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Graphic Novel

Koren Shadmi – Love Addict

CN dieses Buch: häusliche Gewalt (Werfen und Zerstören von Gegenständen), sexuelle Handlungen (grafisch dargestellt), Alkohol- und Drogenmissbrauch, Sexismus, Fat Shaming
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Leider lässt mich meine Dokumentation erneut im Stich, ich kann nicht nachvollziehen, auf welchem Weg diese Graphic Novel auf meiner Liste gelandet ist. Jedenfalls landete ich heute nach meinem Besuch im Theatermuseum (siehe Bericht weiter unten) in der Bücherei-Zweigstelle Schwendermarkt. Nach der schnellen vor-Ort-Lösung eines (satirischen) Literatur-Geocaches konnte ich das Buch aus der Bookmarkliste in der Büchereien-App, das ich mir vorgemerkt hatte, nicht finden und nahm mir noch Zeit, in meine Tabelle zu schauen, in der ich interessante Bücher verzeichne. Da fand ich dann dieses Werk, das in dieser Zweigstelle auch verfügbar war. Das andere Buch konnte ich dann mit Unterstützung des Personals auch ausfindig machen (Pro-Tip: die Krimis haben oft ein Extra-Regal und sind nicht bei den Romanen einsortiert).

Die Graphic Novel befasst sich mit den Risiken und Nebenwirkungen des Online Datings. Protagonist K. lässt sich nach einer gescheiterten Beziehung von seinem Mitbewohner zu einem Account auf einer Online-Dating-Plattform überreden. Nach ein paar enttäuschenden Dates (Klischees wie zB die Frau ist hasserfüllt und betrunken, die Frau sieht ganz anders aus als auf dem Foto, die Frau ist sehr kapitalistisch orientiert und sehr unsympathisch) scheint sich das Schicksal zu wenden. K. gewinnt Selbstvertrauen durch einige positive Dating-Erfahrungen und rutscht in eine Abhängigkeit ab, die dazu führt, dass er ständig neue Frauen kennenlernen will, sie zunehmend miteinander verwechselt und er schließlich mit einem Filmriss im Zimmer einer rothaarigen Unbekannten mit Postern der Musicals Cats, Wicked und Rent an den Wänden aufwacht (diese Seite hat mir persönlich gut gefallen).

Die Geschichte nimmt einen erwartbaren Lauf, K. erkennt schließlich, dass ein weiterer schöner Körper im Bett ihn nicht glücklich macht. Sexismus lässt sich in den vielen Zeichnungen nackter Frauen sicher sehen, die meisten Frauen werden eindimensional und stereotypisch dargestellt. Irgendwie blieb bei mir ein etwas schaler Geschmack zurück, auch wenn die Moral von dieser Geschichte natürlich von Anfang an offensichtlich ist.


Theatermuseum mit dem bunten Plakat zur Ausstellung Austropop, dahinter der Kirchturm der Augustinerkirche

Im Theatermuseum ist aktell und noch bis 4. September 2023 die Sonderausstellung Austropop zu sehen. Den Untertitel Von Mozart bis Falco finde ich gelinde gesagt irreführend, denn diese Formulierung suggeriert, dass mit dem Tod von Falco vor nunmehr fast 25 Jahren der Austropop (s)ein Ende gefunden hätte. Natürlich sind gerade diese beiden Protagonisten der österreichischen Musikszene international bekannt und eignen sich daher als Zugpferde für die Ausstellung. Aber zum Glück beschränkt sich die Ausstellung nicht nur auf diese beiden Persönlichkeiten, sondern versucht, die Entwicklung des Austropop nachzuzeichnen und jeder Epoche ihre eigene Bedeutung zukommen zu lassen.

mehrere Schallplatten-Cover auf einem Pop-Art-Wand-Hintergrund mit sich überlappenden Kreisen in rot-orange-Farbtönen

Einen eigenen Raum nehmen auch die in Wien uraufgeführten Musicalproduktionen ein, die teilweise auch direkte Austropop-Verbindungen aufweisen. Dazu zählen etwa die Musicals Mozart! und Schikaneder, deren Hauptfiguren direkt der Austropopgeschichte entstammen. Die Musicals Ich war noch niemals in New York und I am from Austria hingegen erzählen eine erfundene Geschichte untermalt mit der Musik bekannter Austropopgrößen wie Udo Jürgens und Rainhard Fendrich. Neben Szenenfotos aus den Musicals sind auch Programmhefte, Kostümzeichnungen sowie Kostüme ausgestellt.

5 Kostümzeichnungen aus dem Musical Elisabeth, darüber zwei Plakate der japanischen Produktionen von Elisabeth und Mozart

Neben dieser Sonderausstellung gibt es auch eine kleinere Dokumentation zu Richard Teschner (1879–1948) zu sehen. Im Figurentheater sah er „die Möglichkeit der Überwindung herkömmlicher (theatralischer) Ausdrucksformen“ (Zitat aus der Ausstellung). Mit der Entdeckung javanischer Stabpuppen fand er schließlich einen Weg, seine Vorstellungen von Theater und Poesie umzusetzen. Dies führte er zuerst in einer Guckkastenbühne namens „Der Goldene Schrein“ aus. Aufgrund der beengten Platzverhältnisse entwickelte Teschner in weiterer Form seinen „Figurenspiegel“, „auf dem ab 1932 hinter einer kreisförmigen, konkaven Glasscheibe gespielt wird. Hier sollte er alle ihm zur Verfügung stehenden Techniken (Projektionen von chemischen Prozessen, Lichteffekte, Rückprojektionen, Verfeinerung der Technik der Figuren etc.) noch einmal exzessiv erweitern“ (Zitat aus der Ausstellung). Die hinter Glas ausgestellten Stabpuppen sind leider sehr schwer zu fotografieren, auf der Webseite des Theatermuseums zu dieser Austellung gibt es jedoch einige schöne Aufnahmen zu sehen.

Goldener Schrein, Guckkastenbühne für Stabpuppen mit halb geschlossenen Türen und reichlich goldener Verzierung

Im zweiten Stock fand ich dann noch eine kleine Ausstellung mit dem Namen Spielräume, die sich mit verschiedenen Bühnenformen befasst. Modelle illustrieren einen Vergleich der verschiedenen Bühnenformen und ihrer Eigenschaften. Die Simultanbühne wird etwa heute bei den Musicalaufführungen auf der Felsenbühne Staatz eingesetzt. Die breite Bühne weist verschiedene Schauplätze auf, die ohne Umbauten direkt nacheinander in den Szenen bespielt werden können. Ein Modell der Bühne des Alten Hofburgtheaters (das Gebäude wurde Ende des 19. Jahrhunderts abgerissen) zeigt eindrucksvoll das Konzept der Guckkastenbühne und der vielen Maschinerien, die innerhalb dieses Bühnenraums zum Einsatz kamen.

Obwohl ich mir wirklich viel Zeit gelassen habe, habe ich nur knapp 90 Minuten gebraucht, um alle Räume zu durchwandern, Fotos zu machen, Texte zu lesen und die gesammelten Informationen auf mich wirken zu lassen. Das Theatermuseum ist also eines jener Museen, die sich auch als kurze Museumsaktivität zwischendurch einschieben lassen.

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English Science Fiction

Ursula K. Le Guin – The Left Hand of Darkness

CN dieses Buch: Folter, Verhör, Drogen, Tod, Hunger, Geschlechtsteile
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Out entire pattern of sociosexual interaction is nonexistent here. […] This is almost impossible for our imagination to accept.

Was mich am meisten fasziniert an diesem Buch, ist, dass es bereits 1969 veröffentlicht wurde. Die Autorin hat dabei eine Weitsicht bewiesen, wie sie mir bisher selten begegnet ist. Sie beschreibt einen Planeten, auf dem alle Menschen den Großteil der Zeit mehr oder weniger asexuell sind. Nur für wenige Tage jedes Monat nehmen sie ein Geschlecht an und dies kann jedes Monat ein anderes sein. Die gesellschaftliche Konsequenz daraus: traditionell etablierte Geschlechterbilder und -rollen existieren nicht. Die Zeugung, Geburt und Aufzucht von Kindern wird von allen Personen gleichermaßen übernommen. Jede*r Erwachsene kann zugleich Vater und Mutter sein.

Burden and privilege are shared out pretty equally; everybody has the same risk to run or choice to make. 

Partnerschaften sind daher tendenziell sehr fluktuierend. Die traditionelle monogame Ehe ist vorhanden in der Form, dass Menschen sich dazu verpflichten können, nur mit einem Partner sexuell aktiv zu sein. Dies wird aber als altertümliche Instanz beschrieben und hat keine rechtlichen oder gesellschaftlichen Konsequenzen.

Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt und beinhaltet auch alte Sagen oder Kalender, die die erzählte Welt plastischer machen. Der Protagonist Genly Ai ist als Botschafter einer Assoziation von Welten auf dem Planeten Winter angekommen. Der Name ist Programm: es ist eine kalte Welt, die viele verschiedene Worte für Schnee kennt, in der die lokale Bevölkerung an das unwirtliche Wetter angepasst ist. Genly Ai soll die lokalen Machthaber davon überzeugen, sich der Vereinigung von Welten anzuschließen. Diese Position bringt schließlich nicht nur ihn sondern auch seinen Unterstützer Estraven in große Gefahr.

Das Buch berührt viele gesellschaftspolitische Themen, auch der Faschismus wird an verschiedenen Stellen angesprochen. Die Beschreibung des Cousins des Königs, der Estraven als ausführende Hand des Königs nachfolgt, trifft meines Erachtens sehr gut meine Vorstellung eines machthungrigen Menschen, der keine Grenzen kennt:

His cousin Tibe was another kind of fish, for his insanity had logic. Tibe knew when to act, and how to act. Only he did not know when to stop.

Auch das Konzept des Nationalismus wird kurz aber prägnant kritisiert:

What is love of one’s country; is it hate of one’s uncountry? Then it’s not a good thing.

Für eine Zusammenfassung möchte ich auf das Nachwort von Charlie Jane Anders verweisen, in dem sie sinngemäß beschreibt, dass das Buch erzählt, wie zwei Menschen versuchen, Kommunikation und Verständnis untereinander herzustellen trotz kultureller Barrieren und sexueller Stereotype.

There’s really only one question that can be answered, Genry, and we already know the answer … The only thing that makes life possible is permanent, intolerable uncertainty: not knowing what comes next.

Und zuletzt möchte ich auf dieses Zitat einfach nicht verzichten:

It is a terrible thing, this kindness that human beings do not lose. Terrible, because when we are finally naked in the dark and cold, it is all we have. We who are so rich, so full of strength, we end up with that small change. We have nothing else to give.

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Roman

Ian McEwan – Am Strand

Sie war wie von Sinnen, irrsinnig sogar, denn eigentlich wollte sie nichts lieber, als aus dem Zimmer laufen, durch den Garten, den Weg hinunter zum Strand, um dort allein zu sein.

Ein Buch, das schon so lange auf meiner Liste steht, dass ich nicht mehr weiß, wie es dorthin gekommen ist. Das englische Original ist 2007 erschienen und auch wenn ich mir nicht ganz vorstellen kann, dass es schon so lang her ist, so sind es doch zumindest einige Jahre gewesen.

Die Hochzeitsnacht von Florence und Edward ist ein einziges großes Missverständnis. Oder ein Symbol dafür, dass ihre gesamte Beziehung ein einziges großes Missverständnis war. Beide ersticken nahezu an ihrer Angst, etwas falsch zu machen; Florence hat eigentlich kein Bedürfnis nach dem körperlichen Teil der Ehe, will ihren Edward aber nicht enttäuschen; Edward fürchtet sich davor, die Kontrolle zu verlieren. In Rückblenden werden weitere Begebenheiten erzählt, die beiden Personen erklärende Charaktereigenschaften verleihen.

Und was stand ihnen im Weg? Ihr Charakter und ihre Vergangenheit, Unwissen und Furcht, Schüchternheit und Prüderie, innere Verbote, mangelnde Erfahrung oder fehlende Lockerheit, und dann noch der Rattenschwanz religiöser Verbote, ihre englische Herkunft, ihre Klassenzugehörigkeit und die Geschichte selbst.

Eine andere Interpretation könnte auch sein, dass ihnen Kommunikationsfähigkeiten fehlten. Für mich fühlte sich die Beschreibung der Hochzeitsnacht von Anfang bis Ende wie eine Aneinanderreihung von Missverständnissen an. In meinem Kopf hörte ich Jason Robert Brown: „Can we please for a minute Stop blaming and say what you feel?“ Und als Florence sich schließlich ein Herz fasst, hat sie Edward bereits um Welten überholt, sodass dieser ihr nicht mehr folgen kann. Ihr mutiger Vorschlag eines alternativen Beziehungsmodells bringt das bereits wacklige Beziehungsgerüst endgültig zum Einsturz.

Wären die beiden in der Lage gewesen, ihre Gefühle auszudrücken, ohne Angst vor Ablehnung haben zu müssen, hätte diese Geschichte anders ausgehen können. Aber vielleicht bin ich noch immer zu optimistisch, was das Gelingen von Kommunikation angeht.

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Erfahrungsbericht

Lisa Taddeo – Three Women

What’s wrong with you?

Zuerst einmal zu den Fakten: dieses Buch erzählt die persönlichen Geschichten von drei Frauen. Diese Geschichten hat die Autorin Lisa Taddeo nicht erfunden, sondern in langjähriger Arbeit recherchiert. Dazu hat sie unzählige Gespräche mit Frauen über ihr Verlangen (desire), über ihre persönlichen Wünsche und Bedürfnisse geführt. Sie hat diese Frauen über einen Zeitraum von mehreren Jahren begleitet, ihre Lebensumstände beobachtet, ihre Familienverhältnisse beleuchtet und aus all diesen Informationen schließlich ein detailreiches Bild gezeichnet.

Who does she think she is.

Auch wenn der Text detailreiche Beschreibungen von sexuellen Aktivitäten enthält, geht es aus meiner Sicht nicht in erster Linie um körperliche Bedürfnisse. Für alle drei Frauen sind ihre sexuellen Wünsche mit emotionalen Aspekten verbunden. Es geht darum, geliebt zu werden, von einem Partner angenommen zu werden, das eigene Selbst und dessen Wert bestätigt zu bekommen.

Women shouldn’t judge one another’s lives, if we haven’t been through one another’s fires.

Die Geschichte von Lina wurde im Rahmen einer Frauendiskussionsrunde erzählt und die Autorin beschreibt an dieser Stelle auch detailliert die Reaktionen der anderen Frauen auf Linas „Geständnis“. Neid paart sich mit Angst, daraus entsteht eine passiv-aggressive Stimmung gegen diese Frau, die aus ihrem Alltag ausbricht, um ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Anstatt Solidarität oder zumindest Verständnis erntet sie Misstrauen und die unmissverständliche Botschaft, dass sie Grenzen überschritten hat, die nicht überschritten werden sollten. Es handelt sich hier um eine geradezu prototypische Beschreibung eines unsolidarischen Verhaltens unter Frauen, das in einem anderen Buch, das ich kürzlich gelesen habe als get back in line definiert wird.

Life has absolutely zero meaning if you’re not living for someone else.

Ein anderer dazu passender Aspekt ist die Tatsache, dass von Frauen nach wie vor erwartet wird, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse für andere Personen zurückschrauben. Selbstverständlich erfordert das Mutter-Sein (eigentlich das Eltern-Sein, aber es geht hier eben konkret um Frauen) ein gewisses Maß an Selbstaufgabe. Die eigenen Bedürfnisse aber auch gegenüber denen des Partners (im besten Fall der andere Elternteil) zurückstellen zu müssen, führt im Allgemeinen zu Unzufriedenheit und zum Zerbrechen der Partnerschaft. In den Augen der Gesellschaft und/oder zum (vermeintlichen) Wohl der Kinder wird diese Partnerschaft dann zumeist am Leben erhalten, obwohl sie längst nur noch eine Hülle ist.

What Sloane wanted more than anything else was to like herself. […] There had always been a sense of personal inadequacy if she was not nailing every single thing.

Während in den Geschichten von Maggie und Lina zumindest oberflächlich eine Art von Opferrolle nicht vollständig abgestritten werden kann, erscheint Sloane auf den ersten Blick als Frau, die alles hat. Sie stammt aus einer reichen, weißen Familie, ist attraktiv, beliebt und erfolgreich. Eine Frau, die von anderen Frauen beneidet wird. Erst zwischen den Zeilen und im Verlauf der Geschichte wird klar, dass auch Sloane ihre eigenen Bedürfnisse hinter die ihres Mannes stellt. Ihr Selbstwertgefühl beruht auf der Kontrolle ihres perfekten Images. Die oben gestellte Frage What’s wrong with you? zerbricht ihr Selbstbild nicht, da sie sich diese Frage ohnehin immer wieder selbst stellt. Die Frage von einer anderen Frau gestellt zu bekommen, zieht diese Selbstzweifel jedoch zusätzlich ins Tageslicht. Hier kommen all die Erwartungen zum Ausdruck, mit denen sich Frauen täglich konfrontiert sehen und die niemals erfüllt werden können.

Even when women fight back, they must do it correctly. They must cry the right amount and look pretty but not hot.

Ich verzichte an dieser Stelle darauf, die Eckdaten der drei Geschichten aufzulisten. Zum Ersten finde ich, dass dies den sexuellen Aspekt zu sehr in den Vordergrund stellt (und damit eine gewisse Sensationslust anspricht, was aber vermutlich verkaufsförderlich sein dürfte). Zum Zweiten gibt eine reine Zusammenfassung der Fakten die Tiefe der Geschichten nicht wider. (Wer trotzdem nicht verzichten kann: Bookmarks. Außerdem beschäftigt sich dieser Lithub-Post, mit der Frage, warum das Thema Verlangen/Begierde überhaupt behandelt werden sollte.) Es geht hier nicht um sexuelle Akte und wie und unter welchen Umständen diese stattgefunden haben. Es geht um die persönlichen Empfindungen und Erfahrungen dieser drei Frauen und die lassen sich nicht in einem Blog Post zusammenfassen.

We don’t remember what we want to remember. We remember what we can’t forget.

 

 

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Roman

Charlotte Roche – Schoßgebete

So ist man doch, wenn man wirklich liebt, man ist ja dann nicht selbstsicher und sagt sich: Klar, kein Problem, du kommst sowieso wieder.

Gerade wird mir klar, dass auch das literarische Umfeld, in dem ein Buch gelesen wird, beeinflusst, wie es wahrgenommen wird. Wenn ich My Year of Rest and Relaxation nicht direkt im Anschluss an A Little Life gelesen hätte, wäre ich vielleicht anders damit umgegangen. Mit Schoßgebete habe ich vor einigen Wochen an einem „verlorenen“ Abend begonnen, an dem ich mich zu keiner „anspruchsvollen“ Lektüre mehr aufraffen konnte. Beendet habe ich es nun in diesem Umfeld, wo sich erstaunliche Parallelen zu My Year of Rest and Relaxation auftun, die mir vor einer Woche gar nicht auffallen hätten könnten und in ein paar Wochen vielleicht schon nicht mehr aufgefallen wären.

Die erzählende Protagonistin stellt ein Klischeebild einer modernen Frau dar: unsicher, perfektionistisch, die eigenen Bedürfnisse verleugnend, um ihrem Mann zu gefallen. Aus feministischer Sicht ließe sich hier einiges kritisieren und zerpflücken, aber hier ist (zumindest mir) so deutlich klar, dass es sich um eine Paraodie handelt, dass ein „Ernstnehmen“ gar nicht in Frage kommt. Die Autorin macht sich lustig darüber, wie die Gesellschaft den Frauen vorgaukelt, wir müssten ständig perfekt gepflegt sein, uns vegetarisch oder noch besser vegan ernähren, ein umweltschonendes Elektroauto fahren und für den Partner jederzeit sexuell verfügbar sein.

Wenn ich mich aber darauf konzentrieren kann, was Gutes zu machen, zum Beispiel Vegetarierin zu werden, dann geht es mir besser.

Ein großes Thema ist auch das Verhältnis zur abwesenden Mutter, geprägt von einem Autounfall, bei dem zwei Brüder der Autorin ums Leben gekommen sind, die Mutter jedoch schwer verletzt überlebt hat. Hier bricht das parodistische Narrativ etwas, die Erzählung untersucht, wie die Beziehung der eigenen Mutter das weibliche Rollenerleben prägen kann, im positiven wie im negativen Sinn. Weibliches Konkurrenzdenken kommt in der Rolle der nur am Rande erwähnten Freundin der Protagonistin zum Ausdruck. Über allem schwebt jedoch immer das Streben nach Perfektion, nach Fehlerlosigkeit oder zumindest dem Verstecken der eigenen Mängel dort, wo niemand anders sie sehen kann. Ein Unterfangen, das unwiderruflich zum Scheitern verurteilt ist.

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Roman

Hanya Yanagihara – A Little Life

… but in those moments he would at times find himself, thinking, This is enough. This is more than I hoped. To be in New York, to be an adult, to stand on a raised platform of wood and say other people’s words! – it was an absurd life, a not-life, a life his parents and his brother would never have dreamed for themselves, and yet he got to dream it for himself every day.

Schon der Titel dieses Buches wirft Fragen auf: a little life, ein kleines Leben, ist damit ein kurzes Leben gemeint oder ein unbedeutendes Leben? Und wer oder was gibt überhaupt einem Leben Bedeutung? Dies ist eine der essentiellen Fragen, die in diesem Buch teils offensichtlich und teils zwischen den Zeilen aufgeworfen werden. Gegen Ende des Buches wird im Rahmen einer tatsächlichen Dinner-Konversation die Frage gestellt, ob eigene Kinder dem Leben Bedeutung geben und was dem Leben sonst noch Bedeutung geben könnte. Die eindeutige Antwort an dieser Stelle im Buch: Freundschaft.

Das Buch beginnt mit der College-Freundschaft der 4 Protagonisten: Willem, angehender Schauspieler, Jude, auf dem Weg, ein angesehener Anwalt zu werden, Malcolm, ruhelos und an Architektur interessiert und JB, bildender Künstler. Während im ersten Teil des Buches die Vorgeschichten und Familienhintergründe sowie die Entstehung der Freundschaft beleuchtet werden, fokussiert die Geschichte dann auf Jude, dessen Kindheit von den schlimmsten Erlebnissen geprägt wurde (Missbrauch, Misshandlung, Zwang zur Prostitution, CN: dies wird im Buch ausführlich beschrieben).

Or he would discover – as he often feared – that what he understood as friendship was really motivated by their pity of him?

Jude wächst im Kloster auf und erfährt dort in seinen frühen Lebensjahren ein Gefühl der Wertlosigkeit, das er sein restliches Leben nicht mehr ablegen wird. Er zweifelt an jeder Form von Wertschätzung, die ihm sein Umfeld entgegenbringt und vergräbt sich in der festen Überzeugung, dass seine Freunde ihn fallen lassen würden, wenn sie von seiner Vergangenheit wüssten. Daraus entwickelt sich ein Spannungsfeld, indem immer wieder darauf hingewiesen wird, wie sehr sich die Selbstwahrnehmung von Jude davon unterscheidet, wie seine Freunde ihn sehen. In den wenigen Momenten, in dem Judes Selbstwahrnehmung durch das unendliche Festhalten von Willem und Harold (Judes Adoptivvater) in Frage gestellt wird, steht er erschüttert vor seinem Selbstbild und kehrt dann doch immer wieder zum bekannten Muster zurück, das ihn durch die dunkelste Zeit seines Lebens getragen hat.

But although he hadn’t been convinced, it was somehow sustaining that someone else had seen him as a worthwile person, that someone had seen his as a meaningful life.

Welches Leben kann ein Mensch mit Judes Vergangenheit führen? Gibt es eine Möglichkeit, über schreckliche Erlebnisse in der Vergangenheit hinauszuwachsen, sie hinter sich zu lassen? Zwischen den Zeilen steht die Frage, was eigentlich einen Menschen ausmacht. Sind es die Gene, mit denen wir geboren werden oder sind es die Erlebnisse, die uns zu dem machen, was wir sind? In seinem Beruf hat Jude die Möglichkeit gefunden, jemand anders zu sein, selbst seine körperliche Behinderung, die sein alltägliches Leben und Empfinden in allen Aspekten so sehr prägt, spielt hier keine Rolle. Seine Arbeit als erfolgreicher Anwalt ist für Jude ein Bereich seines Lebens, in dem seine Vergangenheit keine Rolle spielt.

[and he cries] for the ability, at last, of believing a parent’s reassurances, of believing that to someone he is special despite all his mistakes and hatefulness, because of all his mistakes and hatefulness.

Jude kann sich selbst nicht annehmen und daher auch nicht akzeptieren, dass er von anderen angenommen wird. Gerade diese Form des Angenommen-seins erfahren Kinder üblicherweise von ihren Eltern: dass sie geliebt werden mit allen ihren Fehlern und trotz all der Fehler, die sie bereits gemacht haben und noch machen werden. Da Jude diese elterliche Liebe nie erfahren hat, fehlt ihm ein essentieller Bestandteil, um sich selbst akzeptieren zu können.

Es ist kein unbedeutendes Leben, das in diesem Buch beschrieben wird. Jeder Tag zählt. An jedem einzelnen Tag können wir uns entscheiden, unserem Leben Bedeutung zu geben. Durch Liebe zu eigenen Kindern oder durch Unterstützung, Freundschaft und Zusammenhalt zu anderen Menschen.

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Graphic Novel

Alison Bechdel – Fun Home

Hinter diesem Buch steckt eine lange vergangene Geschichte. Als 2008 die deutsche Ausgabe erschien, hatte eine Freundin von mir mit dem Coming Out ihres Vaters zu kämpfen. Ihre Familie schien auseinanderzubrechen und ich hatte das Buch damals bestellt, um es ihr zu schenken, dann aber nie den Mut oder die Gelegenheit dazu gefunden. Unsere Wege trennten sich, irgendwann mistete ich das Buch aus, ohne es jemals aufgeschlagen zu haben. Jetzt hat es mich eingeholt.

Vielleicht hat es mich damals nicht reingerissen, weil mir das Konzept der Graphic Novel nicht so erstrebenswert erscheint. Ist ja immerhin kein richtiges Buch … (so dachte ich jedenfalls). Stellt sich raus: es ist sogar ein ziemlich gutes Buch.

Die Autorin beschreibt ihre Kindheit, ihre Familie, die Beziehung zu ihren Eltern, ihre Entwicklung zum erwachsenen Menschen. Erst im letzten Drittel wird der überraschende Tod ihres Vaters Bruce und dessen versteckte aber nicht vollständig unterdrückte Homosexualität ein Thema.

Sexual shame is in itself a kind of death.

Wer wie ich an einen Comic Strip mit jeder Menge Boom und Bang denkt, wird (in meinem Fall angenehm) überrascht. Sprachlich ist das Werk deutlich interessanter, als ich es erwartet hatte. Nicht nur einmal musste ich eine unbekannte englische Vokabel nachschlagen. Besonders schön formuliert fand ich etwa diese Beschreibung der jungen Alison, wie sie versucht, sich zwanghaftes Verhalten abzugewöhnen.

My recovery was hardly a joyous embrace of life’s attendant chaos — I was as obsessive in giving up the behaviors as I had been in pursuing them.

Richtig waren meine Befürchtungen jedoch, dass es teilweise schwierig zu lesen ist, weil die Augen ständig auf der Seite herumspringen müssen, um den nächsten Anhaltspunkt zu suchen.

Das titelgebende Fun Home bezieht sich übrigens auf das Funeral Home (Bestattungsinstitut) der Familie, indem Bruce Bechdel bis zu seinem Tod arbeitet. Ein Wortspiel, das typisch für Alison Bechdels charmant-ironischen Stil ist.

Wärmste Empfehlung von meiner Seite. Eine witzige, herzerwärmende Geschichte über das Leben und das Überleben, über das Zu-sich-selbst-finden und das Gefunden-werden.

Reading Challenge: A graphic novel

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Roman

Elfriede Vavrik – Nacktbadestrand

Mir ist es egal, warum diese Männer mich begehrten. Ich wollte nur begehrt werden. Und was war schon dabei? Jeder Mann hat bestimmte Vorlieben. … Wer legt den Rahmen fest, was normal ist? Normal ist doch, was niemandem schadet. Wenn Männer, die alte Frauen mögen, mit ihnen schlafen, wem schadet das? Und wenn eine Frau mit achtzig in der Liebe nachzuholen versucht, was sie in mehr als einem halben Jahrhundert versäumt hat, wem sollte das schaden?

An der Oberfläche: die 79-jährige Elfriede Vavrik entdeckt ihre Sexualität. Nach zwei gescheiterten / lieblosen Ehen hat sie 40 Jahre lang allein gelebt. Nun macht sie sich auf, die Männer zu entdecken. Über Kontaktanzeigen, zuerst in der Zeitung, dann auch im Internet, lernt sie Männer unterschiedlichsten Alters kennen und macht dabei ihre Erfahrungen. Nebenbei schreibt sie erotische Kurzgeschichten und wehrt sich gegen die Anwürfe der eifersüchtigen Nachbarin.

Ich war etwas zu kurzsichtig, um sie genauer ins Auge zu fassen, aber über allem lag eine Atmosphäre von Freiheit, und es war eine, die mich miteinschloss. Ich war wirklich frei, schon die ganze Zeit über, aber ich hatte es bei all der Aufregung, die mein neues Leben brachte, noch nie in dieser Intensität gespürt. Ich tat, was ich wollte. Ich genoss meine Zeit. Ich nahm mir, was sie mir bot.

Unter der Oberfläche: Nach langen Jahren, die sich die Protagonistin (die Autorin?) kein eigenes Leben, kein eigenes Wollen, keine eigenen Sehnsüchte gestattet und hauptsächlich für ihre Kinder gelebt hat, entdeckt sie die Freiheit, sich selbst etwas Gutes zu tun und auf ihre eigenen Bedürfnisse zu schauen. Die Nachricht ist auch: für selbstbestimmtes Leben ist es nie zu spät. Es bringt nichts, darüber zu jammern, was man verpasst hat. Mensch kann sein Leben jeden Tag ändern. Auch, wenn sie bereits das stolze Alter von 79 erreicht hat. Es wird immer Hindernisse und Fehlschläge geben, aber es ist nie zu spät, es zu versuchen. Und natürlich: Toleranz. Jedem zugestehen, sein Leben zu leben, wie er es will, solange dabei niemand anderer verletzt wird.

Randnotiz

Vor einem Kaffeehaus wartend und durch mein Instapaper scrollend, kam mir ein Gedanke zu einem Thema, dass mich immer wieder beschäftigt, das ich aber bisher nie so recht in Worte fassen konnte: wenn ein Begriff von einer Mehrzahl von Personen (inkl. Medien) nicht mehr ursprungsgemäß verwendet wird, welche Bedeutung gilt dann? Seit Jahren verschlucke ich mich regelmäßig an der Verwendung des Wortes realisieren. Das PONS-Online-Wörterbuch dazu: verwirklichen. Einen Plan / ein Projekt verwirklichen. Immer wieder fällt mir jedoch auf, dass nicht mehr nur im Trash-Fernsehen der Begriff im Sinne des englischen “to realize” (etwas erkennen, sich etwas klar machen) verwendet wird.

Als weiteres Beispiel ist mir im Rahmen der #nowkr Debatte auf Twitter entgegengeflogen (und war letztlich der Auslöser für diese Randnotiz): der schwarze Block. In der Wikipedia kann man dazu nachlesen, dass es sich um eine „Demonstrationstaktik von Gruppierungen, die nach außen hin aufgrund von Verhalten und meist schwarzer Kleidung und Vermummung homogen wirken“ handelt. In den Medien wurde der Begriff jedoch häufig als Bezeichnung für eine Gruppe autonomer Randalierer verwendet, unter anderem auch bei dem von mir für seine scharfen Analysen geschätzten @martinblumenau in seinem Nachtrag zur Akademikerball-Berichterstattung (der erste Teil der Berichterstattung).

Wenn nun ein Großteil der Menschen – die Medien haben hier in meinen Augen eine richtungsweisende Wirkung – einen Begriff nicht mehr im ursprünglichen Sinn verwendet, müssten dann nicht beide Sichtweisen zulässig sein? Die ältere Bedeutung zu eliminieren, fände ich weder richtig, noch durchführbar. Lebende Sprache ist ein sich veränderndes Konstrukt, das zeigen uns schon die mit großem medialen Radau jährlich gekürten Jugendwörter des Jahres. Sollte man nicht das Oberlehrer-hafte etwas beiseite lassen? Natürlich ist ein Verweis auf die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes immer zulässig. Aber eine neue Bedeutung für einen Begriff kann doch nicht zwangsläufig falsch sein?