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Memoir

Glynnis MacNicol – No One Tells You This

… knowing I was fortunate did not make the plate before me any more palatable. … it was a truth universally acknowledged that by age forty I was supposed to have a certain kind of life, one that, whatever else it might involve, included a partner and babies.

In diesem Buch beleuchtet Glynnis MacNicol ihr Leben und ihre Gefühlswelt kurz vor und nach ihrem 40. Geburtstag. Es ist eine intensive Auseinandersetzung mit den Erwartungen, die die Gesellschaft an Frauen stellt. Diese Erwartungen verändern sich mit dem Verlauf des Alterungsprozesses. Im Alter von 40 Jahren ist eine Frau entweder mit Partner und Kindern versorgt oder verzweifelt – so die Annahme. Dazu finden sich im Buch jede Menge Beispiele wie etwa ältere Damen, die der Autorin bescheinigen, dass es für sie noch nicht zu spät sei, es sei immer noch Zeit.

Gleichzeitig stellt Glynnis MacNicol fest, dass Frauen, die das haben, was ihr selbst gerade in ihrem Leben fehlt (oder nach den gesellschaftlichen Vorgaben fehlen sollte), genauso unzufrieden mit ihrem Leben sind. Partner, Kinder, Haus, Beruf – selbst Frauen, die in allen diesen Bereichen auf der Erfolgsseite stehen, scheinen nicht (immer) glücklich zu sein. Das Leben ist hingegen ein Auf und Ab aus besseren und schlechteren Zeiten, völlig unabhängig von den aktuellen Lebensumständen.

I think they’re told they aren’t allowed to be unhappy when they have the only two things women are supposed to want.

Ein Jahr nach ihrem 40. Geburtstag hat sich Glynnis MacNicol mit ihrem Leben ausgesöhnt. Es gibt ein Leben jenseits der klassischen Lebensmodelle. Nach Plan verläuft das Leben sowieso nicht, da können wir uns genauso gut unser eigenes Lebensmodell ausdenken. Oder ausprobieren. Und wenn es nicht funktioniert: ein anderes ausprobieren.

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Roman

Jennifer Zeynab Joukhadar – The Map of Salt and Stars

She said to her daughter, “Every place you go becomes a part of you.” – ” But none more so than home.” Rawiya meant this more than anything else she’d said.

Zwei miteinander verwobene Geschichten werden in diesem Buch erzählt. Beide beschäftigen sich mit dem Verlauf einer Reise und trotzdem hat dieses Buch nichts von einem Roadmovie an sich. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des Mädchens Nour. Nour ist in New York geboren und aufgewachsen, nach dem Tod ihres Vaters kehrt die Familie in ihre Heimat (?) Syrien zurück und lebt in Homs, bis das Haus von einer Bombe getroffen wird. Nour muss mit ihrer Mutter, ihrem Onkel und ihren beiden Schwestern fliehen. Auf der Flucht wird die Familie getrennt und Nour zweifelt immer mehr daran, ob es für sie jemals wieder ein sicheres Zuhause geben wird.

“No one is like everybody else.“ Abu Sayeed taps the tips of his fingers to the railing. “All the stars are different, but when you look up, you see them just the same.”

Parallel wird die Geschichte des Mädchens Rawiya erzählt, die sich im 12. Jahrhundert als Mann ausgibt, um in die Dienste des Kartenmachers al-Idrisi zu treten. Nour hat Rawiyas Geschichte von ihrem Vater erzählt bekommen und hält damit die Erinnerung an ihn wach. Rawiya beweist in unzähligen Situationen ihren Mut und rettet die Expedition sowieso das Werk des Kartenmachers al-Idrisi mehr als einmal. Sie lässt sich durch nichts aufhalten und gibt nicht auf – und findet schließlich den Weg zurück zu ihrer Familie.

The farther I go, the bigger the world seems to be, and it always seems easier to leave a place than it is to come back.

Der Titel lässt eine gewisse Romantik vermuten, viele Teile der beschriebenen Flucht von Syrien bis nach Spanien sind jedoch das absolute Gegenteil. Da es sich hier um einen Roman handelt, der aus der Sicht eines Kindes erzählt wird, können wir davon ausgehen, dass die Realität der Kriegsflüchtlinge noch viel schlimmer ist, als hier beschrieben.

Es macht mich sprachlos, dass so viele Politiker nach wie vor ruhig schlafen, während täglich Menschen im Mittelmeer ertrinken, Rettungsschiffe am Auslaufen gehindert und freiwillige Helfer kriminalisiert werden. Noch immer lässt mich der Gedanke nicht los an die entfernte Bekannte, die ich nach einem Segelurlaub im Mittelmeer im Gespräch mit anderen habe erzählen hören, sie habe sich Sorgen gemacht, sie könnten auf Flüchtlingsboote treffen, denn dann müssten sie die ja auch noch mitnehmen. Gerade bei Menschen, die so viel haben, denen es in ihrem Leben an nichts fehlt, kann ich diese Haltung nicht nachvollziehen. Menschlichkeit wäre das Gebot der Stunde.

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Roman

Nina LaCour – We Are Okay

I used to cry over a story and then close the book, and it all would be over. Now everything resonates, sticks like a splinter, festers.

Einer der Nachteile an digitalen Büchern ist ja, dass man vorher nicht abschätzen kann, wie lange sie sein werden. Nach den ersten paar Seiten schaue ich meist, wieviel Prozent ich bereits gelesen habe und das gibt mir dann einen Hinweis, wie lang das Buch wohl sein wird. Bei diesem Buch stellte ich fest, dass es überraschend kurz ist und trotzdem werden so viele unterschiedliche Themen behandelt, die für Jugendliche relevant sein können (Anders-Sein, zwischen freundschaftlichen und romantischen Gefühlen unterscheiden, Unsicherheit über die eigene Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung, Zugehörigkeitsgefühl, Einsamkeit, …).

Der Leser lernt die Hauptperson Marin kennen, die gerade an ihrem College alleine die Winterferien beginnt, weil sie (scheinbar) keine Familie hat, mit der sie die Weihnachtsferien verbringen kann. Stück für Stück erfährt der Leser vom komplizierten Verhältnis zur besten Freundin Mabel, dem Geheimnis von Marins jüngst verstorbenem Großvater und der großen Einsamkeit, die so schwer auf Marin lastet, dass sie niemanden mehr an sich heranlassen kann.

Das Ende kommt überraschend und hat zumindest bei mir das Gefühl hinterlassen, dass auch die dunkelsten und einsamsten Tage vorbeigehen und es immer einen Weg gibt.

Everything’s a gift and we’ll be alright.

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English Roman

Adam Haslett – Imagine Me Gone

If you think of memory not just as looking back but as being aware of time and how it passes and what the passage of it feels like, then there is something about being in motion that does cause it.

Dieser Roman thematisiert psychische Krankheit und wie sie sich nicht nur auf die betroffene Person sondern auch auf die Angehörigen auswirkt am Beispiel einer Familie. Die Betroffenen sind hier zuerst der Vater und später der älteste Sohn. Die Mutter hat zuerst mit der Krankheit ihres Partners zu kämpfen, sie trägt die Last auf ihren Schultern, die Familie zusammenzuhalten und macht es sich zur Aufgabe, die Kinder vor der Realität der nicht näher bezeichneten Krankheit des Vaters zu beschützen. Die Kinder bekommen natürlich trotzdem mit, dass etwas nicht stimmt und suchen sich ihre eigenen Wege, um mit dem abwesenden Vater klarzukommen.

Während Celia und Alec ihren Weg finden, wird Michael im Erwachsenenalter selbst von Angstzuständen und Panikattacken gequält. Seine Familie wünscht sich einerseits, dass es ihm besser geht, findet aber andererseits keine Möglichkeit, ihn zu verstehen und tatsächlich zu unterstützen. Die medikamentöse Behandlung bringt immer nur kurze Phasen der Linderung, bis sich der Körper an das Medikament gewöhnt. Der verwirrte Geisteszustand und die verzerrte Wahrnehmung von Michael werden durch ein ausführliches Therapieprotokoll verdeutlicht.

Letztendlich versuchen alle drei Geschwister, in ihrem Leben etwas zu finden, das ihnen zurückgibt, was sie an ihrem Vater verloren haben. Die Geschichte findet auch hier einen Mittelweg, um zu illustrieren, dass enge Beziehungen einerseits essentiell für die geistige Gesundheit und das persönliche Wachstum sind, aber andererseits auch nicht als Heilmittel für psychische Krankheiten dienen können. Diese trocken formulierte Botschaft versteckt sich zwischen den Zeilen dieser anrührend, aber nicht kitschig verfassten Familiengeschichte.

Depending on the hour, the insight either maddens or clarifies, sending you into despair, or clearing your vision by releasing you from the bonds of hope.

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Roman

Elizabeth Strout – My Name is Lucy Barton

It was the sound of my mother’s voice I most wanted; what she said didn’t matter. And so I listened to the sound of her voice; until these past three days it had been a long time since I had heard it, and it was different.

Im Zuge eines 9-wöchigen Krankenhausaufenthalts reflektiert die Titelfigur Lucy Barton über ihr Leben. Ihr Mann besucht sie nur sehr ungern im Krankenhaus, die Kinder sind eingeschüchtert vom Aussehen der kranken Mutter. Eine Überraschung ist der Besuch von Lucys Mutter, mit der sie in den vergangenen Jahren kaum Kontakt hatte. Aus den Gesprächen und den Analysen der Gespräche zwischen Mutter und Tochter erfährt der Leser von den ärmlichen Verhältnissen, in denen Lucy aufwuchs, von der Abhängigkeit, der mangelnden Wärme und Liebe der Elteren, des täglichen Überlebenskampfs der Armut. Diese Faktoren prägen Lucys Leben mit ihrem Ehemann und ihren Kindern und formen ihre Perspektive auf die Welt.

In den Erzählungen springt sie zwischen Zeitebenen hin und her und erzählt teilweise auch Episoden, die erst lange nach diesem Krankenhausaufenthalt, der als eine Art Zäsur, als Wendepunkt in ihrem Leben fungiert, stattfinden. Die Begegnung mit einer Autorin, bei der Lucy später einen Schreibworkshop absolviert, inspiriert sie dazu, sich mit ihrem Leben schreibend auseinanderzusetzen. Diese Aufarbeitung ermöglicht ihr schließlich das Aufbrechen verinnerlichter Perspektiven und einen neuen Blick auf ihr Leben.

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Roman

Melinda Taub – Romeos Schatten

Fast konnte sie Julias Geist über sie lachen hören.

Die Ausgangsfrage klingt spannend und das dürfte auch der Grund sein, warum ich dieses Buch so ewig lange auf der Liste hatte: Was passiert in Verona nach dem Tod von Julia und Romeo? Herrscht tatsächlich Friede zwischen den verfeindeten Familien Montague und Capulet? Oder erzeugen die Rachefantasien erst recht neue gewalttätige Auseinandersetzungen?

Aus diesen Voraussetzungen mischt die Autorin eine Suppe zusammen, die nach Glitzer, Blumen und Schwertkämpfen schmeckt. Eine Teenie-Romanze mit politischem Hintergrund, Streben nach Macht und Rache als würzendes Beiwerk. Ein klassisches Erzählmuster mit überraschenden Wendungen. Es ist anzunehmen, dass die deutsche Übersetzung insgesamt so schlecht ist wie der übersetzte Titel (englischer Originaltitel: Still Star-Crossed). Warum dem verstorbenen Romeo im deutschen Titel so viel Prominenz eingeräumt wird, obwohl in diesem Sequel starke Frauenfiguren (in unterschiedlichen Ausprägungen) dominieren, bleibt ein Rätsel.

Zurück bleibt die Freude darüber, dass selbst Bücher, die jahrelang aufgrund diverser Einschränkungen nicht verfügbar waren, irgendwann einmal auftauchen. Außerdem kommt auch für Bücher dieses Kalibers irgendwann der richtige Zeitpunkt. Für gehaltvollere Literatur hätte ich gerade ohnehin keine Energieressourcen übrig gehabt.

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Roman

Jessica Verdi – And She Was

Those of us who worry we may be alone in our feelings and realities often find comfort and strength in seeing ourselves reflected in the page of a novel. And those of us who are seeking to understand other viewpoints are given the opportunity to connect with characters in novels and get a glimpse of the world through someone else’s eyes.

Das obige Zitat (nicht aus dem Buch selbst, sondern aus der Author’s Note am Ende) beschreibt sehr gut, warum ich dieses Buch lesen wollte und warum es wichtig ist, dass es solche Bücher gibt. Erst, wenn man bewusst darauf schaut, fällt einem auf, wie wenig Transgender-Personen in Literatur und anderen Medien repräsentiert sind. Das hat sich zwar in den letzten Jahren verändert, aber es sind oft noch die spektakulären Geschichten, Menschen, die aus anderen Gründen Berühmtheit oder Bekanntheit erlangen.

Das Buch erzählt, wie Dara herausfindet, dass ihre Mutter Transgender ist, und eigentlich ihr biologischer Vater. Die 18-Jährige ist schockiert und gekränkt, und macht sich auf den Weg, um die Familie ihrer lange verstorbenen biologischen Mutter kennenzulernen. Im Verlauf der Reise verändert sich ihre Einstellung zum Thema und Stück für Stück lernt sie, ihre Mutter besser zu verstehen. Der Autorin gelingt es dabei, verschiedene Perspektiven auf das Thema Transgender einfließen zu lassen und aufzuklären, ohne den pädagogischen Zeigefinger in den Vordergrund zu stellen.

Die Empfehlung kam von Parnassus. Kürzlich habe ich auf Anfrage den Tipp bekommen, dass man für die Overdrive eLibrary der Büchereien Wien auch Medienwünsche abgeben kann und dieses Buch wurde auf meine Anfrage bestellt. Damit hat sich die Quellensammlung für Bücher nochmals erweitert, vermutlich müsste ich niemals wieder Bücher kaufen. Und hab diese Woche trotzdem schon zwei gekauft …

Das folgende Zitat stammt aus einem Lithub-Artikel und passt auch gut zum oben angesprochenen Thema:

Developing the deepest forms of reading cannot prevent all such tragedies, but understanding the perspective of other human beings can give ever fresh, varied reasons to find alternative, compassionate ways to deal with the others in our world, whether they are innocent Muslim children crossing treacherous open seas or an innocent Jewish boy from Boston’s Maimonides School, all killed miles and miles away from their homes.

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Roman

Ayobami Adebayo – Stay With Me

Women manufacture children and if you can’t you are just a man. Nobody should call you a woman.

Dieses Buch erzählt eine komplexe Familiengeschichte in Nigeria. Zentral ist das Dreiecksverhältnis zwischen der Haupterzählerin Yejide, ihrem Ehemann Akin (Teile des Buches werden auch aus seiner Sicht erzählt) und Akins Bruder Dotun. Eine wichtige Rolle spielen jedoch auch die Eltern der Protagonisten, speziell Akins und Dotuns Mutter, die einen enormen gesellschaftlichen Druck über ihre Schwiegertochter heraufbeschwört. In dieser Gesellschaft gilt eine Frau nur solange etwas, wie sie ihrem Mann Kinder schenkt. Geschieht das nicht, wird dem Mann eine Zweitfrau (oder Drittfrau oder Viertfrau) zur Seite gestellt (von den Eltern des Mannes).

A man is not something you can hoard to yourself; he can have many wives, but a child can have only one real mother. One.

Yejide droht unter dem eigenen Kinderwunsch, der Angst, ihren Mann zu verlieren und dem Druck der Schwiegermutter zusammenzubrechen. Akin, der keine Zweitfrau möchte und sich nur grollend den Anforderungen seiner Mutter fügt, findet schließlich eine andere Lösung, um die Kinderlosigkeit und damit Yejides Leiden zu beenden. Eine Lösung, die alle drei Betroffenen jedoch noch lange beschäftigen wird.

The reasons why we do the things we do will not always be the ones that others will remember.

Das Thema des Verlustes und der Angst davor zieht sich durch all die beschriebenen Jahre in dieser Geschichte. Können wir uns eines Menschen überhaupt sicher sein? Wieviel Schmerz und Verlust kann ein Mensch aushalten und sich trotzdem immer wieder auf neue Beziehungen und damit das erneute Risiko eines Verlustes einlassen? Das Buch wirft auch Fragen über unerfüllten Kinderwunsch auf. Welche Mittel sind zulässig, um ein Kind in die Welt zu bringen? Welche Moralvorstellungen werden über Bord geworfen, um neues Leben in die Welt zu setzen? Kann aus einer Tat, die aus falschen Motiven begangen wurde, trotzdem etwas Gutes entstehen? Fragen, die noch lange nach den letzten Worten dieses Buches in der Leserin nachklingen.

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Roman

Katherine Dunn – Geek Love

Jeder Versuch, diese Geschichte in kürzere Worte zu fassen, als exakt die Worte, die das Buch lang ist, muss unweigerlich scheitern. Mehr Einleitung sollte es hier nicht brauchen.

Das Buch erzählt auf zwei Zeitebenen die Geschichte der Familie Binewski, die als [Zirkus|Karneval|Freak Show] durch die USA reist. Die Eltern Al und Lil – beide als Normalos geboren. Die Kinder – jedes auf seine eigene Art besonders, im Sinne von nicht der Norm entsprechend. Die Vorzeichen sind hier umgekehrt: Besonders zu sein bedeutet herausragend, Normalsterbliche werden bedauert, die Binewski-Kinder haben kaum Kontakt zu Menschen außerhalb ihrer kleinen Welt.

Daraus resultiert auch ein besonderes Moralverständnis. Die Binewski-Kinder wetteifern um die Gunst des Publikums und der Eltern. Sie haben nur einander und das Publikum. Arturo, der älteste Bruder – geboren ohne Arme und Beine und als Aqua Boy berühmt geworden – entwickelt sich Stück für Stück zum Diktator, der seine Geschwister tyrannisiert und seinen eigenen Kult gründet. Eine Religion für Menschen, die so sein wollen wie er. Also ohne Arme und Beine. Abhängig von der Hilfe anderer.

Eines der Elemente, das diesen Roman gleichzeitig so furchterregend und spannend macht, ist die Leichtigkeit, mit der schlimmste Körperverletzungen als normal beschrieben und nicht hinterfragt werden. Experimente an menschlichen Körpern gehören zum Alltag. Der Familienzusammenhalt steht über allem. Bis zu dem Tag, als das Maß voll ist und der jüngste Bruder explodiert …

Ein besonderes Buch, mehr kann ich nicht sagen. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich auf diese schräge Welt einlassen konnte. Es ist notwendig, aber gleichzeitig schwierig und schmerzhaft, die vermeintliche Normalität hinter sich zu lassen und die veränderten Gesetze einer anderen Gesellschaft zu akzeptieren. Normalität ist immer das, was der Einzelne kennt. Normalität ist das Gegenteil des Unbekannten.

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Memoir

Susan Faludi – In the Darkroom

Einen traditionellen Jahresrückblick wird es auch in diesem Jahr nicht geben. Die Umstände haben dazu geführt, dass ich deutlich weniger Zeit zum Lesen hatte als erhofft. Eine interessante Idee musste ich jedoch verfolgen und ich kam zu einem sehr erfreulichen Ergebnis: Etwa die Hälfte aller Bücher, die ich 2017 gelesen habe, stammten aus der Bücherei Wien. Obwohl ich auch 2017 wieder einige Bücher gekauft habe (kaufen musste!), ist das Angebot so breit gefächert, dass ich auch immer wieder Empfehlungen von Lithub in der Bücherei finde. Auch das im Folgenden besprochene Werk gehört dazu.

„People can’t survive without categories. Even people on the fringes need categories, so they can be on the fringes. You have to have an identity.“

Dieses Buch hat sich als eine große Herausforderung erwiesen. Auf einer Ebene erzählt die Autorin die Lebensgeschichte ihres Vaters. Auf einer anderen Ebene erzählt sie jedoch, wie sie ihren seit ihrer Kindheit abwesenden Vater kennenlernt. Sie lernt jedoch nicht nur ihren Vater kennen, sondern eine neue Person, die ihr Vater geworden ist. Er hat eine Geschlechtsumwandlung vornehmen lassen und lebt nun als Frau. Als ob diese Konstellation nicht schon genug für ein einziges Leben wäre, entstammt diese Person auch noch einer jüdischen Familie, hat im 2. Weltkrieg in Ungarn überlebt und sich danach in Dänemark, Brasilien und Amerika ein neues Leben aufgebaut. Und hat Jahrezehnte später ihre Familie verlassen und ist in ihre ungarische Heimat zurückgekehrt. Dass es der Autorin gelungen ist, all diese Facetten in ein Bild zu fassen, ist allein schon eine Meisterleistung.

„Identity is“–she deliberated–„it’s what society accepts for you. You have to behave in a way that people accept, otherwise you have enemies. That’s what I do – and I have no problems.“

Die Erzählung wechselt von persönlichen Momenten wie etwa intimen Kindheitserinnerungen zu Rückblicken in die Zeit des 2. Weltkriegs. Der Vater soll seine Eltern vor der Deportation ins KZ bewahrt haben. Die Autorin forscht nach entfernten Verwandten und findet neue Perspektiven auf die Erzählungen ihres Vaters, aber oft auch die Bestätigung seiner Geschichten, an denen sie zweifelt. Das ist nicht der Vater, den sie in Erinnerung hat. Sie beschreibt einen Kennenlernprozess, wie er nur möglich ist, wenn sich zwei Menschen tatsächlich aufeinander einlassen. Ein Aufeinandereinlassen, dass dem Vater erst möglich ist, da er nun als Frau lebt.

„Before, I was like other men“, she said. „I didn’t talk to other people. Now I can talk to anybody.“

Neben der familiären, persönlichen Ebene scheut die Autorin aber auch nicht vor der politischen Ebene zurück. Sie untersucht nicht nur die Situation der ungarischen Juden während des 2. Weltkriegs sondern analysiert auch die sich im neuen Jahrtausend entwickelnde Rechtsregierung unter Viktor Orban. Die Parallelen, die sich dabei auftun, sollten uns um die Freiheitsrechte jedes Einzelnen fürchten lassen. Es geht dabei nicht nur um Antisemitismus oder Vorurteile gegen LGBT+ Personen. Jeder ungarische Bürger ist davon betroffen und genau diese politische Richtung vertritt jetzt auch die österreichische Regierung.

„Hungary is a very normalizing society, more than others, and it’s definitely not inclusive“, she told me. „Hungary has this very tragic self view–’We are special because we are the losers of history’. And that self-pitying mentality doesn’t lend itself to being welcoming to people who are different.“

Dieses Buch ist keine einfache Lektüre, aber die intensive Auseinandersetzung mit dem Konzept Identität (was macht die Identität eines Menschen aus? Religion, Geschlecht, Herkunft? welche Faktoren bestimmen eine jüdische Identität, eine weibliche, eine ungarische?) ist jeden einzelnen Buchstaben wert.