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English Roman

David Benioff – City of Thieves

They have decided nothing can kill them but God himself, and they don’t even believe in him.

Allem anderen voran sei gesagt: es heißt immer wieder, das wichtigste Element für einen guten Film (oder ein gutes Theaterstück oder ein gutes Musical) ist ein gutes Buch. Die Story muss stimmen. Ohne eine gute Story kann man noch so viel Glitzer und Licht und Effekte drauf werfen, es wird niemals ein gutes Endprodukt rauskommen. Hier stimmt die Geschichte. Sie ist so großartig, dass das Fehlen jeglichen Glitzers (bzw. das Ignorierend des Glitzers im Angesicht von Hunger und Entbehrung) die Geschichte eher noch besser macht. Warum mein Eingangszitat so wichtig ist, wird man erst erkennen können, wenn man die Geschichte zu Ende gelesen hat. Es wird schwierig werden, nicht zu spoilern.

I’ve always envied people who sleep easily. Their brains must be cleaner, the floorboards of the skull well swept, all the little monsters closed up in a steamer trunk at the foot of the bed.

Lev lebt mit seinen Freunden in der belagerten und beschossenen Stadt Leningrad. Es gibt kaum noch essen, der Schwarzmarkt blüht. Als eines Nachts ein toter deutscher Soldat mittels Fallschirm in ihrer Straße landet, wird Lev verhaftet und landet in einer Zelle mit dem vermeintlich desertierten Soldaten Kolya. Anstatt erschossen zu werden, erhalten sie vom General die Aufgabe, für die Hochzeit seiner Tochter ein Dutzend Eier zu beschaffen. Ein Ding der Unmöglichkeit in der ausgehungerten Stadt.

„What’s the second thing you asked for?” –
“Hm?” –
“You said if I win, first he sets us free. So what’s the second thing you asked for?”
He looked down at me, his eyebrows tilted toward each other, incredulous that I could not guess.
“Isn’t it obvious? A dozen eggs.”

Ihr Weg führt sie auf den Schwarzmarkt, in die Arme von Kannibalen, aufs Land zu den Rebellen und schließlich in die Arme der deutschen Besetzer. Womit fast schon zu viel gesagt ist. Natürlich ist es eine Geschichte von Auszehrung, von Hunger, von Krieg, von Brutalität und Grausamkeit. Aber sie enthält dermaßen viel Witz und Lebensfreude, das der Leser an den Buchstaben hängt. Ein Roman für alle. Ein frühes Highlight des Lesejahrs 2014.

There is a place beyond hunger, beyond fatigue, where time no longer seems to move and the body’s misery no longer seems fully your own.

RANDNOTIZ: Es dürfte inzwischen zu spät sein, dass diese Folge noch im Podcast Verzeichnis zu haben ist. Im Ö3 Frühstück bei mir vom 5. Jänner 2014 erzählt Skisprungtrainer Alexander Pointer von der Depressionserkrankung seines Sohnes, er selbst hatte ebenfalls mit einer Depression zu kämpfen. Claudia Stöckl verharmlost in diesem Interview mehrmals diese ernsthafte Krankheit mit den Begriffen „schwermütig“ bzw. „es ging ihm nicht gut“. Ihre gesamte Haltung zu diesem Thema klingt danach, als ob es sich um eine kurzfristige Verstimmung handelt, wie ein Schnupfen, der mit Medikamenten zwar leichter zu ertragen ist, aber sowieso nach einer Woche wieder verschwindet. Gerade im Mainstream-Radio wäre es wichtig, diese Krankheit deutlich als solche zu bezeichnen. In vielen Fällen sind Medikamente der einzige Ausweg. Noch immer wird die Depression tabuisiert, Betroffene und Angehörige werden diskriminiert, trauen sich nicht, Hilfe zu suchen und anzunehmen. Ich empfehle allen, die wissen wollen, wie sich eine Depression anfühlt und wie schwer der Heilungsprozess sein kann, das Buch Mängelexemplar von Sarah Kuttner. Rat für Betroffene und Angehörige gibt es zum Beispiel bei Nein zur Depression.

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Roman

Elfriede Vavrik – Nacktbadestrand

Mir ist es egal, warum diese Männer mich begehrten. Ich wollte nur begehrt werden. Und was war schon dabei? Jeder Mann hat bestimmte Vorlieben. … Wer legt den Rahmen fest, was normal ist? Normal ist doch, was niemandem schadet. Wenn Männer, die alte Frauen mögen, mit ihnen schlafen, wem schadet das? Und wenn eine Frau mit achtzig in der Liebe nachzuholen versucht, was sie in mehr als einem halben Jahrhundert versäumt hat, wem sollte das schaden?

An der Oberfläche: die 79-jährige Elfriede Vavrik entdeckt ihre Sexualität. Nach zwei gescheiterten / lieblosen Ehen hat sie 40 Jahre lang allein gelebt. Nun macht sie sich auf, die Männer zu entdecken. Über Kontaktanzeigen, zuerst in der Zeitung, dann auch im Internet, lernt sie Männer unterschiedlichsten Alters kennen und macht dabei ihre Erfahrungen. Nebenbei schreibt sie erotische Kurzgeschichten und wehrt sich gegen die Anwürfe der eifersüchtigen Nachbarin.

Ich war etwas zu kurzsichtig, um sie genauer ins Auge zu fassen, aber über allem lag eine Atmosphäre von Freiheit, und es war eine, die mich miteinschloss. Ich war wirklich frei, schon die ganze Zeit über, aber ich hatte es bei all der Aufregung, die mein neues Leben brachte, noch nie in dieser Intensität gespürt. Ich tat, was ich wollte. Ich genoss meine Zeit. Ich nahm mir, was sie mir bot.

Unter der Oberfläche: Nach langen Jahren, die sich die Protagonistin (die Autorin?) kein eigenes Leben, kein eigenes Wollen, keine eigenen Sehnsüchte gestattet und hauptsächlich für ihre Kinder gelebt hat, entdeckt sie die Freiheit, sich selbst etwas Gutes zu tun und auf ihre eigenen Bedürfnisse zu schauen. Die Nachricht ist auch: für selbstbestimmtes Leben ist es nie zu spät. Es bringt nichts, darüber zu jammern, was man verpasst hat. Mensch kann sein Leben jeden Tag ändern. Auch, wenn sie bereits das stolze Alter von 79 erreicht hat. Es wird immer Hindernisse und Fehlschläge geben, aber es ist nie zu spät, es zu versuchen. Und natürlich: Toleranz. Jedem zugestehen, sein Leben zu leben, wie er es will, solange dabei niemand anderer verletzt wird.

Randnotiz

Vor einem Kaffeehaus wartend und durch mein Instapaper scrollend, kam mir ein Gedanke zu einem Thema, dass mich immer wieder beschäftigt, das ich aber bisher nie so recht in Worte fassen konnte: wenn ein Begriff von einer Mehrzahl von Personen (inkl. Medien) nicht mehr ursprungsgemäß verwendet wird, welche Bedeutung gilt dann? Seit Jahren verschlucke ich mich regelmäßig an der Verwendung des Wortes realisieren. Das PONS-Online-Wörterbuch dazu: verwirklichen. Einen Plan / ein Projekt verwirklichen. Immer wieder fällt mir jedoch auf, dass nicht mehr nur im Trash-Fernsehen der Begriff im Sinne des englischen “to realize” (etwas erkennen, sich etwas klar machen) verwendet wird.

Als weiteres Beispiel ist mir im Rahmen der #nowkr Debatte auf Twitter entgegengeflogen (und war letztlich der Auslöser für diese Randnotiz): der schwarze Block. In der Wikipedia kann man dazu nachlesen, dass es sich um eine „Demonstrationstaktik von Gruppierungen, die nach außen hin aufgrund von Verhalten und meist schwarzer Kleidung und Vermummung homogen wirken“ handelt. In den Medien wurde der Begriff jedoch häufig als Bezeichnung für eine Gruppe autonomer Randalierer verwendet, unter anderem auch bei dem von mir für seine scharfen Analysen geschätzten @martinblumenau in seinem Nachtrag zur Akademikerball-Berichterstattung (der erste Teil der Berichterstattung).

Wenn nun ein Großteil der Menschen – die Medien haben hier in meinen Augen eine richtungsweisende Wirkung – einen Begriff nicht mehr im ursprünglichen Sinn verwendet, müssten dann nicht beide Sichtweisen zulässig sein? Die ältere Bedeutung zu eliminieren, fände ich weder richtig, noch durchführbar. Lebende Sprache ist ein sich veränderndes Konstrukt, das zeigen uns schon die mit großem medialen Radau jährlich gekürten Jugendwörter des Jahres. Sollte man nicht das Oberlehrer-hafte etwas beiseite lassen? Natürlich ist ein Verweis auf die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes immer zulässig. Aber eine neue Bedeutung für einen Begriff kann doch nicht zwangsläufig falsch sein?

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Roman

Thomas Glavinic – Wie man leben soll

Dies ist der Moment, in dem einem bewusst wird, wie gern man irgendwo dazugehören würde. Egal wo. Zu den gehenden Tänzern, zu den breitschultrigen Türstehern, zu den beliebten Barkeepern. Zur Gewerkschaft der Brillenträger, zur Zunft der Rothaarigen, zur Liga der Linkshänder. In diesem Moment spürt man, wie allein man in der Welt steht, und wie gern man Teil eines größeren Ganzen wäre.

1. Beobachtung: Selten hatte ich bei einem Buch so eine Schwierigkeit, Tags zu finden, die den Inhalt des Buches irgendwie sinnvoll beschreiben.

Rückschau: Warum kam ich überhaupt zu diesem Buch? [Im vergangenen Jahr, dachte ich …] schon 2011 erschien der Film von David Schalko, in dem neben vielen Größen der österreichischen Filmszene (wie Manuel Rubel, Maria Hofstätter und der von mir sehr verehrte Michael Ostrowski) auch die Tochter einer guten Freundin mitspielt: Julia Jelinek. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich den Film noch immer nicht gesehen habe und daher auch nichts zur filmischen Umsetzung des Romans sagen kann. Wird nachgetragen, falls ich jemals dazu komme.

Wenn man sich am 24. Dezember an den Tisch setzt, besteht der Weihnachtssschmaus wie eh und je aus Spaghetti Bolognese mit Kartoffelsalat. Da Tante Kathis Kochkünste seit den kargen Tagen des Zweiten Weltkriegs keinerlei Wandlung unterworfen wurden, sind die Nudeln eine breiige Masse, über der eine puddingartige Substanz zittert, und der Kartoffelsalat erinnert auch nur entfernt an die Qualität jenes im Jack Point.

Durch eine andere Crossover-Begegnung (Karte und Gebiet von Michel Houllebecq in der Garage X, das Buch möchte ich möglichst bald lesen, um die Theatererfahrung mit der Literaturerfahrung zu vergleichen) kam ich darauf, hierzu mal das Buch zu suchen und war dann so erstaunt, dass es von Thomas Glavinic ist, dass ich in der Onleihe gleich auf Ausleihen klickte. Zu diesem Thema später mehr …

Im Leben gelangt man immer wieder an einen Punkt, an dem man mit seinem Freundeskreis unzufrieden ist, neue Gesichter und neue Ansichten kennenlernen will, denn der Mensch ist von Natur aus neugierig.

Das Buch selbst erzählt die Entwicklung von Charlie Kolostrum, der sich von einem schüchternen, lüsternen Teenager zu einem kaum weniger hilflosen, lüsternen Erwachsenen entwickelt. Seine positivste Eigenschaft ist das stoische Hinnehmen aller Irren und Wirren, die ihm das Leben in Form seiner Freunde, Familie und dem Zufall so hinwirft. Dass er dabei versehentlich zwei Familienmitglieder und schließlich seine Freundin durch mehr oder weniger Unfälle verliert, wird so harmlos erzählt, als wäre nur ein Erdäpfel vom Teller gerutscht.

Ringsherum stehen Paoletta und andere Leute und tuscheln. Laura beißt sich auf die Lippen. Als sie sieht, wie man von anderen Frauen umlagert wird, läuft sie herbei. Man kommt in die Zeitung, weil aufgedeckt wird, Boban sei ein gesuchter Verbrecher. Das Fernsehen ruft an …

Im Lauf des Buches fragte ich mich immer wieder, ob wohl all diese Tagträume, mich denen sich Charlie schon in der Schule und später im Taxi die Zeit vertreibt, im Film wohl szenisch umgesetzt wurden. Müsste eigentlich verlockend für einen Regisseur sein, hier so richtig aufzudrehen und alles extrem überzeichnet zu interpretieren. Immer wieder hatte ich das Gefühl, dass dieses Buch nicht so richtig zu Thomas Glavinic passt, viel zu plastisch ist noch meine Erinnerung an Das Leben der Wünsche und Die Arbeit der Nacht. Doch natürlich drückt sich dadurch nur die Vielseitigkeit des Autors aus, mit Charlie Kolostrum hat er einen vollkommenen Antihelden geschaffen, wo sein Jonas aus den anderen Büchern zwar schwache Seiten hat, aber letztendlich doch vollkommen sympathisch wirkt.

Sollte ich jemals dazu kommen, den Film zu sehen, folgt ein Nachtrag.

Verspäteter Jahresrückblick

Gestern habe ich wieder das Album des vergangenen Jahres gehört und daher spontanes Mitteilungsbedürfnis über die Highlights von 2013 entwickelt. Daher hier eine kurze Zusammenfassung:

Überblick: Schon bevor der große Umbruch begann, hatte mir @pawaganak zu Ostern schon das Jahr der Veränderungen prophezeit. Und natürlich hat sie recht behalten. Von Mai bis zum Ende des Jahres war keine Ruhe mehr zu haben, eine Herausforderung jagte die nächste. Es fällt mir noch immer schwer, auf das Positive dieser Veränderungen zu fokussieren, weil vieles noch unklar ist und unsicherer als ich es gerne hätte.

Das Album des Jahres: Fast hätte ich nicht mehr damit gerechnet, nach „A Fire So Big The Heavens Can See It“ (2008) von Search The City nochmal etwas kommen würde. Das Release Datum von Flight (3. September 2013) hatte ich schon Monate davor im Kalender stehen und der vorab veröffentlichte Song The Runways lief den ganzen Sommer lang über Soundcloud. Mist, gerade bemerkt, dass auf der Wikipedia-Seite von Search the City das neue Album noch gar nicht vermerkt ist. Noch was zu tun …

Das Buch des Jahres: 5-3-6-5-4-4-6-2-4-2-3-3=47. 47 Bücher waren es also 2013, was eigentlich nicht so wenig ist, wie ich gefühlsmäßig geschätzt hätte. Beste Monate waren März und Juli, wobei dies auch daher rühren kann, dass ich mit dem Schreiben der Posts nicht mehr so konsequent gewesen bin, wie in anderen Jahren. Die Idee, überhaupt ein Buch des Jahres auszuwählen, kam aus dieser Ecke: Problems of a Book Nerd. Nach kurzem Durchschollen der Posts aus 2013 konnte ich mich zwischen zwei Werken nicht entscheiden: Jojo Moyes: Ein ganzes halbes Jahr (dessen englischer Titel Me Before You mich nach wie vor viel mehr berührt als der deutsche Titel) und Haruki Murakami: 1Q84.

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Krimi Roman

Donna Leon – Blutige Steine

Es könnte eventuell wieder ein kurzer Beitrag sein, zum Zwecke der weihnachtlichen Entspannung wollte ich mir wieder mal einen gepflegten Krimi vom Regal nehmen, diesen Zweck hat der Brunetti auch diesmal wieder erfüllt. Der Spannungsfaktor ist diesmal eher dezent, es kommt bis zum Schluss zu keinem Showdown. Trotzdem finde ich diesen Krimi besser aufgebaut als viele andere. Brunetti kämpft diesmal weniger gegen die tatsächlichen Mörder sondern gegen die internen Querelen. Sein Chef untersagt ihm die Ermittlungen, sowohl Innen- und Außenministerium mischen sich ein und sogar auf den Computer der kompetenten Sekretärin Elettra wird von außen zugegriffen. Von allen Brunetti-Krimis der letzten Zeit hat mir dieser deutlich besser gefallen, aber es bleibt natürlich nach wie vor dabei, dass der Brunetti einfach Geschmackszache ist. Mit einem Harry Hole ist er sowieso nicht zu vergleichen. Steht da nicht auch noch was im Regal? Ich muss weg …

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Roman

Marc Elsberg – Black Out

Wenn erst einmal alle französischen AKWs abgeschaltet waren, musste La Grande Nation für Stunden, wenn nicht Age auf ein Gutteil ihrer Energieproduktion verzichten.

Vor Monaten hatte ich ein Interview mit dem Autor Marc Elsberg in einer Zeitschrift gelesen und gleich daran gedacht, wie schwierig es gewesen sein muss, all die Informationen zu recherchieren, um diese Geschichte so glaubhaft wie möglich zu erzählen. Elsberg hat sich wirklich viel Mühe gegeben, um die Details möglichst realistisch wiederzugeben. Er erzählt aus der hauptsächlich aus der Perspektive von Piero Manzano, mit ihm startet das Buch, er wird in weiterer Folge eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Geschichte spielen.

Schon heute stellte die wachsende Anzahl von Windkraft- und Solaranlagen eine zunehmende Bedrohung der Netzstabilität dar. Gänzlich unkontrollierbar würden die Zustände, wenn künftig jeder Haushalt, gar jeder Mensch ein eigenes Minikraftwerk würde und immer dann Strom ablieferte, wenn er einen Überschuss produzierte.

Wäre das Buch ein Film (was zweifellos noch folgen wird), würde man es einen Episodenfilm geben. Unterschiedlichste von der Katastrophe betroffene Personen werden ein Stück ihres Weges begleitet, um dann wieder an einen Ort zu springen, um zu zeigen, was dort vorgeht. So wird etwa die Perspektive eines Kraftwerksmitarbeiters in Ybbs-Persenbeug gezeigt oder die Perspektive einer Pressesprecherin des Innenministeriums, die die Katastrophe aus politischer Sicht betrachtet.

Tatsache ist, dass es eine Broschüre des Innenministeriums gibt, in der empfohlen wird, ein batteriebetriebenes Radio zu Hause zu haben. Aber wer von Ihnen hat so etwas? Und wenn, wer besitzt auch die notwendigen Batterien? Wir haben uns an eine Welt gewöhnt, die mit Fernsehen, Internet und Mobiltelefonen funktioniert. Einige von Ihnen besitzen vielleicht gar keine Festnetzanschlüsse mehr.

Was mir persönlich etwas gefehlt hat, ist die Perspektive einer ganz normalen Familie. Was tut eine Mutter, die ihren Kindern nichts zu essen zubereiten kann? Die vielleicht nicht mal Wasser zuhause hat? Was tut eine Mutter mit einem kleinen Baby ohne Wasser, um Milchpulver zuzubereiten? Der Autor schreckt nicht davor zurück, dramatische Situationen zu zeigen und seine Protagonisten Piero und Shannon auch mal in eine brenzlige Situation geraten zu lassen. Auf der Suche nach Nahrung wird ihr Auto von einem bewaffneten Mann gestohlen, sie stehen hilflos auf der Straße und landen letztendlich in einem hoffnungslos überfüllten Obdachlosenasyl.

„Kein System wird jemals absolut sicher sein“, wand sich der Technikvorstand. „Aber wir gehen weit über alle Industriestandards hinaus.“

Sein Blick auf die Technik ist sicher nicht in allen Details korrekt, man darf davon ausgehen, dass sich ein Autor auch einige künstlerische Freiheiten erlauben kann, um die Geschichte nicht ausufern zu lassen. Er blickt jedoch durchaus kritisch auf die Verantwortlichen, auf die Manager der Energiebetriebe, die für die Sicherung ihrer Anlagen nicht ausreichend Geld zur Verfügung stellen. Auch Überprüfungen der tatsächlich vorhandenen Sicherheitsvorkehrungen werden oft mangels Personal und Geld gar nicht durchgeführt. Und man muss sich bewusst sein: Absolute Sicherheit ist nicht möglich. Und Sicherheit kostet Geld.

„… Die wahre Brisanz eure vielen Verantwortlichen erst in den letzten Jahren bewusst. Und natürlich ist es auch eine Kostenfrage. Sicherheit kostet Geld.“

Seit ich selbst versuche, mich mit der Sicherheit meines Netzwerks und meines Computers mehr auseinanderzusetzen, wird mir immer mehr klar, dass man eigentlich Spezialist auf diversen Gebieten sein müsste, um auch nur halbwegs sicher sein zu können, dass man seine Daten nicht nach China schickt oder aufgrund einer Sicherheitslücke offen im Internet stehen hat (wie dieser Tage bei REWE geschehen). Auch dafür gilt natürlich, dass absolute Sicherheit niemals möglich sein wird, aber wenn mit Daten von Kunden und Mitarbeitern so fahrlässig umgegangen wird wie bei der Salzburg AG, dann kann jeder halbwegs mit Computern befasste Mensch sich ausrechnen, was für eine Dunkelziffer hier herrscht, wie viele Datenlecks erst viel zu spät oder überhaupt niemals bemerkt werden.

In Gesprächen mit Freunden und Bekannten, die sich mit dem Thema noch nicht so intensiv auseinandersetzen bzw. gesetzt haben, bemerke ich immer wieder die Frustration, die mitschwingt, das Gefühl, nichts tun zu können, weil der Aufwand so enorm ist, weil man kaum eine Chance hat, sich in den Riesenberg der Systeme und Protokolle einzulesen, um auch nur eine Illusion von Sicherheit erzeugen zu können. Mir geht es nicht ähnlich. Bei der letzten Cryptoparty vor Weihnachten im MetaLab hatte ich erstmals von Panopticlick gehört, seitdem geht mir nicht aus dem Kopf, wie ich meinen Browser unsichtbarer machen kann. Und doch fehlt mir die Zeit, um mich wirklich intensiv damit auseinander zu setzen. Ein paar Firefox-Addons sind schnell installiert, aber wenn die gewünschte Webseite dann nicht funktioniert, greife ich dann doch wieder zum weniger abgesicherten Browser. Weil Mensch ja so nicht arbeiten kann …

Trotz allem will ich nicht aufhören, es weiter zu versuchen und ich akzeptiere auch bei anderen keine Resignation. Wer es nicht versucht, hat bereits verloren. Wie bei allem im Leben. Wenn mal was nicht gleich klappt, muss man es eben weiter versuchen. Einfach den Kopf in den Sand zu stecken und zu sagen, ich hab eh nichts zu verbergen und sich das auch noch erfolgreich einzureden, ist nicht akzeptabel.

Vier Tage erst, dachte er, und unsere Nerven liegen bereits blank. Er schloss die Augen, und zum ersten Mal seit seiner Kindheit betete er. Bitte, wenn es dich gibt, mach, dass es unseren Eltern gutgeht!

Obwohl die „normalen“ Schicksale fehlen, haben die ganz persönlichen Dramen der Protagonisten durchaus Gänsehautfaktor. Der Herzinfarkt, der nicht behandelt werden kann, weil kein Arzt da ist. Die Evakuierung des Gebiets rund um den Atomreaktor, die Gewalt und Verzweiflung, die überhandnimmt, je länger die Katastrophe dauert. Marc Elsberg ist es gelungen, einen sowohl technisch als auch menschlich spannenden Thriller zu schreiben, der gleichzeitig aufrüttelt und unterhält. Ich hab mich nicht nur einmal gefragt, wie lange ich im Falle eines Stromausfalls durchhalten würde. Wie lang der kleine Gaskocher wohl ausreichen würde, um Dosen aufzuwärmen, wie lange die Wasserreserven wohl ausreichen würden, wie viele Kerzen noch da sind und wie lange die Batterien der Taschenlampe wohl halten würden. Es ist sicher kein Fehler, seine persönliche Infrastruktur mal auf Katastrophentauglichkeit zu überprüfen. Ein Festnetztelefon werd ich mir trotzdem nicht mehr anschaffen.

Jedes Ende war ein Anfang. Wie Ruinen, die sich der Dschungel zurückholte, würden sich die Menschen ihr Leben wieder erobern.

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Roman

Javier Marias – Alle Seelen

Der Herzog von Cervantes Pequeña (dies war sein Titel) begleitete seinen exilierten König, der sein Reich niemals kennen gelernt hatte, sah zu, wie er den Wagen mit neuen Flaschen füllte, und nachdem er mit ihm eine Flasche auf das Gedanken an Browne oder Marlowe oder irgendeines anderen Klassikers geleert hatte, der an diesem Tag gerade Geburtstag hatte, sah er ihn mit ruhigen Schritten in der Dunkelheit verschwinden, seinen alkoholischen Kinderwagen vor sich her schiebend, vielleicht genau wie ich jetzt bisweilen den meinen schiebe, wenn die Nacht über dem Retiro-Park hereinbricht, nur dass darin mein Kind – dieses neue Kind – liegt, das ich noch nicht gut kenne und das uns überleben wird.

Javier Marías wurde mir in einem Zeitungsartikel angepriesen, natürlich habe ich diese Referenz wieder mal nicht abgespeichert. Ich meine mich zu erinnern, dass es um ein aktuelleres Werk ging, außerdem wurde die Trilogie „Dein Gesicht morgen“ angepriesen. Davon ist jedoch auf Papier nur die gebundene Ausgabe zu haben und auch die (inzwischen verfügbare) Kindle Edition ist mit 19,99 (pro Teil der Trilogie) deutlich teuer. Tatsächlich habe ich jetzt also dieses autobiografisch angehauchte Frühwerk gelesen, das mich eher ratlos zurückließ.

Der Ich-Erzähler beschreibt sein Leben als Dozent in Oxford, seine schrägen Kollegen und seine Affäre mit Clare, die bereits lange vor seiner Abreise durch die Erkrankung von Clares Sohn ein jähes Ende findet. Die meisten dieser Geschichten werden nicht mal als echt verkauft, sondern sind die Interpretation eines gelangweilten Geistes, der in Begegnungen mit Menschen Geschichten hineinfantasiert. Etwa die grotesk überzeichnete Beschreibung des College-Banketts oder die aus Gerüchten komponierte Story über den Spion, der russische Sportler verhört. Wenn man das Prinzip mal kapiert hat, kann man sich durchaus gut unterhalten, aber bei mir sprang der Funke nicht ganz über.

Nur einmal sah ich das Kind oder den Sohn Eric, zu einem Zeitpunkt, da bereits die letzten Tage seines unvorhergesehenen Aufenthalts in der Stadt Oxford zu Ende gingen und mein seelisches Ungleichgewicht am größten war (denn das unmittelbar bevorstehende Ende einer Entbehrung lässt sich nicht gegen die noch andauernde Entbehrung abwägen, wenn diese schon eine Zeitlang gedauert hat oder – unabhängig von ihrer wirklichen Dauer – als dauerhaft oder vielleicht als unbegrenzt empfunden wurde; ich meine, es lässt sich nicht so stark dagegen abwägen, dass man als beendet zu betrachten vermag, was kurz vor seinem Ende steht, aber noch nicht abgeschlossen ist, und was vorherrscht, ist die Furcht, irgendein Zufall – Pech, Umkehrung des Vorweggenommenen – könne diese angehäufte erlittene Gegenwart verlängern: Man spürt keine Erleichterung, sondern noch größere Angst und misstraut der Zukunft nur).

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English Roman

Aimee Bender – The particular sadness of lemon cake

The whole cookie was so rushed, like I had to eat it fast or it would, somehow, eat me.

Normalerweise gebe ich nicht viel auf Buchempfehlungen. Selbst wenn sie von einem Blogger kommen, dem ich schon länger folge. Aber wenn die Liste mit Bel Canto anfängt, kann das so falsch nicht sein. Zusätzlich ereilte mich das Ganze zu einem Zeitpunkt, wo ich gern mehr gelesen hätte, aber kaum dazu gekommen bin. Und dann kommt noch erschwerend hinzu, dass die englischen Bücher als Kindle Books meist nur 5 oder 6 Euro kommen und da denk ich dann kaum noch nach … also habe ich von @zenhabits Liste gleich sechs oder sieben Bücher gekauft. Für irgendwann später …

She slipped the cutting board out of the counter and scraped the bumpy squares into the pan to join the golden onions and garlic. We watched the pepper parts crackle in the oil.

Gleich das erste Buch erwies sich als absoluter Favorit. Es ist rückblickend total interessant, wie sich die Geschichte entwickelt, mehrmaliges Lesen zahlt sich auf jeden Fall aus. Ich bin überzeugt, dass man bei einem zweiten Mal Lesen auf ganz andere Aspekte aufmerksam werden wird. Generell dreht sich das Buch um das Mädchen Rose, das eines Tages feststellt, dass sie in zubereitetem Essen die Emotionen der Menschen schmecken kann, die das Essen zubereitet haben. Das beginnt mit dem titelgebenden Lemon Cake, in dem Rose das Unglück und die Sehnsucht ihrer Mutter spürt.

It was the first time I could remember making a whole meal, start to finish. As best I could, I kept focused on the task at hand, and as I chopped parsley into small wet green bits, I just tried to let the ingredients meet each other, as I had tasted in the onion soup.

Rose lernt, mit dieser „Fähigkeit“ zu leben. Sie hält sich an junk food, maschinell hergestelltes Essen, um nicht ständig die Emotionen anderer Menschen ertragen zu müssen. Schließlich erschmeckt sie im von der Mutter gekochten Abendessen auch deren Affäre. Einer Freundin dient sie einige Zeit als Depressionstherapeutin. Das Verhältnis zu ihrem Bruder ist belastet, denn Rose ist in dessen Freund George verliebt.

And just as he said it, like a bird across the sky, my brother flickered through my mind, and although the thought was half formed, it occurred to me that meals were still meals, food still contained with a set beginning and end, and I could pick and choose what I could eat and what I couldn’t. And that my father’s was ahospital he could drive around entirely, and Grandpa seemed to smell mostly in stores, but what if whatever Joseph had felt every day had no shape like that? Had no way to be avoided or modified? Was constant?

Der Roman begleitet Rose über mehrere Jahre. Und wie George bereits zu Beginn bemerkt, wird Rose lernen, mit ihrer „Gabe“ irgendwie zu leben, sich daran zu gewöhnen. Ihren Platz findet sie schließlich in einem Restaurant, in dem das Wirtsehepaar mit so viel Liebe kocht, dass sogar Rose die Mahlzeiten genießen kann. Sie arbeitet sich als Tellerwäscherin hoch und lernt schließlich selbst kochen. Und findet eines Tages sogar heraus, dass sie ihrem Bruder vielleicht ähnlicher ist, als sie lange dachte.

The cook is a little disillusioned.

Eigentlich zuviel verraten. Und doch wieder nicht. Ein gefühlvoll arrangierter Roman, der den Leser in die Geschichte hineinzieht und nicht mehr los lässt. Schon allein die Vorstellung, man könnte selbst in Nahrung die Gefühle der Menschen schmecken (oder sie riechen, hören oder sehen?). Absurd und beängstigend, wenn man sich vorstellt, einer seiner Sinne würde einem ständig zusätzliche Informationen übermitteln, die man eigentlich nicht haben möchte und vielleicht auch nicht teilen kann. Wie Rose damit umgeht, entfaltet sich zu einer fantastischen Geschichte, die ich vorbehaltlos empfehlen kann. Und ich wünschte, ich könnte rückwirkend alle meine Nicknames auf „angry cookie“ ändern.

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Roman

Karen Thompson Walker – Ein Jahr voller Wunder

Draußen konnte ich die Stimmen kleinerer Kinder hören. Ein Ball klatschte aufs Pflaster. Durch das Fenster glaubte ich, etwas Dunkles vom Himmel fallen zu sehen.

Die Weihnachtszeit hat es mit sich gebracht, dass ich wieder mal wochenlang nicht zum Lesen gekommen bin und noch weniger zum Schreiben. Daher ist es tatsächlich schon Wochen her, dass ich dieses Buch fertig gelesen habe. In Erinnerung geblieben ist mir in erster Linie das ärgerliche Verhalten der Onleihe. Ich hatte gegen 22.00 festgestellt, „das Buch läuft heute ab, das sollt ich noch fertig lesen“. Gesagt, getan, leider fehlten mir dann um Mitternacht noch 13 (!) Seiten und mit Schlag 00.01 war die nächste Seite nach dem Umblättern einfach schwarz. Kurz geärgert, dann geschaut, ist das Buch noch verfügbar, da es das war, gleich nochmal ausgeliehen. Am nächsten Tag dann habe ich es fertig gelesen und wegen dieser Blödheit war das Buch dann weitere zwei Wochen für andere Leser blockiert, weil zurückgeben kann man es ja nicht, wenn man ausgelesen hat. Wenn man schon versucht, das Verhalten einer Papierbibliothek abzubilden (jedes Buch kann immer nur von einer Person zu einer Zeit ausgeliehen werden, so ein Unsinn), dann sollte man auch die Möglichkeit geben, wenigstens einen einzigen Tag zu verlängern, meinetwegen sogar mit einer Strafgebühr. Oder ein Tag gratis, wenn man mehr will, Strafgebühr. Wenn ich mir vorstelle, das wäre ein sehr gefragtes Buch gewesen, das ich danach für Wochen nicht mehr ausleihen hätte können, hätte ich mich wegen der 13 Seiten schon verdammt geärgert.

Zurück zum Buch: Die Welt wird aus den Angeln gehoben. Wissenschaftler stellen fest, dass sich die Erdrotation verlangsamt hat. Tage und Nächte werden dadurch länger. Nach ersten panikartigen Hamsterkäufen fangen die Menschen an, sich zu arrangieren. Es bricht keine große Katastrophe aus, doch Stück für Stück verändert sich das komplette Leben. Je länger die Tage und Nächte werden, umso mehr wirkt sich die Veränderung auf den Lebensalltag aus. Schließlich wird die Uhrenzeit ausgerufen, der Großteil der Bevölkerung hält sich weiterhin an den 24-Stunden-Tag, obwohl dies dazu führt, dass oft bei Licht geschlafen wird („weiße Nächte“) und an anderen Tagen das Leben in voller Dunkelheit abläuft.

Berichtet wird all das aus den Augen des Mädchens Julia. Für sie ändert sich mit einem Moment alles. Im ersten Panikausbruch muss ihre beste Freundin mit der Familie nach Utah ziehen. Als sie nach mehreren Monaten zurückkommt (die Welt ist schließlich doch nicht untergegangen), hat sie sich verändert und will mit Julia nicht mehr befreundet sein. Julia wird zur Außenseiterin. Diese Situation jedoch bringt sie schließlich ihrem Schwarm Seth näher, der schon vor der Veränderung seine Mutter verloren hat, und schließlich an dem durch die Verlangsamung ausgelösten Leiden erkrankt.

Julia beobachtet scheinbar unbeteiligt die Affäre ihres Vaters mit einer Nachbarin, die sich der Uhrzeit widersetzt und als Außenseiterin von allen anderen Nachbarn geschnitten wird. Auch der Tod des Großvaters wird teilnahmslos erzählt. Das ganze Buch strahlt eine Ruhe aus, wie sie in so einem Extremfall kaum von irgendjemandem erlebt werden kann. Man denkt an Panik, man erwartet menschliche Dramen (die auch nicht fehlen, jedoch werden sie unaufgeregt präsentiert). Es ist ein ruhiges Buch, trotz des dystopischen Themas liegt der Fokus auf den menschlichen Emotionen, auf den Beziehungen, die sich durch Extremsituationen zwar verändern, aber im Prinzip bleiben Menschen Menschen und Gefühle lassen sich nicht abschalten oder gehen verloren, nur weil die Sonne nicht jeden Tag aufgeht.

EDIT 29. März 2014: 99U hat mir einen TED Talk von Karen Thompson Walker zugetragen, der sich als sehr interessant herausgestellt hat: How Facing Fear Is Like Reading A Book. Ich hatte mich erst während des Talks daran erinnert, dass ich ihr Buch gelesen habe. Sie beschreibt anhand eines Beispiels, dass unsere Ängste oft irrational sind. Wir fürchten uns mehr vor dem, was wir uns gut vorstellen können, obwohl gerade diese Ängste meist nicht besonders große Gefahr sind, real zu werden. Mir ist sofort ein Beispiel aus meinem näheren Umfeld eingefallen: Wir fürchten uns vielmehr davor, überfallen zu werden oder dass bei uns eingebrochen wird, obwohl keiner von uns zur Risikogruppe gehört. Dieselben Menschen trinken (wissentlich) zu viel Alkohol und rauchen und machen sich über die naheliegenden gesundheitlichen Risiken kaum Gedanken. Wir verdrängen es, weil wir uns nicht vorstellen können, wie wir an Lungenkrebs oder Leberzirrhose erkranken. Das passiert nur anderen und solange wir diese Situation nicht zumindest in unserem näheren Umfeld erlebt haben, können wir es uns nicht vorstellen. Wohingegen der Einbrecher, der in unsere Privatsphäre eindringt, eine sehr „reale“ – also gut vorstellbare – Gefahr ist. Ich kann diesen Talk nur empfehlen, ich habe in dieser Beschreibung nicht zuviel verraten, es lohnt sich auf jeden Fall.

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Roman

Noelle Harrison – Wie die Sterne am Himmel

Vielleicht kann ich in der Zukunft leben, die Vergangenheit vergessen und eine andere werden.

Das vorweihnachtliche Chaos hat ergeben, dass ich dieses Buch schon deutlich länger ausgelesen habe und bisher nicht dazu gekommen bin, den Post dazu zu schreiben. Das hat aber auch dazu geführt, dass ich schon mit etwas Abstand darauf blicken kann und meine Meinung dazu ständig besser zu werden scheint.

Zu Beginn schauen wir auf Barbara, ein verunsichertes Mädchen, das aus Irland stammend als Au-pair-Mädchen nach London geht, um aus ihrem Dorf wegzukommen. Stück für Stück wird die Familiengeschichte enthüllt. Barbaras Vater war kaum für die Familie da, ihre Mutter „nur“ seine Geliebte, im Dorf wurde getratscht. Barbaras Mutter verdient sich ihr Geld mit Kartenlegen und „Heilungen“, wird dafür von den Dorfbewohnern verachtet und trotzdem von den Frauen eifrig konsultiert. So will Barbara nicht werden. Ständig im Raum steht auch der Tod von Barbaras Bruder Mattie. Sie gibt sich die Schuld an seinem Tod, was wirklich passiert ist, wird erst auf den letzten Seiten aufgelöst.

In London angekommen soll sie sich um das Mädchen Matilda kümmern. Matilda leidet an einer mysteriösen Krankheit, deretwegen sie nicht zur Schule gehen kann und kaum ein normales Leben führen kann. Sie ist verwöhnt und zickig. Trotzdem schließt Barbara sie schnell ins Herz. Schon nach zwei Wochen bei der Familie steht der Sommerurlaub in Südfrankreich an, bei Matildas Großeltern. Dieser Urlaub wird Barbaras Leben entscheidend verändern.

Es ist schwierig, über die Entwicklung Barbaras etwas zu sagen, ohne zu spoilern. Der Hauptpluspunkt ist, wie sich am Ende alles perfekt zusammenfügt, ohne dass man vorher erraten hätte können, wie es zusammenpassen wird. Der Erzählstil ist immer ruhig, unaufgeregt, die Perspektive eigentlich auch dann gefühlt eine weit zurückliegende eine Erinnerung, wenn man durch die Augen der jungen Barbara auf die Ereignisse in Südfrankreich blickt. Gefühlsmäßig erinnert es mich an Woher wir kommen. Begründen kann ich das nicht wirklich, vielleicht ist des der Rückblick auf ein „früheres Leben“, dessen Auswirkungen sich im heute widerspiegeln. Je länger ich darüber nachdenke, umso positiver wird mein Blick auf diesen Roman, den ich eigentlich aus einer Not heraus rein aufgrund des Titels (ich erhoffte mir ein positives Leseerlebnis von Sternen am Himmel) aus der Onleihe gefischt habe.

Matilda und mir ist es vorbestimmt, erwachsen zu werden. Als ich mit Mathilda wegrannte, glaubte ich, sie zu retten und den Tod von Mattie zu sühnen. Ich täuschte mich. Ich rettete tatsächlich ein kleines Mädchen, aber dieses Mädchen war ich selbst.

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Roman

Marco Balzano – Damals, am Meer

„Man braucht Mut, um anzufangen, zu glauben. Und ich fürchte, die Kraft, sich ganz dem Unbekannten zu überlassen, die habe ich nicht.“

Keine Ahnung, wie mir das passieren konnte. Auf einmal hatte ich zwei Bücher gleichzeitig in Arbeit (eins auf Papier, eins am Kindle), die sich mit einem oberflächlich ähnlichen Thema beschäftigten. Beide spielen in Italien, Protagonist ist jeweils ein junger Mann, der seinen Platz im Leben sucht, scheinbar ziellos herumwandert und nicht weiß, wo er hingehört. Das erste dieser Bücher war der letzte Post (Fabio Volo: Zeit für dich und Zeit für mich) und ich habe das Gefühl, dass ich schon so kurz danach anfange, es anders zu sehen. Vor allem das überraschende, offene Ende stört mich zunehmend. Wieder eine Parallele. Denn auch Damals, am Meer hört auf einmal auf. Es gibt keine Richtung, es scheint, als wäre der junge Mann um nichts schlauer, als er zu Anfang des Buches war. Möglicherweise habe ich nicht ausreichend zwischen den Zeilen gelesen, aber ich konnte keine Entwicklung feststellen.

Man sah, dass er rundum Stücke von sich suchte, aus den Schuljahren, aus seiner Jugend. Großvater nicht. Großvater Leonardo suchte einen untergegangenen Hafen, seine Stadt unter dem Meer, die beim plötzlichen Einbrechen einer Welle wieder an die Oberfläche käme.

Großvater, Vater und Sohn machen sich auf den Weg, um eine Altlast der Familie loszuwerden, eine Wohnung in einer Stadt am Meer, die schon lange von niemandem mehr benutzt wird und alle Familienmitglieder drücken sich vor der Verantwortung, nach dem Rechten zu sehen. Schließlich ist des der Großvater, der die Entscheidung trifft, dass die Wohnung verkauft werden muss. Großvater und Vater wollen sich der Sache annehmen, der Sohn schließlich fährt mit, da er als Lehrer im Sommer sowieso nichts zu tun hat und auch noch auf Arbeitssuche ist. Es hätte ein Roadmovie werden können (das hatte ich wohl beim Kauf gehofft) und fühlt sich in manchen Passagen auch ein bißchen danach an. Etwa der Umweg zu einem Kloster, um einen alten Freund des Großvaters zu besuchen, verspricht deutliches Potenzial, dass der geplante Weg verlassen werden könnte. Vielleicht wird doch alles anders?

Zwischen den Zeilen werden Bruchstücke der Familiengeschichte erzählt. Während der Großvater noch immer den lokalen Dialekt der Ortschaft am Meer spricht und sich mit „hochitalienisch“ eher schwer tut, muss sich der Vater anstrengen, um sich an die Worte des lokalen Dialekts zu erinnern, der Sohn spricht den Dialekt gar nicht, er ist in Mailand aufgewachsen und war in der Ortschaft am Meer immer nur über den Sommer zu Besuch. Kleine und größere Konflikte werden ausgetragen. Für den Großvater ist es eine Abschiedsreise. Er muss annehmen, dass er nach dem Verkauf der Wohnung nie mehr hierher kommen wird. Vermutlich werden Vater und Sohn das auch nicht, aber ihnen bleibt immerhin noch mehr Zeit. Das Begräbnis eines Freundes des Großvaters, der erst wenige Tage zuvor verstorben ist, trübt die Stimmung zusätzlich.

Am Ende wird die Wohnung verkauft. Es ist keine interessante Information, kein Spoiler, denn die Wohnung ist nur ein Symbol für den Abschied von der Vergangenheit. Vielleicht ist es doch ein Roadmovie. Denn der Weg zählt, das Ziel ist letztlich nicht so wichtig und auch unspektakulär. So gesehen dann doch wieder eine Lebensweisheit. Weise verpackt in eine Reise. Also doch ein Roadmovie.