re immune to something that took out most of the population, that’s pretty special. And the fact that you’re still here, it means something.

Das Szenario einer epidemischen Krankheit, die einen Großteil der Weltbevölkerung auslöscht, hat mich seit The Stand fasziniert. Das Zusammenbrechen einer Gesellschaft und wie die Überlebenden damit umgehen stellt der Leser*in die Frage, wie sie selbst in so einer Situation reagieren würde. Eine Katastrophensituation solchen Ausmaßes (wie sie in anderer Ausprägung auch in Black Out oder Under The Dome beschrieben wird) bringt die wahre Natur des Menschen zum Ausdruck.

I have always lived in the myth of New York more than in its reality. It is what enabled me to live for so long, loving the idea of something more than the thing itself.

Die Autorin Ling Ma erzählt die Geschichte der Überlebenden Candace auf zwei Zeitebenen. Eine Zeitebene beschreibt, was vor der Epidemie passiert und wie sich Candace in der zerfallenden Stadt New York zurecht findet, bevor sie sich schließlich versehentlich aus ihrem Büro aussperrt und daraufhin beschließt, dass es Zeit ist, die Stadt zu verlassen. Die andere Zeitebene beschreibt, was passiert, nachdem Candace von einer Gruppe Überlebender, die sich unter der Leitung eines selbst ernannten Gurus nach Chicago durchschlägt, gefunden wurde.

Candace wurde in China geboren und war mit ihren Eltern im Kindesalter nach Amerika ausgewandert. Während die Mutter auf eine Rückkehr drängt, ist der Vater überzeugt davon, dass nur Amerika die für das eigene Kind erwünschten Zukunftschancen bietet. Die erwachsene und inzwischen verwaiste Candace sieht sich ständig damit konfrontiert, ihre Chancen ungenutzt zu lassen und den Wünschen ihrer Eltern für ein besseres Leben nicht zu genügen.

I just want for you what your father wanted: to make use of yourself, she finally said. No matter what, we just want you to be of use.

Nicht die Epidemie, nicht das langsame Zusammenbrechen der Infrastruktur und der Gesellschaft im Allgemeinen, nicht die Einsamkeit sind es, die schließlich einen unaufhaltbaren Veränderungsprozess in der Protagonistin auslösen. Erst die Konfrontation mit einer weiteren Instanz, die ihr Regeln auferlegt und ihr Leben kontrollieren will, ist der Wendepunkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Und selbst an dieser Stelle hätte Candace vermutlich noch mitgespielt. Aber es geht jetzt eben nicht mehr allein um sie selbst.

When other people are happy, I don’t have to worry about them. There is room for my happiness.

Für mich überraschend war die Tatsache, dass die Beschreibung des Überlebens den geringsten Teil des Buches annimmt, nahezu alle wesentlichen Ereignisse geschehen, bevor die epidemische Krankheit überhaupt zum ersten Mal erwähnt wird. Die Rückblicke sind nicht notwendig, um das Geschehen nach der Epidemie zu erklären, sie sind das eigentliche Geschehen. Durch eine Krise wird die eigene Geschichte nicht ausgelöscht. Sie nimmt eine neue Wendung, aber sie trennt uns nicht von unserer Vergangenheit. Und sie lässt uns wachsen.

Categories
Roman

Chad Harbach – The Art of Fielding

Im weitesten Sinne könnte man es wohl einen Entwicklungsroman nennen. Alle Hauptpersonen stehen in ihrem Leben an einer Art Scheideweg, müssen sich entscheiden, sind mit einer Situation konfrontiert, die so nicht bleiben kann, aus der sie aber den Ausweg derzeit nicht sehen.

Man tut sich wahrscheinlich etwas leichter beim Lesen, wenn man sich mit Baseball auskennt. Die teilweise etwas langwierigen Spielbeschreibungen konnte ich nicht immer nachvollziehen, ich war aber auch zu faul, nachzuschlagen, was denn der short stop jetzt genau zu tun hat. Für die Geschichte an sich ist das aber auch nicht nötig, es ist auch ohne Sportkenntnisse die Message am Ende klar und deutlich zu sehen: Steh zu dir selbst und geh deinen Weg. Meine Beschreibung wird dem Roman nicht gerecht. Leseempfehlung.