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Roman

Dirk Stermann – Sechs Österreicher unter den ersten Fünf

Sonnenuntergang in Simonsfeld

“Danke, aber des kummt zu spät. Bei mir hülft ka Besserungsanstalt. Da is Hopfen und Malz verlorn. Gemma, Bambi.”
Der Hund bellte, und Wanda zog mit Bambi und den beiden von ihr gezähmten Polizisten ab.

Der treffende Untertitel „Roman einer Entpiefkenisierung“ trifft eigentlich den Namen auf den Kopf. Der aus dem Ruhrgebiet zugereiste Dirk Stermann kam zweifellos in Wien in die allermöglichsten und unmöglichsten Situationen, diese bringt er nun überspitzt in einem Roman zum Ausdruck. Seine absurd-komischen Figuren lassen stets die Frage offen, wieviel davon ist fiktiv, wieviel davon vielleicht tatsächlich passiert? Ein nationalistischer Exildeutscher, Spiegeltrinker in diversen Wiener Absturzlokalen, ein toter irischer Wolfshund (oder so ähnlich) und als Krönung die Neuauflage des Cordoba-Klassikers. Die Episoden sind mit viel Wiener Lokalkolorit gewürzt und treiben dem Leser so manche Lachträne ins Auge. Damit dürfte sich das Werk sowohl für Exilpiefke als auch für Österreicher eignen, wenngleich Zweitere vermutlich mehr zu Lachen, Erstere vermutlich mehr Erkenntnisgewinn zu verbuchen haben werden. Amüsant.

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Roman

Sarah Kuttner – Mängelexemplar

Regenbogen über Großmugl Umgebung

Trotzdem bin ich ganz verliebt in mein In-Therape-Sein. Ich glaube fest an das Prinzip: Leiden für den Erfolg, bin zuversichtlich und rede viel mit Freunden, von denen sich sogar ein bis zwei als alte Hasen auf diesem Gebiet entpuppen. Wir veranstalten stundenlange Hobbypsychologentreffs.

Wer ohne Vorkenntnisse in diesen Roman startet, erwartet am Anfang eine typische Frauen-Coming-of-Age-Geschichte. Caro steckt in einer lieblosen Beziehung und weiß das auch selbst, nur fehlt ihr der Mut zur Trennung, zum Alleinsein. Beruflich läuft es auch gerade nicht so gut, eine Veränderung muss her. Als ihr schließlich die Trennung vom kaltherzigen Philipp gelingt, wird die Angst vor dem Alleinsein zu einer allgemeinen Angst inklusive Panikattacken. Der erste Weg führt zur Psychotherapie, wo sich Caro noch in ihrer Therapiebedürftigkeit gefällt und tapfer Witze über ihr angeknackstes Selbst reißt.

Kann ich nicht, will ich nicht. Ich kann akzeptieren, dass andere Menschen tatsächlich gern Pizza mit Ananas essen oder R’n’B mögen oder Drogen nehmen. Aber dass sie Freunden nicht zuhören können oder wollen, unbeirrbar pessimistisch sind und nicht bereit, zu geben, was sie nehmen, akzeptiere ich nicht. Das ist einfach falsch.

Die Analyse der Therapeutin scheint zu helfen, doch schließlich muss Caro doch zugeben, dass sie Hilfe braucht und zu ihrer Mutter ziehen. Allein kommt sie in ihrer Wohnung nicht zurecht. Ständig versucht sie, tapfer zu sein, will nicht zugeben, dass sie alleine nicht klarkommt. Schließlich verschreibt ihr ein Psychiater Antidepressiva, die gegen die Angstanfälle helfen sollen.

Aber er hat recht. Vielleicht ist das die einzige Form, etwas wirklich zu akzeptieren: nicht mehr drüber nachdenken. Sich helfen lassen und die Verantwortung abgeben. Sich mit dem Ist-Zustand abfinden. Nicht mehr kämpfen.

Ein langer Weg liegt vor Caro, es scheint ihr besser zu gehen, doch immer wieder holt die Krankheit sie ein. Ein Übergangsmann hilft ihr weiter, doch nur kurzfristig. Doch letztendlich kann erst die Erkenntnis, dass man sich mit der Krankheit abfinden, sie akzeptieren muss, den Aufbruch in ein neues Leben ermöglichen. Ein Augen öffnender Roman, der psychische Krankheiten für viele Außenstehende verständlicher machen kann.

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Roman

Gottfried Keller – Der grüne Heinrich

Yellow Flower

Aber leider setzte ich, anstatt mich der praktischeren und beliebteren Waffen meiner Genossen zu bedienen, knabenhafter- und ungalanterweise den Mädchen ihre eigene Kriegführung entgegen. Der trotzige Stoizismus, welchen ich gegen das jungfräuliche Selbstgenügen aufwandte, warf mich um so schneller in eine einsame und gefährliche Stellung, als ich in meiner Einfalt augenblicklich selber daran glaubte und mit heftigem Ernste verfuhr.

Wenn mich die Erinnerung an den Deutschunterricht nicht trügt, handelt es sich beim grünen Heinrich um einen Klassiker der Kategorie „Entwicklungsroman“. Tatsächlich beschreibt der Roman auch Heinrichs Entwicklung vom glücklosen Schüler zum glücklosen Maler. Der erste Teil konzentriert sich auf die Jugendjahre, Heinrichs erste Verliebtheit in die Lehrertochter Anna, seine Affinität zur Landschaftsmalerei. Da Heinrichs Vater verstorben ist, lässt ihm die Mutter alle Freiheiten und ermöglicht es ihm schließlich auch, in der fremden Stadt als Maler sein Glück zu versuchen.

Auch nachdem ich aufgeblickt, veränderte sie Haltung und Ausdruck nicht sofort, und erst als ihre Augen auch einen feuchtern Glanz bekamen, nahm sie sich zusammen. Das Bild dieses Augenblickes ist mir auch geblieben gleich dem stillen Glanz eines Sternes, den man einmal in ungewöhnlich klarer Luft leuchten sah und niemals vergisst.

Dort lernt Heinrich viele andere Künstler sowie diverse Frauen kennen, kann sich jedoch als Maler nicht wirklich durchsetzen. Es könnte ein wichtiger Aspekt sein, dass dieser Heinrich sich einfach nur treiben lässt. Er fühlt sich nicht wirklich verantwortlich, er tappt von einer Gelegenheit zur Nächsten ohne viel Sorgen, ohne Ziel. Als ihm schließlich das Geld ausgeht, verkauft er erst sein gesamtes Werk an einen Trödler und verdingt sich anschließend dort als Fahnenstangenmaler. Erst als er sich tatsächlich nicht mehr zu helfen weiß und sich zu Fuß auf den Weg in die Heimat macht, ist ihm schließlich das Glück hold. Dass seine Existenz als „gewöhnlicher“ Beamter endet anstatt als erfolgreicher Maler spricht eine andere Sprache. Ein äußerst zähes Werk der oben genannten Kategorie mit minimalem Erkenntnisgewinn für den Leser.

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Sachbuch

Adele Faber, Elaine Mazlish – How to talk so kids will listen & listen so kids will talk

Versailles in Minimundus, Klagenfurt, Kärnten

Doesn’t sound too hard, does it? But it is. And the hardest part is not the learning of the separate steps. With a little study that can be accomplished. The hardest part is the shift we have to make in attitude. We have to stop thinking of the child as a “problem” that needs correction. We have to give up the idea that because we’re adults we always have the right answer. We have to stop worrying that if we’re not “tough enough”, the child will take advantage of us.

Erziehungsratgeber klingen meistens besonders gscheit und bringen wenig Erfolg. Im Alltag erweisen sich gut gemeinte Ratschläge oft als wenig mehr als gut gemeint. Manche Hinweise funktionieren vielleicht einmal, doch sobald die Kids das Spiel durchschaut haben (und das werden sie langfristig wohl immer), muss man neue Strategien anwenden.

Tatsächlich fehlen mir die eigenen Kinder zum Ausprobieren der in diesem Ratgeber vorgestellten Strategien. Das Meiste klingt sehr vernünftig und die vielen Geschichten von Eltern, die selbst überrascht waren, wie gut die Strategien in der Praxis funktionieren, tun ihr Übriges. Die Schwierigkeit dürfte hauptsächlich darin liegen, sich die Tipps einzuprägen und dann die vorgeschlagenenen Kommunikationsmittel tatsächlich anzuwenden und nicht in alte Gewohnheiten zurückzufallen. Augen öffnend ist dabei ein beispielhafter Gesprächsverlauf in einem der späteren Kapitel, indem verdeutlicht wird, was eine Mutter alles falsch machen kann und wie daraufhin der Gesprächsverlauf eskaliert. Der erste Impuls ist nicht immer der Richtige, oft gilt es, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Gefühle nicht überhand nehmen zu lassen. Die Autorinnen plädieren aber auch dafür, den Kindern auch die eigenen Gefühle nicht vorzuenthalten, also auch zum Ausdruck zu bringen, wenn man sich ärgert und worüber.

Ich hinterfrage gerade meine Einstellung gegenüber Ratgeber-Büchern. Macht man sich nicht in Wirklichkeit zuviel Sorgen? Sind nicht die meisten von uns zu guten Menschen herangewachsen, auch wenn unsere Eltern nicht alles richtig gemacht haben und keine derartigen Ratgeberbücher zu Rate gezogen haben? Ist nicht oft die impulsive Reaktion einer Mutter oder eines Vaters vollkommen in Ordnung? Fühlt man sich vielleicht trotzdem weniger unsicher, wenn man die Erfahrungen anderer Eltern teilen kann? Und von deren Tipps und Erfahrungen profitieren kann? Vermutlich. Vermutlich hilfreich.

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Sachbuch Schmafu

Pierre Franckh: Wünsch es dir einfach – aber mit Leichtigkeit

Wotrubakirche

Disclaimer: Ich bin ein Skeptiker. Ich glaube an Gott und an Wissenschaft. An Homöopathie eher weniger, finde aber, Homöopathie kann vermutlich auch nicht schaden.

Amazon findet wohl, zu Weihnachten wurde noch nicht genug gewünscht und verschenkt daher diese Anleitung zum erfolgreichen Wünschen. Dieser Pierre Franckh scheint ein umtriebiger Mensch auf diesem Gebiet zu sein und ich vermute mal, dass er vermutlich selbst daran glaubt, weil er scheint ja recht weit gekommen zu sein mit seinen Büchern, Vorträgen und so weiter. Im Buch beschreibt er, wie man sich alles Mögliche im Leben wünschen kann, wie man diese Wünsche am besten visualisiert und formuliert. Das Ganze wird angereichert mit begeisterten Leserbriefen von erfolgreichen Wunscheleven. Spannend ist, dass sich die meisten Leute wohl doch hauptsächlich materielle Werte wie Geld, Autos oder Urlaube wünschen. Oder zumindest war es für mich spannend, da ich mir im Normalfall mehr Zeit wünsche, weil der Tag immer zu wenig Stunden hat.

„… dann lehnt man seine Arbeit in Wahrheit ab. Man versucht, die Arbeit zu vermeiden. Man will ihr entkommen und fühlt sich gezwungen, die ungeliebte Tätigkeit zu verrichten, damit man seine Familie ernähren oder die Miete bezahlen kann.

Richtig ist, dass man durch seine eigenen Gedanken seine Wahrnehmung der Welt beeinflussen kann. Wer sich täglich widerwillig ins Büro schleppt, tut sich sicher nichts Gutes. Gleichzeitig ist es sicher schwer, in unserer wohlstandsverwöhnten Welt einen Job zu genießen, der nicht den eigenen Vorstellungen von einer spannenden Tätigkeit entspricht. Dabei habe ich mich jedoch kürzlich selbst erwischt. Obwohl ich meinen Beruf sehr gern mache, gibt es Tage, an denen es schwerfällt, das übliche Pensum zu absolvieren. Mit dem Job ist es wie so oft, man weiß ihn erst zu schätzen, wenn man ihn nicht mehr hat.

In Wahrheit lag es nicht an dem Medikament – das gar keines war –, sondern einzig und allein an unserem festen Glauben daran. Wir waren davon überzeugt, dass die Medizin wirken würde, und dieser starke Glaube hat bewusst und unbewusst all die Selbstheilungskräfte in unserem Körper mobilisiert. Wir haben unserem Körper mitgeteilt, „dieses Medikament wirkt“, und damit begann der Moment der Genesung.

Solange es um die oben erwähnte materielle Welt geht, soll das Wünschen ja für jeden ok sein. Aber in dem Moment, wo er anfängt, zu behaupten oder zumindest anzudeuten, Krankheiten würden durch destruktive Gedanken entstehen und man könnte sich selbst „gesund denken“ ist der Ofen echt aus. (Das Rechtschreibprogramm unterwellt mir übrigens das im obigen Zitat vorkommende Wort „Selbstheilungskräfte“.) Mir läuft es kalt den Rücken herunter, wenn ich mir vorstelle, dass leichtgläubige Menschen möglicherweise Therapien gegen Krankheiten abbrechen, weil sie in ihrer Verzweiflung glauben, sie könnten sich „gesund wünschen“. Sicher ist es besser, positiv zu denken und sich selbst den gesunden Zustand vorzustellen. Aber zu behaupten, man könne sich „gesund wünschen“ ist in meinen Augen pure Scharlatanerie.

Weiters bleibt die Frage offen, was der Autor den Lesern erzählt, die NICHT erfolgreich wünschen. Ich nehme mal an, die müssen selbst schuld sein. Entweder sie haben nicht richtig gewünscht, nicht richtig formuliert, nicht richtig losgelassen, nicht mit Leichtigkeit gewünscht (wie der Titel rät). Es muss viel geben, was man falsch machen kann, es bräuchte sonst wohl kaum so viele verschiedene Wunschratgeber von Pierre Franckh.

Für dieses Buch habe ich die neue Kategorie „Schmafu“ auf Books in the Fridge eingeführt. Ich hoffe, Pierre Franchks Leser wünschen sich weiterhin Parkplätze und Urlaube und vertrauen in medizinischen Dingen lieber Spezialisten auf diesem Gebiet. Entbehrlich.

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Sachbuch

Scott Belsky – Making Ideas Happen

My First Himbeere

… the key realization should be that everything in life is a project, and every project must be broken down into Action Steps, References and Backburner Items. It’s that simple.

Für mich war dies ein an sich richtiges und hilfreiches Buch zur falschen Zeit. Die Zeiten, da ich mich intensiv mit dem Managen von Projekten und den dazu notwendigen organisatorischen Elementen auseinandergesetzt habe, ist schon lange vorbei. Dazu soll gesagt sein, dass ich prinzipiell noch immer dem „Getting Things Done“ (GTD)-Prinzip von David Allen anhänge. Dabei benutze ich das Programm Things am Mac und am iPhone, wobei es mir am iPhone hauptsächlich als mobiler Notizzettel dient. Ich hänge noch immer am WiFi-Sync, weil ich mich mit Clouds im Allgemeinen noch nicht recht angefreundet habe. Ich schweife ab …

Im Bereich dieses Management-Themas konnte mir also Scott Belsky nichts wirklich Neues berichten, er verweist selbst auf David Allen. Weiters setzt er sich mit der Frage auseinander, wie Teams zusammengesetzt sein sollten, welche Persönlichkeiten es in erfolgreichen Firmen gibt und wie diese zusammenpassen. Dabei hat er mir immerhin eine ziemlich genau passende Schublade für mich selbst geliefert:

Doers don’t imagine as much because they are obsessively focused on the logistics of execution. Doers get frustrated when, while brainstorming, there is no consideration for implementation. Doers often love new ideas, but their tendency is to immerse themselves in the next steps needed to truly actualize an idea. While Dreamers will quickly fall in love with an idea, Doers will start with doubt and chip away at the idea unteil they love it (or, often, discount it). As Doers break an idea down, they become action-oriented organizers and valuable stewards. An idea can only become a reality once it is broken down into organized, actionable elements. If a brillant and sexy idea seems intangible or unrealistic, Doers will become skeptical and appropriately deterred.

Ich musste lächeln. Ich hasste Brainstorming von Anfang an. Ich war schon in der Schule eine von denen, die beim Brainstorming herumnervte, „warum sollen wir das aufschreiben, es gibt sowieso keine Dinosaurier in Korneuburg …“. Und heute finde ich mich auch oft als Spielverderberin wieder, die zu einem unverbesserlichen Dreamer ständig sagt, „aber da musst du zuerst …“ oder „das wird aber schwierig, wenn du nicht …“ oder „da müsstest du aber …“. Während die anderen träumen, habe ich immer schon die Umsetzbarkeit im Auge (bzw. Gehirn). Das Wissen darum hilft leider nur bedingt, man kann halt schlecht raus aus seiner Schublade.

Wer Motivation sucht, Tipps, um seine Projekte zu managen und viele Beispiele, wie erfolgreiche Firmenchefs Projekte leiten und ihre Teams zusammenstellen, ist bei Scott Belsky jedenfalls nicht falsch. Sein Behance-Network ist für Kreative aus der ganzen Welt jedenfalls eine interessante Anlaufstelle und ein Quell der Inspiration. Motivierend.

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Roman

Nicole Krauss – Kommt ein Mann ins Zimmer

Mohn

Ray klopfte noch einmal, und dann, wie auf Stichwort, wurde der Bildschirm schwarz, und es erschien ein dreidimensionales, durch den Raum rotierendes Gehirn, so lebendig, dass es realer schien als ein echtes, die Gehirnlappen voller leuchtender Signale einer regen Tätigkeit, abgelöst von jeder Konsequenz die reinen Denkbewegungen verfolgend, ohne Blut und ohne Atem, ohne ein schlagendes Herz, das ihnen die Richtung wies.

Samson hat sein Gedächtnis verloren. Er wird in der Wüste von Nevada gefunden, ohne zu wissen, wer er ist und wo er herkommt. Nach der Entfernung eines Gehirntumors erinnert er sich wieder an seine Kindheit, jedoch an nichts danach. Diese Erinnerungslosigkeit wird zuerst zur Zerreißprobe für Samson und seine Frau Anna. Es scheint unvermeidlich, dass diese beiden Menschen getrennte Wege gehen müssen, dass Samson ein neues Leben beginnen muss. Aber wie kann er Anna verlassen? Ohne Geld, ohne Beruf, nach allem, was sie für ihn getan hat?

Aber er fragte nicht, weil er unsicher war, ob er die Antworten wissen wollte. Er hatte das Gefühl, hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, es sei besser, sie nicht zu wissen.

Es tun sich immer mehr Fragen auf. Was bleibt vom Menschen, wenn er seine Erinnerungen verliert? Ist er dann ein neuer Mensch? Ist Samsons Vergangenheit nichts mehr wert, da er sich nicht daran erinnert? Zählt eine Erinnerung nur, wenn sie geteilt werden kann? Einerseits ja, andererseits nein. Es hat auch mit dem Leben an sich zu tun. Wir füllen unser Leben nach Möglichkeit mit Annehmlichkeiten und es bleiben uns dann mehr oder weniger Erinnerungen. Wenn die weg sind, hat man dann sein Leben vergeudet? Warum will Samson keine neuen Erinnerungen machen, warum nicht so schnell wie möglich etwas erleben?

In das Bewusstsein eines anderen einzudringen und dort eine Fahne aufzupflanzen war ein Verstoß gegen das Gesetz der absoluten Einsamkeit, auf dem dieses Bewusstsein beruhte. Es war eine Bedrohung, vielleicht sogar eine unwiderrufliche Beschädigung der lebenswichtigen Abgeschiedenheit des Selbst.

Durch seinen Arzt gelangt Samson an Ray, ebenfalls Arzt, der Experimente mit dem menschlichen Gedächtnis macht und in Samson eine leere Tafel sieht. Er will versuchen, die Erinnerung eines anderen Menschen in Samsons Gedächtnis zu transferieren. So langsam wird klar, dass es vielleicht doch um irgendwelche schlimmen Experimente mit dem menschlichen Gehirn geht. Oder? Vergessen ist schon ein kompliziertes Thema an sich. Warum setzt Samson sich diesem Risiko aus, ohne zu wissen, was ihn erwartet? Warum ist er dann überrascht, als ihn die Erinnerung eines anderen wie ein Elektroschock trifft und nicht mehr loslässt? Hat er nie geglaubt, es könnte funktionieren? Die Folgen – in jeder Hinsicht – werden ihm erst später klar. Ein aufrüttelnder Roman, der die Wichtigkeit von (geteilten) Erinnerungen eindrucksvoll hervorhebt.

Erst viel später, als es schon zu spät war, ging ihm der Terror des Ganzen auf: eine Zukunft, in der Gedächtnisse entführt werden konnten, in der die letzte, tiefste Intimsphäre ausgekundschaftet und an die Öffentlichkeit gezerrt werden konnte.

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Roman

Kazuo Ishiguro – Damals in Nagasaki

Margeriten

„So war mein Mann eben, Etsuko. Sehr streng, und sehr patriotisch. Er war nie besonders rücksichtsvoll. Aber er kam aus einer sehr angesehenen Familie, und meine Eltern hielten ihn für eine gute Partie. Ich habe mich nicht gewehrt, als er mir verbot, Englisch zu lernen. Es schien mir schließlich gar nicht mehr sinnvoll.“

Es ist eine seltsame Welt, die sich in diesem Roman entfaltet. Mich verstörte ziemlich von Anfang an die Distanz, mit der die Autorin die Geschehnisse schildert. Durch die unterschiedlichen Zeitebenen – die Mutter Etsuko mit ihrer Tochter Niki in England, die junge Etsuko, schwanger mit ihrem ersten Kind in Japan, hoffnungsvoll in die Zukunft blickend – scheint die Hauptfigur Etusko in Distanz zu ihrem eigenen Leben zu stehen. Wie man es vielleicht in so einer Situation – mehr als 20 Jahre später, am anderen Ende der Welt lebend – selbst empfinden könnte.

Seit Langem habe ich wieder ein Buch vom Wühltisch gekauft, im Kurzurlaub in Klagenfurt. Angezogen hat mich der bunte Umschlag, dann der Titel, japanische Kultur hat ja auf die Nerdgemeinde seit Längerem eine große Anziehungskraft und ich schließe mich da selbst nicht aus. Es scheint Japan in vielem eine andere Welt zu sein. Die hohe Selbstmordrate, die hohen Ansprüche, die die Menschen an sich selbst stellen, die Höflichkeit, ständige Achtsamkeit, um nur niemanden zu beleidigen. Selbst im Streit vollkommene Umgangsformen zu bewahren, das kennt man in Europa und speziell in Österreich so nicht. Diese Höflichkeit prägt in zweiter Linie die Geschichte in diesem Buch.

Der Klappentext verspricht schließlich, dass Etsuko „sich ihrer Vergangenheit stellen“ muss, das konnte ich jedoch im Buch eher nur in der Theorie erahnen. „Erschüttert taucht sie ein in eine Welt der Erinnerungen, Träume und Illusionen und blickt zurück auf die Zeit damals in Nagasaki, nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Welt, die sie kannte, in Trümmern lag …“. Von diesen Trümmern bekommt man als Leser nicht recht viel mit, auch der Konflikt, wegen dem Etsuko schließlich Japan verlassen hat, wird nur angedeutet. Probleme werden nicht thematisiert, selbst in emotionalen Momenten ist Zurückhaltung angesagt. In diesem Sinn ist das Buch vielleicht authentisch, vielleicht aber auch nicht. Als Außenstehender kann man das nicht beurteilen. Und so mag die Geschichte Einsichten liefern oder auch nicht. Kryptisch.

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Sachbuch

Stefan Bonner – Heilige Scheiße

Wiesenpflanzen

Während weltweit die Zahl der 2,1 Milliarden Christen wächst, kündigen hierzulande jedes Jahr Hunderttausende ihr Abo mit der Paradiesprämie. Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus, und das seit vielen Jahrzehnten.

An diesem ersten Zitat wird im Endeffekt schon sehr deutlich, worum es hier geht: Stefan Bonner setzt sich mit dem Christentum und anderen Religionen auseinander und das in saloppem Ton, der vermutlich ein Kniefall vor dem Verlag darstellt, der ein trockenes Buch zum Thema Religion vielleicht nicht veröffentlichen hätte wollen. Er mokiert sich zu Anfang über die Probleme der christlichen Kirchen wie den anhaltenden Strom an Austritten sowie den familiären Automatismus, ohne den nach seiner Ansicht die christlichen Kirchen schon lange leer wären.

(über das Glaubensbekenntnis)
Wer daran zweifelt, müsste sich streng genommen vom kirchlichen Glauben abwenden. Dann wären unsere Kirchen vermutlich noch leerer, als sie es ohnehin schon sind – und auch der ein oder andere Platz auf der Kanzel wäre nicht mehr besetzt.

Neben dem christlichen Glauben beschäftigt sich der Autor auch mit allerlei „Modereligionen“. Er betrachtet etwa Steve Jobs als einen „modernen Heiligen“. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die wenigsten Apple User sich tatsächlich als „Apple-Jünger“ verstehen. Fitness- und Wellnesstrends tatsächlich als Religionen zu interpretieren macht den Autor und sein Werk in höchstem Maße unglaubwürdig. Es ist am Ende keine seriöse Auseinandersetzung mit dem Glauben an sich sonder eine in reißerischem Tonfall geschriebene Reportage, die in News besser beheimatet gewesen wäre. Auch der tatsächliche Inhalt hätte in ein Reportageformat gepasst.

Er offenbarte uns das iPad. Bei jedem neuen Produkt belagern seine Jünger die Applestores weltweit wie die Gläubigen den Petersplatz bei der Papstansprache. „Believe in Steve“, singt der Klavierkabarettist Bodo Wartke.

Auch die Zielgruppe des Buchs ist unklar. Gläubige werden sich vor den Kopf gestoßen fühlen, dem Glauben Fernstehende interessieren sich nicht für solche Themen. Am Ende bleibt noch dazu die weise Einsicht, dass jeder seine Überzeugungen hinterfragen und sich selbst entscheiden sollte, was er glauben will. Zu diesem weisen Schluss hätte es kein ganzes Buch voller Platitüden gebraucht.

Wir haben die Wahl: Wählen wir aus Bequemlichkeit ein eingeführtes Produkt – oder hinterfragen wir unsere Überzeugungen, bevor wir an sie glauben?

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Roman

Cornelia Travnicek – Chucks

Denkmal auf der Donauinsel vor dem Millenium Tower in Wien

Sie seien gegen die Traurigkeit, sagte meine Mutter. Der süße Nachgeschmack, kurz und intensiv, verbreite sich in meinem Mund immer genau in dem Moment, wenn sie die Tür schloss und es plötzlich dunkel in meinem Zimmer war. Aurum metallicum. In meinen Träumen nahmen die Globuli den Platz eines fremdländischen Zaubermittels ein, magische Kügelchen aus einem Land, in dem es sicherlich auch fliegende Teppiche und Wunderlampen gibt.

Die Ich-Erzählerin in Cornelia Travniceks berührendem Roman Chucks lebt ein bewegtes Leben. Bewegt ist auch die Erzählung desselben, sie springt zwischen verschiedenen Zeitebenen nahezu willkürlich herum. Und doch fügt sich das Bild zu einem harmonischen Ganzen. Der Tod des Bruders prägt die junge Frau entscheidend. Das scheinbar von Zwängen freie Leben der Aussteigerin Tamara, die in U-Bahnen und abbruchsreifen Häusern lebt, übt eine Anziehungskraft auf die Protagonistin aus, die nicht weiß, was sie vom Leben will.

„Im Falle eines Unfalles“, wiederhole ich mit affiger Stimme. Ich sehe schon einen Baum näher kommen, sehe, wie sich die Schnauze des Autos langsam, wie bei den Crashtests im Fernsehen, zusammenfaltet, sehe, wie die Airbags sich aufblasen und auf einmal da sind, wie meine Füße nach oben geschleudert werden, meine Nase ein blutiges Loch ist. Warum sich die lange Mitte unseres Lebens immer um den unvermeidlichen Anfang und das zu vermeidende Ende dreht.

Wer hat sich noch nicht vorgestellt, das Schlimmstmögliche würde nun eintreten und sich die grausigen Folgen ausgemalt? Ich denke, es wird vielen Lesern so gehen, dass sie ein oder mehrere Situationen auch schon erlebt haben. Obwohl das Schicksal der Protagonistin aus bekannten Versatzstücken zu bestehen scheint, langweilt man sich nie, auch wenn man Bekanntes findet. Der Druck, das Leben nutzen und möglichst sinnvoll befüllen zu müssen, kann jeden mal dazu treiben, den Ausstieg zu suchen und einfach zu gehen. Viele widerstrebende Gefühle werden so thematisiert und die Beschäftigung mit einem langsamen und quälenden Sterben könnte kaum gleichzeitig so distanziert und lebensnah beschrieben werden. Und wenn das noch nicht reichen sollte, dann sollten es alltagspoetische Sätze wie dieser tun:

Neben unseren Füßen zieht eine leere Fast-Food-Verpackung vorbei wie urbanes Tumbleweed.