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Roman

David Gilmour – Unser allerbestes Jahr

„Genau das will ich sagen. Wenn sie es mit keinem anderen Mann macht, macht sie es auch nicht mit mir. Und deshalb habe ich dich mit ihr bekommen und nicht mit einer anderen Frau.“ – „Du hast gewusst, dass ihr euch trennt?“ – „Ich will sagen, ich finde es okay, mit einem Miststück ins Bett zu gehen, aber man soll nie mit einem Miststück ein Kind haben.“ – Da war er still.

Schon noch 20 Seiten fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen (mich hat es genau zwei Abende lang beschäftigt). David Gilmour versteht es, den Leser sofort in seine Geschichte hineinzuziehen, er fackelt nicht lange mit Beschreibungen der Lebenswelten (diese werden mit der Zeit ohnehin immer klarer), sondern kommt sofort zum Wesentlichen: Der Beziehung zu seinem Sohn.

„Über eine Frau wegzukommen, ist ein Prozess, der seinem eigenen Zeitplan folgt, Jesse. Wie Fingernägel, die wachsen. Du kannst machen, was du willst – Tabletten, andere Mädchen, ins Fitnesscenter gehen, nicht ins Fitnesscenter gehen, trinken, nicht trinken – letztlich spielt das alles keine Rolle. Du kommst nicht eine Sekunde schneller ans Ziel.“

Den besonderen Charme des Buches macht gleichzeitig seine Einfachheit als auch seine Ehrlichkeit aus. Gilmour beschreibt seinen eigenen Sohn Jesse, der sich in der Schule so langweilt, dass er stets negativ auffällt. Nach langem Überlegen entschließt er sich, seinem Sohn den Schulabbruch zu erlauben, mit der Auflage, dass sie sich von jetzt an gemeinsam wöchentlich drei Filme ansehen. Anhand der Filme versucht er seinem Sohn etwas beizubringen. Daraus lernt er einerseits viel über Filme, aber natürlich auch Einiges übers Leben. Gilmour beschreibt grandios den Trennungsschmerz nach dem Ende einer Beziehung, einerseits mit Blick auf die Teenagerliebe seines Sohnes, aber auch anhand seiner eigenen Erfahrungen. Man möchte in die Hände klatschen und ausrufen: „Ja, genau so war es auch bei mir“, wenn er den Punkt beschreibt, an dem man plötzlich feststellt, dass der Schmerz verschwunden ist.

Als wäre die Kette am Anker gerissen (man kann sich nicht mehr erinnern, wo man war oder was man gemacht hat), merkt man plötzlich, dass die eigenen Gedanken wieder einem selbst gehören, das Bett ist nicht mehr leer, sondern einfach das eigene Bett, in dem man Zeitung lesen kann oder schlafen oder … was wollte ich heute noch erledigen? Ah, ja, der neue Haustürschlüssel.

Genau diese Ehrlichkeit macht es zu so einem überzeugenden Buch. Für mich sind es zwar nicht Filme, die mein Leben als Leidenschaft ausfüllen, aber Ähnliches ließe sich über Bücher sagen, die einem in verschiedenen Lebensphasen genau den Kick geben, den man gerade braucht. Dieses Buch kann einem einerseits über das Ende einer Beziehung hinweghelfen. Auf eine schräge Art ist es aber auch ein Loblied auf die Elternschaft – gleichzeitig ehrlich und verklärend. Und nicht zuletzt zeigt es uns, dass wir manchmal entgegen besseres Wissen auf unser Herz hören müssen.

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Roman

Margit Schreiner – Haus, Frauen, Sex

Nähen (c) Rainer Sturm / PIXELIO

Da habe ich mir gedacht: Die Resi ist eine Prinzessin, und eines Tages baue ich ihr ein Haus mit einem Garten und einem Teich in der Mitte. Und im Haus lege ich ihr einen roten Steinboden im Flur. Das habe ich mir damals geschworen, als du schwanger warst mit meinem Sohn.

Margit Schreiner beschreibt in diesem Roman die Trennung eines Paars nach langjähriger Ehe aus der Sicht des verlassenen Mannes. Vieles, was er über seine Frau denkt, scheint seinem eigenen verletzten Ego zu entspringen. Dinge, die er niemals aussprechen würde, wenn seine Frau noch seine Frau wäre, und vor ihm stehen würde. Und das obwohl er selbst beschreibt, was er bereits alles ausgesprochen hat und auch, dass er seine Frau im Affekt geschlagen hat.

Seine eigenen Taten spielt er herunter, alle Fehler werden der Frau zugeschoben, das Funktionieren der Ehe hängt scheinbar allein von ihrem Versagen ab. Er hält sich selbst für fehlerlos und mokiert an seiner Frau über viele Seiten, dass sie nicht imstande ist, den Herd oder eine Holzkommode nach seinen Vorstellungen korrekt zu putzen.

Vieles, was hier zur Sprache kommt, scheint direkt dem männlichen Egodenken entnommen, man wundert sich immer wieder, wie eine Frau zu derartigen Erkenntnissen gelangen kann. Wo die männliche Seele der Frau immer als Buch mit sieben Siegeln erscheint, trotz allem ausgedehnten Analysieren, geht Margit Schreiner hier den Grenzweg zwischen grausamer Wahrheit und übertriebener Fiktion. Das Ergebnis ist ein grausames Charakterportrait, das man gar nicht ernst nehmen will, weil es ein so schmerzhafter Blick in die gekränkte Seele eines verlassenen Mannes zu sein scheint.

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Roman

Nick Hornby – Juliet, Naked

CD (c) Günter Havlena/PIXELIO

„Du ziehst aus“, sagte Annie. „Oh. Hoppla. Wow. Nein, nein, nein, davon habe ich nicht gesprochen“, protestierte Duncan. „Du vielleicht nicht. Aber ich spreche davon. Ich habe mein halbes Leben an dich vergeudet, Duncan. Oder zumindest das, was von meiner Jugend noch übrig geblieben war. Ich werde keinen weiteren Tag vergeuden.“ Sie ging zu ihrer Tasche, zog eine Zehnpfundnote hervor, warf sie auf den Tisch und ging hinaus.

Mit diesem Roman kehrt Nick Hornby wieder zu seinen musikalischen Wurzeln zurück. Im Zentrum steht ein Rocksänger, der zuerst nur aus dem Blickwinkel seines Fans Duncan und dessen Freundin Annie in Erscheinung tritt. Deren Beziehung gerät ins Wanken durch unterschiedliche Meinung über das neue Album des Rocksängers Tucker Crowe, den Duncan wie einen Gott verehrt. Annie zweifelt an den vergangenen 15 Jahren ihres Lebens und sucht nach neuen Wegen.

„Nun, viele Menschen, die ich kenne, führen eine unglückliche oder frustrierende Ehe. Oder eine langweilige.“ – „Und?“ – „Sie sind trotzdem eigentlich ganz zufrieden.“ – „Sie sind glücklich in ihrem Elend.“ – „Sie haben sich damit arrangiert, ja.“

Haiauge, Herzinfarkt und Farmer John begleiten Annie, Tucker und Duncan auf ihrer gemeinsamen Suche nach einem neuen Leben. Und natürlich die Musik. Bei Duncan kann man zwar den Lerneffekt nicht so eindeutig feststellen, aber zumindest Annie und Tucker haben am Ende des Buches dazugelernt und können von nun an hoffentlich mehr aus ihrem Leben machen.

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Roman

José Saramago – Die Stadt der Blinden

Spielfiguren symbolisieren Gesellschaft (c) Stephanie Hofschlaeger/PIXELIO

Man kann vorher nie wissen, wozu die Menschen fähig sind, man muss warten, der Zeit Zeit geben, die Zeit bestimmt, die Zeit ist der Partner, der auf der anderen Seite des Tisches spielt und alle Karten des Spiels in der Hand hält, an uns ist es, uns das Spiel des Lebens auszudenken, unseres Lebens.

„Die Stadt der Blinden“ beschreibt eine Utopie. Ein Autofahrer erblindet von einer Sekunde auf die andere. Wie sich schnell herausstellt, ist die unbekannte Krankheit hoch ansteckend und binnen weniger Stunden erblinden immer mehr Menschen. Die Regierung steckt die ersten Erblindeten in Quarantäne, um das Ausbreiten der Krankheit zu verhindern. Wie man sich vorstellen kann, gelingt dies nicht, auch unter den Soldaten, die die Quarantäne bewachen sollen, erblinden immer mehr Personen.

In der Quarantäne zeigen sich Stück für Stück alle gesellschaftlichen Probleme, die sich beim Zusammenleben von vielen Blinden auf engem Raum ergeben. Die Einzige, die noch sehen kann, die Frau des Augenarztes, verbirgt dies, um bei ihrem Mann bleiben zu können und ihm dadurch das Leben zu erleichtern. Mit jedem Tag fällt es ihr schwerer, als Einzige sehen zu können. Negative Charaktereigenschaften treten durch die Blindheit zutage, auch unter den Blinden gibt es schlechte Menschen, die der Hunger und schließlich die nackte Gier zum Äußersten treibt.

Da Saramago seine Dialoge nicht trennt und die Aussagen der verschiedenen Personen oft nur durch Beistriche trennt, fragt man sich immer wieder, wer eigentlich gerade spricht. Es mag sein persönlicher Stil sein, auf die Dauer wird es aber doch etwas anstrengend zu lesen. Und trotzdem gibt diese Art der Sprache, die mehr Gedanken als tatsächlichen Gesprächen ähnelt, dem Gesellschaftsportrait eine Eindringlichkeit, die ohne diesen Stil vielleicht nicht möglich wäre. Eine packende Beschreibung unserer Zivilisation und Gesellschaft, so real, dass man erst recht Angst vor dem tatsächlichen Katastrophenfall bekommt.

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Roman

Richard Powers – Das Echo der Erinnerung

Kanadakranich (c) Miroslaw/PIXELIO

Für Japaner erfüllt sich ein Wunsch, wenn sie tausend Papierkraniche falten. Sadako Sasaki, zwölf Jahre alt und ein Opfer der „Atombombenkrankheit“, schaffte 644. Kinder von überall auf der Welt schicken ihr Tausende, Jahr für Jahr. Kraniche tragen die Seele ins Paradies. Kranichbilder stehen in den Fenstern der Trauerhäuser, und Schmuckstücke in Kranichgestalt begleiten die Toten. Die Kraniche sind Seelen, die einst Menschen waren und vielleicht wieder Menschen werden, nach vielen Leben.

Richard Powers ist ein Geschichtenerzähler ersten Ranges. Bereits der Vorgänger „Der Klang der Zeit“ beeindruckte Kritiker und Leser. Mich jedoch hat „Das Echo der Erinnerung“ noch nachhaltiger berührt.

Karins Bruder Mark erleidet einen Unfall, sein Wagen kommt von der Straße ab, erst nach mehreren Stunden kann er von der Polizei befreit werden. Lange ist unsicher, ob er überleben wird. Als er schließlich zu sich kommt, hält er seine Schwester für eine Schauspielerin. Für Karin wird dadurch der Genesungsprozess zu einem Spießrutenlauf. Obwohl sich Marks Zustand zu bessern scheint, leidet Karin immer mehr darunter, dass er zwar andere Personen erkennt, jedoch auch sein Haus und seinen Hund für blasse Kopien hält. Schließlich wendet sich Karin an den berühmten Neurowissenschaftler Gerald Weber, der sich auch bereit erklärt, Mark zu besuchen. Jedoch verfolgt er dabei seine eigenen Motive. Sein drittes Buch bleibt hinter den Erfolgen der Vorgänger zurück. In der Beschreibung von Weber und seiner Frau Sylvie ist mir jedoch eine bestimmte Passage aufgefallen, die mich an eine Zeile aus dem Song „Both Ways“ von Quietdrive erinnert hat: „I think I’ve found the perfect way to grow old“. In weiterer Folge zeigt sich, dass auch Webers scheinbar perfekte Ehe ins Wanken gerät, aber diese Passage kann einen trotzdem glauben lassen, dass es möglich ist:

Wenn man einmal von der absurden Puderdose absah, die tat, als sei sie ein Telefon, hätten sie ebenso gut wieder im College sein können, wo sie bis spät in die Nacht über ihre Erfahrungen geredet hatten, lange nachdem die Sperrstunde jeden von ihnen in ihre getrennten Wohnheime gescheucht hatte. Er hatte sich am Telefon in Sylvie verliebt. Immer, wenn er auf Reisen war, erinnerte er sich daran. Sie verfielen in ihren Rhythmus, redeten, wie sie fast jeden Abend ihres Lebens geredet hatten, ein Dritteljahrhundert lang.

Weber kann Mark nicht helfen, er lässt Karin mit dem Rat zu einer Verhaltenstherapie zurück. Sein eigenes Leben gerät zusehends auseinander. Auch Karin wird zwischen ihrem ehemaligen Freund Karsh, Daniel, der früher Marks Freund war und nun mit Karin zusammen ist, und ihrem Bruder Mark aufgerieben. Als Nebenhandlung entsteht außerdem noch ein spannender Wirtschaftskrimi über die in der Gegend verbreiteten Kraniche, die einem Touristenzentrum weichen soll. Karsh kämpft dafür, Daniel dagegen. Karin vergräbt sich weiter in die Psyche ihres Bruders und ignoriert ihr eigenes Leben.

Das Bewusstsein erzählt eine Geschichte, und diese Geschichte ist in sich geschlossen, zusammenhängend und stabil. Wenn diese Geschichte abbricht, schreibt das Bewusstsein sie neu. Jede revidierte Fassung erhebt den Anspruch, das Original zu sein. Und so sind wir oft die Letzten, die es erfahren, wenn Krankheit oder Unfall uns zerstören.

Obwohl man das Buch nicht als Krimi bezeichnen kann, ist es dieser Spannungsfaden, der einen nicht mehr loslässt und schließlich beide Erzählebenen auflöst. Kein Happy End. Fragen bleiben offen. Ich könnte mir kein besseres Ende vorstellen.

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Roman

Bernard Cornwell – Schwertgesang

Wikingerschiff (c) Cellblock / PIXELIO

Da verging meine Furcht. Sie wurde von einer Woge des Stolzes und des Machtgefühls weggespült. Ich bezweifelte Bjorns Botschaft nicht, denn die Götter sprechen nicht leichtfertig, und die Spinnerinnen kennen unser Schicksal. Wir Sachsen sagen „wyrd bid ful araed“, und sogar die Christen glauben an diese Wahrheit. Das Schicksal ist unausweichlich. Das Schicksal lässt sich nicht ändern. Das Schicksal herrscht über uns. Unsere Leben werden gemacht, bevor wir sie leben. Und ich sollte König von Mercien werden.

Wie es schon der Hinweis auf das Schicksal verkündet, kommt es natürlich ganz anders. Mit faulem Zauber versuchen die Dänen Uthred zum Verrat an Alfred zu bewegen, dem er seinen Schwur geleistet hat. Und im Laufe dieses Romans wird Uthred einen weiteren Schwur leisten, obwohl sein einziger Wunsch (neben dem Töten von Dänen) darin besteht, von Alfred aus seinem Schwur entlassen zu werden.

London wird erobert, immer wieder wendet sich das Blatt, kaum glaubt man, jetzt ist alles klar, ergibt sich die nächste Überraschung, die die Spinnerinnen für Uthred und seine Mitstreiter und Feinde ausgeheckt haben. Ein weiterer Roman kündigt sich an und ich hoffe in aller Ehrlichkeit, dass Cornwell noch viele Abenteuer für Uthred in Planung hat, bevor dieser seine Bebbanburg wieder erobern darf.

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Krimi Roman

Neil Olson – Ikone

Sonnenuntergang in Griechenland (c) Gustav Kemetmüller/PIXELIO

„Wir bewegen uns im Kreis. Diese Debatte erinnert mich allmählich an eine grundsätzlichere Streitfrage. Ein Mann der Vernunft verlangt Beweise, wenn er glauben soll. Ein Mann Gottes hält vielleicht ebenfalls viel von der Vernunft, aber er weiß, dass er damit nur bis zu einem gewissen Punkt kommt, dass er irgendwann den Sprung ins Unbekannte wagen muss. Er denkt mit dem Verstand, bis er dieses unaussprechliche Geheimnis erreicht. Dann denkt er mit dem Herzen, traut sich noch einen Schritt weiter voraus oder zieht sich zurück. Sie sind ein Mann der Vernunft. Gut. Aber sagen Sie mir, als Sie vor diesem Heiligenbild standen, als Sie das Holz berührten, haben Sie da nicht eine besondere Kraft gespürt? Sagen Sie die Wahrheit.“

Was nach diesem Zitat wie eine religiöse Story klingt, ist in erster Linie ein ganz fantastischer Kriminalroman. In zwei Zeitebenen findet in Griechenland und New York eine Jagd auf die „Ikone“ – ein Bild der Gottesmutter Maria – statt. Drei Generationen einer griechischen Familie sind hinter dem Kunstwerk her.

Im Mittelpunkt steht Matthew, der jüngste Spross der Familie, der durch seine Arbeit als Experte für byzantinische Kunst mit Ana zusammenkommt, die die Ikone soeben von ihrem verstorbenen Großvater geerbt hat. Sie möchte das Bild verkaufen, die Interessenten reißen sich gerade darum. Doch als sie das Bild abgegeben hat, geht der Ärger erst richtig los. Das Bild verschwindet und alle Beteiligten sind auf der Suche danach, gerade Matthew und Ana, die kaum Details der Geschichte der Ikone kennen, geraten ins Kreuzfeuer der verbissen Suchenden. Stück für Stück wird die Geschichte aufgedeckt, der Spannungsbogen bleibt konstant erhalten. Eine spannende Kriminalgeschichte für alle Freunde dieses Genres.

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Roman

Robert Menasse – Don Juan de la Mancha

Kerzen (c)Carsten Grunwald/pixelio.de

Wie Professor Poppe in die Reihen der Studenten blickte – ich sah, dass er nichts mehr sah, nur noch eine Gesichterwand, eine Menschenmauer. Er konnte nicht wissen, ob jetzt nicht der Nächste aufsteht, und dann wieder einer. Ja, er hatte Angst.

Dass dieses Buch direkt nach Elementarteilchen am Stapel lag, scheint eine Ironie des Schicksals zu sein. Denn wieder geht es um einen Mann, der keine Liebe empfindet, stets bleiben seine Gefühle ein wankelmütiges Strohfeuer, das sich einer Frau nach der anderen zuwendet. Dabei ist er nicht ganz so unglücklich wie Bruno in Elementarteilchen, aber doch so neben sich, dass er für seine Therapeutin einen schriftlichen Blick in die Vergangenheit wagt.

Dieses Werk liegt nun als Roman vor uns. Die Kündigung stürzt den Protagonisten in diese Depression, die schließlich zu einer intensiven Selbstreflexion führt.

Der Rasen meines Gartens verdorrte. In den Zeitungen und Fernsehnachrichten sprach man von einem Jahrhundertsommer. Ich hatte schon viele Jahrhunderte in Form von Jahrhundertsommern und Jahrhundertfrösten, Jahrhundertstürmen, Jahrhundertgewittern und Jahrhundertüberschwemmungen erlebt, und genauso fühlte ich mich, eine jahrhundertealte Schildkröte, ebenso behindert wie geschützt von einem schweren Panzer.

Bezeichnend für das Dilemma seines Lebens ist eine Geschichte aus der Anfangszeit seiner Tätigkeit in der Leben-Redaktion. Die skurrile Horoskopschreiberin berechnet aus seinen Geburtsdaten sein persönliches Horoskop, findet dort jedoch keine eindeutigen Angaben: „Bist du Grähnzfall.“ Nicht das eine, aber auch noch nicht das andere. So pendelt er in seinem Leben herum, auf der Suche, aber ohne zu wissen, wonach. Und doch gelangt er im Rahmen seiner Selbstreflexion zu Erkenntnissen über das Leben.

Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Na und? Das Schwierigste ist ohnehin der vierte, fünfte, hundertste Blick.

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Roman

Michel Houellebecq – Elementarteilchen

Fluss (c)Ronny Senst / PIXELIO

Seine Weltanschauung, die von den christlichen Kategorien der Erlösung und der Gnade weit entfernt war und nicht einmal den Begriff der Freiheit und der Vergebung kannte, bekam dadurch etwas Mechanisches, Unerbittliches. Wenn die Ausgangsbedingungen erst einmal gegeben sind, dachte er, und die Parameter für das Netz der ersten Interaktionen aufgestellt sind, entwickeln sich die Ereignisse in einem desillusionierten, leeren Raum; ihre Determinierung ist unabwendbar. Was geschehen war, musste geschehen, anders konnte es nicht sein; niemand konnte dafür verantwortlich gemacht werden. (Michel)

„Elementarteilchen“ erzählt die Geschichte der Brüder Bruno und Michel. Beginnend mit der Kindheit, die sie getrennt voneinander verleben, über die intensive Phase der Jugend bis zum Scheitern beider, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen, zeichnet Houelebecq die Lebenswege der Brüder mit feiner Klinge und so vielen Hintergründen, das man sie oft gar nicht alle erfassen kann.

Bruno wächst vom gequälten Außenseiter zu einem Mann heran, der sich nach Liebe sehnt und doch nicht lieben kann. Dieses unerfüllte Bedürfnis versucht er mit sexuellen Eskapaden zu kompensieren, dadurch scheitert seine Ehe und auch die Beziehung zu seinem Sohn kann er nie auf eine familiäre Ebene heben.

Auch Michel wächst als Außenseiter auf, er vergräbt sich schon in jungen Jahren in das Lernen und die Wissenschaft und steht so stets neben der Gesellschaft, die er heimlich verachtet. Nach dem Verlust seiner Jugendliebe Annabelle bleibt er allein und findet sie erst nach Jahren der Trennung wieder.

Um die Reproduktion zu ermöglichen, trennen sich die beiden Stränge, aus denen das DNA-Molekül besteht, ehe jeder für sich komplementäre Nukleotide anzieht. Der Moment der Trennung ist ein heikler Augenblick, da unmittelbar danach unkontrollierbare, zumeist schädliche Mutationen entstehen können.

Ausflüge in die Welt der Wissenschaft, die Michel beschäftigt, erläutern zwischenmenschliche Beziehungen und bilden Metaphern für das Zusammenleben und die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Hier spielen sich die Zwischentöne ab, die den Roman wie die Grafik eines Aktienkurses im Zick-Zack durchziehen.

Sowohl Bruno als auch Michel scheitern an einer späten „Liebe“ – beide können nicht lieben, verlieren die Frauen jedoch durch Unfall bzw. Krankheit. Erst zu Ende ihrer Leben scheinen sich die Schicksale der Brüder zu vereinen, obwohl sie sich nach dem Tod ihrer Mutter nie mehr wiedersehen. Das Gesellschaftsbild, das Houellebecq zeichnet, zeigt einen ironischen Blickwinkel, der sich nicht vor Ecken und Kanten scheut und manchmal auch weh tut. Ein Roman, der definitiv über die reine Beziehungsebene hinausgeht und viel Stoff für Analysen und Diskussionen liefert.

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Krimi Roman

Henning Mankell – Der Mann, der lächelte

Schiffbruch (c) Dietmar-Meinert/PIXELIO

Da draußen im Nebel hatte er einsehen müssen, dass es Menschen gab, die vor keiner Form der Gewalt zurückschreckten, die nicht zögerten, Hinrichtungen vorzunehmen, wenn es ihren Zielen diente.

Viele haben mir gesagt, dass sie mit meiner Bewertung von „Die weiße Löwin“ nicht einverstanden sind, es sei sogar der beste Wallander überhaupt. Jetzt kann ich das etwas besser verstehen, denn „Der Mann, der lächelte“ kommt an den Vorgängerroman in keinster Weise heran.

Viel in diesem Roman bezieht sich zurück auf die vorhergehende Geschichte, Wallander kämpft mit seinen Dämonen, auch oder vor allem nachdem er sich entschieden hat, in den Polizeidienst zurückzukehren. Sein Privatleben ist noch immer geprägt von der Erinnerung an Baiba Liepa aus „Hunde von Riga“. Es gibt beinahe nichts neben seiner Arbeit. Auch sein Vater erscheint nur in einer kleinen Episode über die „Seidenritter“, zum aufgeschobenen Anruf bei seiner Tochter Linda kommt es gar nicht.

Und doch ist Mankell wieder ein spannender Krimi gelungen, man muss ihn nur von einer anderen Seite betrachten. Was zuerst wie ein Wirtschaftskrimi aussieht – zwei ermordete Anwälte, die mit der Beratung eines Wirtschaftsimperiums beschäftigt waren –, nimmt in weiterer Folge eine unerwartete Wendung. Diese kündigt sich zwar schon an, wird aber erst auf den letzten Seiten zur Gewissheit. Dort erreicht die Spannung wie gewohnt ihren Höhepunkt.

Wir müssen uns fragen: Warum gerade er? Wir müssen in alle geheimen Räume schauen, wir müssen uns in sein Gehirn einschleichen, nicht nur in seine Brieftasche. Wir müssen mit elf Sekretärinnen reden, ohne dass er etwas merkt. Denn wenn er etwas merkt, wird ein Sturm durch sein Imperium fegen, der alle Türen auf einmal zuschlägt.

Die Spurensuche in diesem Imperium gestaltet sich schwierig und langwierig, lange scheint es keine Fortschritte zu geben. So bleibt die Geschichte nicht ohne Längen. Rückblickend betrachtet bin ich mit „Die weiße Löwin“ wohl aufgrund einer überhöhten Erwartungshaltung zu hart ins Gericht gegangen. Trotzdem werde ich die zwei weiteren Wallander-Bänder, die „on the shelf“ stehen, nicht links liegen lassen. Der Winter wird sicher wieder lang.