Categories
English Roman

V.E. Schwab – The Invisible Life of Addie LaRue

What she needs are stories. Stories are a way to preserve one’s self. To be remembered. And to forget. […] Books, she has found, are a way to live a thousand lives – or to find strength in a very long one.

Es gibt diese Bücher, die so gut sind, dass es nahezu unmöglich ist, darüber etwas zu schreiben. Das ist eines davon. Ich werde daher nur ein paar Zitate und Aspekte aneinanderreihen und lege jeder interessierten Leserin ans Herz, selbst zuzugreifen und sich an dieser großartigen Geschichte zu erfreuen.

You wanted to be free, says a voice in her head, but it is not hers; no, it is deeper, smoother, lined with satin and woodsmoke.

Eine Frau, die aus dem von der Gesellschaft für sie vorgesehenen Leben ausbrechen will. Sie will mehr als das karge, harte Leben, das Frauen im 18. Jahrhundert in einem ländlichen Dorf in Frankreich erwarten können. Sie will es so sehr, dass sie bereit ist, dafür alles zu geben.

Freiheit gibt es nicht geschenkt. Sie beinhaltet Fallstricke, die Addie an ihrer Entscheidung zweifeln lassen. Wie frei können wir überhaupt sein innerhalb der Grenzen, die uns Zeit und Raum auferlegen? Zumindest in Geschichten können diese Grenzen verschoben werden, jedoch auch hier nie ganz überwunden.

Nervous, like tomorrow, a word for things that have not happened yet. A word for futures, when for so long all she’s had are presents.

Erinnerungen, die wir mit anderen Personen teilen, haben die einzigartige Fähigkeit, Verbindungen zu schaffen, die nur zwischen Personen existieren, die gemeinsam Erlebtes teilen. Was bedeuten Erinnerungen, die in Kunst verewigt werden? Welche Möglichkeiten gibt es, in Erinnerung zu bleiben, wenn sich niemand an uns erinnert?


Take this, Instagram:

I remember seeing that picture and realizing that photographs weren’t real. There’s no context, just the illusion that you’re showing a snapshot of a life, but life isn’t snapshots, it’s fluid. So photos are like fictions. I loved that about them. Everyone thinks photography is truth, but it’s just a very convincing lie.


Eine Frau, die selbst angesichts unbezwingbar erscheinender Hindernisse niemals aufgibt. Die immer einen Weg findet, um von einem Tag zum Nächsten zu überleben. Die immer wieder etwas Schönes in der Welt entdeckt.

He is all restless energy, and urgent need, and there isn’t enough time, and he knows of course that there never will be. That time always ends a second before you’re ready. That life is the minutes you want minus one.

Categories
English Jugend Roman

John Green and David Levithan – Will Grayson, Will Grayson

Sowohl John Green als auch David Levithan sind Garanten für anspruchsvolle und trotzdem unterhaltsame Jugendliteratur. Beispiele sind etwa The Fault in Our Stars (die Verfilmung aus dem Jahr 2014 ist ebenfalls sehenswert), Every Day (und die beiden Fortsetzungen Another Day und Someday) oder David Levithans Kollaboration mit Rachel Cohn Dash & Lily’s Book of Dares.

me: you have no idea how wrong you are about me.
tiny: you have no idea how wrong you are about yourself.

Es dürfte wohl kein Spoiler sein, wenn ich verrate, dass die Protagonisten des Buches beide Will Grayson heißen und sich zu Beginn nicht kennen, im Verlauf des Buchs aber aufeinander treffen. Im Interview am Ende des Buches erklären die beiden Autoren, wie sie tatsächlich getrennt voneinander die Figuren entwickelt haben, um diese dann Kapitel für Kapitel aneinander heran zu führen.

Wie so oft in Jugendromanen geht es auch hier um die Suche nach der eigenen Identität und das Klarkommen mit der eigenen Vorgeschichte, mit den Voraussetzungen und Umständen, in die wir hineingeboren werden. Eigentlich sollten sich Erwachsenenromane auch mehr mit diesem Thema beschäftigen (wobei sie das bei entsprechender Betrachtung vielleicht ohnehin tun?), weil wer kann schon sagen, sich seiner Identität sicher zu sein? (Falls eine Identität überhaupt etwas Feststehendes sein sollte und nicht eher ein fluides Konzept. In diesem Fall wäre vermutlich das Konzept sich selbst treu zu bleiben hinfällig.) Den Abschluss des Buchs bildet ein Gespräch zwischen den beiden Autoren, in dem John Green über den Konflikt zwischen unserer inneren Identität und der von außen wahrgenommenen Identität erzählt:

I think a lot of the novel is about the weird relationship between identity and existence: In some ways, you are who you are because other people observe you; but in some ways, you are who you are in spite of other people’s observations of you.

Die Verknüpfung dieses Themas mit den philosophischen Überlegungen zu Schrödingers Katze hat mich besonders amüsiert. Und es mir bei der ersten Erwähnung des Bandnamens Maybe Dead Cats nicht mal aufgefallen …

still, what could i say? that i didn’t just feel depressed – instead, it was like the depression was the core of me, of every part of me, from my mind to my bones?

Einer der Will Graysons lebt mit einer Depression. Es gelingt den Autoren meisterhaft, die Isolation dieser Krankheit zu illustrieren; die Art, wie sie die betroffene Person von normalen Menschen abkapselt. Das Unverständnis der Umgebung und die Vorurteile über mental health issues, mit denen depressive Menschen zusätzlich zu ihrer Krankheit zu kämpfen haben, nehmen einen wichtigen Platz ein. Es geht hier nicht nur um Jugendliche, die ihren Platz im Leben suchen, sondern um Jugendliche, die dies unter erschwerten Bedingungen tun und trotzdem einen Weg finden.

all i wanted was one fucking break, one idiotic good thing, and that was clearly too much to ask for, too much to want.

Dazwischen ist das Buch aber auch noch großartig lustig. Die Absurdität, die ich aus Dash & Lily’s Book of Dares erinnere, spiegelt sich hier in den wahnwitzigen Musicalnummern wieder, die ich wirklich gern auf einer Bühne sehen würde. Nicht zuletzt hat mich die Referenz auf einen Film aus meiner eigenen Jugend amüsiert (Charlie Alle Hunde kommen in den Himmel). Mal sehen, ob ich den irgendwo auftreiben kann …

Categories
Roman

Serhij Zhadan – Mesopotamien

Wir alle leben in dieser seltsamen Stadt, wir alle sind hier geblieben, wir alle kehren früher oder später hierher zurück. Wir leben und tragen die Liebe in uns wie eine Schuld, wie eine Erinnerung, sie vereint all unsere Erfahrungen und all unser Wissen.

Die Entscheidung, welches Buch ich denn nun als Nächstes hernehme, hängt sehr von der Tagesverfassung, der Tageszeit und diversen anderen Faktoren ab. In diesem Fall hatte ich dieses Buch aufgrund einer Liste, die überraschenderweise erst vier Jahre alt ist (gefühlt hätte ich eher mit 14 Jahren gerechnet …), auf meiner Wishlist in der Onleihe. Den Ausschlag gab jedoch die 5-Sterne-Bewertung. Irgendwie bin ich eben auch nicht immun gegenüber der Meinung anderer Menschen.

Von oben konnten wir die ganze Stadt sehen, in den Höfen konnten wir spüren, dass unter uns die Steine lagen, auf denen alles gebaut war. Im Sommer erhitzten sie sich, und uns wurde warm, im Winter waren sie durch und durch gefroren, und wir erkälteten uns.

Der erste Teil ist überschrieben mit dem Titel Geschichten und Biographien. Erst beim vierten Kapitel wurde mir klar, dass es sich um eine Art Episodenroman handelt.

Exkurs: Beim Korrekturlesen stelle ich fest, dass Wikipedia unter einem Episodenroman etwas ganz anderes versteht als ich. Hier wird von einem Roman gesprochen, der für die Haupthandlung verzichtbare und leicht aus dem Zusammenhang lösbare Intrigen oder Episoden enthält. Ich hatte den Begriff eher verwendet für sich teilweise überschneidende Geschichten, die im gleichen Umfeld spielen, wo es teilweise unklar ist, ob es sich um Kurzgeschichten mit Verbindungen zwischen den einzelnen Protagonist*innen handelt oder doch um einen Roman mit wechselnden Protagonist*innen. Im Zweifel entscheidet wohl die Selbstbetitelung durch die Autorin*den Autor oder den Verlag. In diesem Fall steht Roman auf dem Umschlag. Andere Beispiele, die mir einfallen, sind etwa Julia Phillips – Disappearing Earth oder Lilian Faschinger – Wiener Passion.

Alles beginnt mit einem Begräbnis und endet mit einer Geburtstagsfeier. Bei beiden Events werden die Verbindungen der einzelnen Personen zueinander erläutert, ich musste jedoch einmal zurücklesen, weil ich mir nicht alle einzelnen Geschichten gemerkt hatte.

Uns bringt die Schwäche um, die wir in uns tragen und deren wir uns nicht entledigen wollen. Sie frisst uns von innen auf wie ein Virus, sie hindert uns daran, die richtigen Entscheidungen zu treffen, die uns vertrauten Menschen festzuhalten, sie macht uns zu Verdammten, obwohl wir in Wirklichkeit nicht verdammt sind.

Die einzelnen Geschichten kreisen um Verwandtschaften, Lebenspläne bzw. die Abwesenheit von Lebensplänen, Unsicherheiten, Ausbrüche und Weggabelungen. Entscheidungen für oder gegen Beziehungen wechseln sich ab mit Fragen nach dem Sinn des Lebens an sich und der Frage, ob es irgendwo noch etwas anderes gibt.

Die Sonne geht morgens im Osten auf, hinter dem Markt,
jeder Verlust hat seinen Grund.
Nirgends solche Stille wie über deinem Haus,
nirgends solch ein Mond wie in deinem Rücken.

Im zweiten Teil, der mit dem Titel Erläuterungen und Verallgemeinerungen überschrieben ist, reihen sich unzusammenhängende Absätze aneinander, die den poetischen Schreibstil, der sich schon in den Geschichten und Biographien abzeichnete, noch steigern. Während ich dem Ende entgegenlese, frage ich mich, wo das nun hinführen soll, und werde angenehm positiv überrascht. Die letzten Sätze passen zu dem übergreifenden Thema, das sich in all diesen Geschichten abzeichnet: das Warten und die Sehnsucht. Nach etwas anderem, nach einer Person, nach einem besseren Leben.

Categories
English Jugend Roman

Nina LaCour – Everything Leads to You

I thought that her story was comprised of scenes. I thought the tragedy could be glamorous and her grief could be undone by a sunnier future. I thought we could pinpoint dramatic events on a time line and call it a life. But I was wrong. There are no scenes in life, there are only minutes.

Letztens habe ich mir ein paar Minuten gestattet, um nachzuschauen, ob etwas von meiner Buchliste, das bisher nicht in der Overdrive eLibrary verfügbar war, nun neu dazu gekommen ist. Und tatsächlich war dieser Roman dabei. Ersatzweise hatte ich vor zwei Jahren We Are Okay von Nina LaCour gelesen.

Because in the conversation beneath this one, what we’re really saying is I am an imperfect person. Here are my failures. Do you want me anyway?

Dieses Werk ist deutlich fröhlicher angelegt. Die Protagonistin Emi stößt gemeinsam mit ihrer Freundin Charlotte auf einen Brief in der Hinterlassenschaft eines bekannten Schauspielers und die beiden machen sich auf die Suche nach der Lösung des Rätsels. Diese führt sie schließlich zu Ava, der Enkelin des Verstorbenen, die von ihrer Verwandtschaft mit dem Darsteller keine Ahnung hatte.

People talk about coming out as though it’s this big one-time event. But really, most people have to come out over and over to basically every new person they meet.

Zwischen dem Geheimnis hinter Avas Familiengeschichte, der sich entspinnenden Verbundenheit/Verliebtheit zwischen Emi und Ava und den vielen Blicken hinter die Kulissen des Setdesigns der Traumfabrik (Emi arbeitet als aufstrebende Set Designerin) gelingt es der Autorin auch noch, die gesamten Unsicherheiten junger Menschen transparent zu machen. Obwohl ich diese Zeit meines Lebens lange hinter mir gelassen habe, konnte ich mitfühlen mit all den Zweifeln, vor allem Emis Zweifeln an den eigenen Fähigkeiten. Wesentlich wichtiger als die perfekte Lösung für ein Arbeitsproblem ist jedoch der Mut, etwas auszuprobieren und falls es nicht klappt, später auch den Fehler zugeben zu können und nachzubessern. Brave, not perfect.

“What I’m trying to say is that I just want to know you. You don’t have to be at your best. We can’t all be our best all the time. But,” I say again, “I just want to know you.”

Categories
English Fantasy Roman

George R. R. Martin – Game of Thrones

I am doing the right thing, he told himself, so why do I feel so bad?

An und für sich finde ich ja die Reading Analytics, die die Libby App so ausspuckt, nach wie vor eher beunruhigend. Sie zeichnet einfach genau auf, wann ich wie lang gelesen habe, und berechnet daraus, wie lang ich für ein Buch gebraucht habe und wie lang ich vermutlich noch brauchen werde, bis ich damit fertig bin. Bei diesem Buch hat es mich dann doch interessiert, wie lange ich gebraucht habe und es waren 21 Stunden und 21 Minuten, verteilt über 8 Tage. (Ja, es ist November inmitten einer Pandemie, ich hatte neben Erwerbsarbeit nicht viel anderes zu tun.)

Neil Pasricha zitiert in seinem Podcast 3 Books immer wieder mal George R. R. Martin, der sinngemäß geschrieben haben soll, ein Mensch, der Bücher liest, lebt während seiner Lebenszeit 1000 verschiedene Leben, ein Mensch, der nicht liest, lebt nur ein einziges Leben. Obwohl es in diesem Buch hauptsächlich um Intrigen, Schlachten und Kämpfe geht (wer verbündet sich mit wem, wer intrigiert gegen wen, wer wird die Thronnachfolge antreten?), konnte ich zumindest ein Zitat finden, das mir zum Thema Bücher und Lesen ins Auge gestochen ist:

My mind is my weapon. My brother has his sword, King Robert has his warhammer, and I have my mind … and a mind needs books as a sword needs whetstone, if its to keep its edge.

Irgendwann diese Woche dachte ich beim Spazierengehen darüber nach, wie wohl eine utopische Welt aussehen könnte, in der das Streben nach Geld und Macht nicht existiert. Sehr weit bin ich in dem Gedankenexperiment nicht gekommen. Weil irgendwie jeder Mensch nach irgendwas strebt, selbst wenn es nicht Geld oder Macht ist. Und oft ist das wahre Ziel nur zu erreichen über den Umweg Geld oder Macht. Selbst wenn das hehre Ziel ist, ein Heilmittel für Krebs zu erfinden, dann lässt sich dieses vermutlich eher nur über den Umweg von Geld (Möglichkeit, eine umfassende Forschung zu finanzieren) oder Macht (Möglichkeit, die Geschicke eines Pharmaunternehmens zu steuern) erreichen. Eine Welt ohne das Streben nach Geld oder Macht müsste daher so fundamental anders aussehen, dass es mir an Fantasie mangelt, sie mir vorzustellen. Und selbst dann würden Menschen vermutlich noch aus Gründen der Liebe und der Eifersucht aufeinander losgehen …

That should be enough for any woman … but not for the dragon. With Viserys gone, Daenerys was the last, the very last. She was the seed of kings and conquerers, and so too the child inside her. She must not forget.

Streben nach Macht ist eines der zentralen Motive dieses Buchs. Die Mittel, die die einzelnen Personen einsetzen, sind unterschiedlich, ebenso die Ergebnisse. In einer mittelalterlich geprägten Welt, in der Status anhand des Schwertes gemessen wird, haben Frauen erwartungsgemäß einen niedrigeren Stellenwert. Es zeichnet sich jedoch bereits ab, dass die bereits eingeführten Frauenfiguren durchaus interessante Entwicklungen durchmachen dürften. Ich werde demnächst mit dem zweiten Teil der Reihe weiterlesen.

Categories
Roman

David Lagercrantz – Vernichtung

Im dritten Fortsetzungsteil um Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist wird das Tempo noch einmal deutlich angezogen. Schon auf den ersten 50 Seiten kommt es zur Konfrontation zwischen den Schwestern Lisbeth und Camilla, die natürlich noch zu keinem Ergebnis führt, da liegen dann noch einige Seiten und Geheimnisse dazwischen.

Was mir beim Wiederlesen von Stieg Larsson aufgefallen war, konnte ich in kleinerem Ausmaß auch bei David Lagercrantz feststellen: Bezugnahme auf aktuelle Geräte, Technologien bzw. Medienereignisse verorten das Buch deutlich in seiner Zeit. In diesem Roman spielen etwa Trollfabriken und Fake News eine Rolle. Den Verweis auf Pizzagate hab ich überhaupt nur wegen Reply All verstanden. Wäre interessant, zu wissen, ob Leser*innen in einigen Jahren damit überhaupt noch etwas anfangen können. Jedenfalls hat der Autor auch hier geschickt Geschichten miteinander verwoben und eine spannende Fortsetzung geschaffen.

Categories
English Roman

Claire-Luise Bennett – Pond

The hopelessness of everything I was trying to occupy myself with was at last glaringly crystal clear.

Irgendwie hatte ich die ganze Zeit während des Lesens das Gefühl, als ob ich nicht genau wüsste, worum es eigentlich geht. Ich fühlte mich erinnert an Leni Zumas – The Listeners und Ottessa Moshfegh – My Year of Rest and Relaxation, mit denen ich nicht wirklich viel anzufangen wusste. Möglicherweise war es die kürzliche Lektüre von Sylvia Plath – The Bell Jar, die mich dann vermuten hat lassen, dass die Protagonistin, die im Stream-of-consciousness-Stil erzählt, vermutlich an einer Depression leidet.

The large-scale changes in fact were of no interest to me at all; it was the small things that remained constant which sort of attracted me.

In diese gedankliche Richtung geschubst hat mich die ausführliche Referenz auf Marlen Haushofer – Die Wand. Neben der Einsamkeit, die die ebenfalls namenlose Erzählerin erlebt, stellt sie auch fest, dass die Kategorien, die sie bisher zur eigenen Identifikation verwendet hat, nun alle nicht mehr von Bedeutung sind. Als letzter lebendiger Mensch ist es schließlich egal, was für Rollen wir früher für uns gesehen haben.

Then it occurred to me that perhaps I’d been terrified for longer than all day, and I had rather mixed feelings upon realising that – I wasn’t much keen on the idea that I had been terrified for years, but it seemed possible. 

Gegen Ende des Buches werden die Sprünge größer, die Bezüge unwirklicher, die Erzählerin scheint den Faden zu verlieren. Gleichzeitig schleicht sich langsam die Erkenntnis ein, dass hier definitiv etwas nicht stimmt. Gepaart mit der Frage, wo das eigentlich alles hinführen soll.

Categories
English Roman

Sylvia Plath – The Bell Jar

The big questions: how to sort out your life, how to work out what you want, how to deal with men and sex, how to be true to yourself and how to figure out what that means – those things are the same today.

Zu Beginn muss ich zugeben, dass ich über Sylvia Plath, ihr Leben oder ihren einzigen Roman The Bell Jar absolut nichts wusste. Ich wusste nicht mal, was die Wortkombination Bell Jar überhaupt bedeutet. Aus dem Buch habe ich dann erfahren, dass es sich um eine Glasglocke handelt (ich musste an jene denken, in der in Die Schöne und das Biest die Rose langsam ihre Blätter verliert). Etwas erstaunt war ich dann, als ich schon in der Einleitung von Frances McCullough aus dem Jahr 1996 las, dass dieses Buch im englischsprachigen oder amerikanischen Sprachraum als weibliches Pendant zu J. D. Salingers Fänger im Roggen gehandelt wird (… it quickly established itself as a female rite-of-passage novel, a twin to Catcher in the Rye). Beide Bücher beschäftigen sich mit dem Übergang von der jugendlichen Lebensphase in die Erwachsenenphase. Der Fänger im Roggen war eines der Bücher, an die ich mich erinnere, weil die gesamte Klasse sie im Deutschunterricht damals lesen musste. Viele andere Bücher wurden jeweils nur in der Form durchgenommen, dass ein*e Schüler*in sie lesen und dann ein Referat darüber halten musste. Neben Der Fänger im Roggen erinnere ich mich an Gernot Wolfgrubers Herrenjahre und Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf. Als „weibliches Gegengewicht“ hatten wir in meiner Erinnerung Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin.

Während der Lektüre fragte ich mich dann natürlich, warum The Bell Jar damals nicht in unserem Literaturkanon vorkam. Ich habe seit meiner Kindheit extrem gern gelesen und auch schwierigere Werke, die eigentlich nicht meiner Altersklasse entsprachen, konnten mich im Allgemeinen nicht erschrecken. Mit Elfriede Jelinek wusste ich jedoch nichts anzufangen. Und The Bell Jar erschien mir jetzt als wesentlich sinnvollere Alternative für mich und meine damaligen Altersgenossen. (Wobei ich immer noch lieber The Giver vorschlagen würde …)

I could have called down and asked for a breakfast tray in my room, I guess, but then I would have to tip the person who brought it up and I never knew how much to tip.

Was Sylvia Plath in The Bell Jar meisterhaft gelingt, ist die Darstellung der das ganze Leben umfassenden und erdrückenden Unsicherheit, die uns auf der Suche nach uns selbst zurückhält und manchmal sogar erstickt. Ihre Schilderung der Protagonistin Esther in ihrem Zustand der Orientierungslosigkeit, Verzweiflung und Depression hat mich tief beeindruckt. Dass ihre Beschreibung der Depression auf ihren eigenen Erfahrungen beruht, macht die Geschichte noch umso mehr glaubhafter. Das obige Zitat stammt aus dem Beginn des Romans, wo Esther noch scheinbar in die Gesellschaft passt und ihren Weg irgendwie vor sich sieht. Doch selbst da zeigt sich ihre Unsicherheit, ihr Versuch, in die Gesellschaft zu passen und nicht negativ aufzufallen, schon in kleinen Gesten, die sie von den anderen Mädchen in ihrer Gesellschaft abheben.

The trouble was, I hated the idea of serving men in any way. I wanted to dictate my own thrilling letters.

Gleichzeitig findet sich in diesem Roman etwas deutlich Feministisches; unter anderem die Frage, warum das sexuelle Verhalten von Frauen und Männern mit zweierlei Maß gemessen wird. Das wird auch ausführlich erläutert in diesem Lithub-Artikel über eine neu erschienene Biographie über die Autorin. Auch Kritik über ihre Verwendung von rassistischen Begriffen findet dort ihren Platz, wobei ich denke, dass ihre Verwendung von bestimmten Begrifflichkeiten auch in ihrem zeitlichen Kontext gesehen werden muss. Das soll keine Entschuldigung sein, aber ich kann einfach nicht einsehen, warum wir Astrid Lindgren verurteilen sollten, weil Pippi Langstrumpf 1945 keinen Südseekönig, sondern einen Begriff, den wir heute nicht mehr nennen wollen/sollen, zum Vater hatte. Es ist wichtig, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen und sie nicht zu ignorieren, es kann aber in meinen Augen kein Grund sein, um das gesamte Werk einer Autorin zu verdammen.

Lange Rede, kurzer Sinn: The Bell Jar beschreibt eine junge Frau, die auf der Suche ist und daran beinahe zerbricht. Auf der Suche nach dem richtigen Lebensweg, auf der Suche nach sich selbst, auf der Suche nach Verständnis, auf der Suche danach, wahrgenommen zu werden, so wie sie ist. Ich wünschte wirklich, ich hätte das in meiner Jugendzeit lesen dürfen.

To the person in the bell jar, blank and stopped as a dead baby, the world itself is the bad dream.

A bad dream.

I remembered everything.

Categories
Krimi Roman

David Lagercrantz – Verfolgung

Aber diese Forscher – und allen voran ein gewisser Professor der Soziologie namens Martin Steinberg – waren der Meinung, dass wir mehr oder weniger zwangsläufig von äußeren Umständen beeinflusst würden. Ein bestimmter Muttertyp, bestimmte soziale und kulturelle Faktoren sollten mehr oder weniger automatisch einen bestimmten Menschenschlag hervorbringen. Aber so ist es nicht – bei Weitem nicht. Der Mensch ist viel komplexer.

Der Start in den zweiten Teil der Fortsetzung der Millenium-Reihe von David Lagercrantz nach Stieg Larsson ist überraschend, die Leserin findet die Protagonistin Lisbeth Salander im Gefängnis wieder. Diese Geschichte erweist sich als erstaunlich dicht, sie enthält eine Vielzahl gesellschaftlicher und sozialer Probleme und zusätzliche Protagonist*innen, die mit Lisbeths Kindheit und Jugend in Zusammenhang stehen.

Im obigen Zitat nehme ich Bezug auf ein soziologisches Experiment, dem Lisbeth, ohne es zu wissen, angehörte. Ich musste dabei darüber nachdenken, wie viel ich in meinen 6 Semestern Bildungswissenschaft über die ethischen und moralischen Schwierigkeiten mit soziologischen Experimenten gelernt habe. Es ist im Prinzip unmöglich, das Verhalten von Menschen unbeeinflusst zu beobachten: Es ist ethisch nicht vertretbar, Menschen ohne ihre Einwilligung zu beobachten. Sobald Menschen allerdings wissen, dass sie beobachtet werden, reagieren sie anders, als sie es ohne das Wissen, dass sie beobachtet werden, getan hätten. Unterschiedliche Formen von Bias wurden hierbei untersucht und definiert.

In der Gestalt der Familie Kazi wird auch ein religiöser Aspekt zum Thema; ein Bereich, der in meiner (kürzlich aufgefrischten) Erinnerung in den ersten drei (bzw. vier) Bänden keine Rolle spielte. Wobei eher die Kritik an der fundamentalistischen Auslegung des Korans durch die männlichen Familienmitglieder und die damit in Zusammenhang stehende Unterdrückung von Lisbeths Gefängnisnachbarin Faria Kazi im Vordergrund steht.

Jedenfalls handelt es sich hier um eine gelungene Fortsetzung der Reihe, die auf deutlich weniger Seiten als der vierte Band (in meinem Fall in der Onleihe-App mit angepasster Schriftgröße: Band 4: ~830, Band 5: –530) eine sehr dichte Kriminalgeschichte präsentiert, die (Achtung, es folgt ein Minispoiler) die Auflösung von Lisbeths Konfrontation mit ihrer Schwester Camilla in den 6. Band verschiebt.

Categories
Roman

Marilynne Robinson – Gilead

I’ve often been sorry to see a night end, even while I have loved seeing the dawn come.

Dieses Buch stand lange ganz oben auf der Liste der interessanten Bücher, was hauptsächlich daran liegen dürfte, dass ich es zu dem Zeitpunkt hinzugefügt hatte, als ich das letzte Mal meine diesbezüglichen Aufzeichnungen in ein anderes System (aktuell ein Spreadsheet mit Filtermöglichkeit danach, wo die jeweiligen Bücher verfügbar sind) transferiert hatte. Das dürfte im Sommer 2016 gewesen sein.

Mir war nicht bewusst gewesen, dass es sich um eine Reihe handelt (Gilead – Home – Lila), von der aktuell gerade der vierte Band mit dem Titel Jack erschienen ist. Obwohl ich große Schwierigkeiten hatte, mich in dieses Buch wirklich hineinzuversetzen, bin ich nun trotzdem neugierig, wie daraus eine Reihe werden soll.

Another morning, thank the Lord. A good night’s sleep, and no real discomfort to speak of.

Der Ich-Erzähler des Romans ist ein Mann am Ende seines Lebens, er fühlt das schrittweise Versagen seines Körpers und versucht, dankbar für jeden weiteren Tag zu sein, den er mit seiner deutlich jüngeren Frau und seinem Sohn verbringen kann. Er ist außerdem Priester und hadert mit sich selbst und den (negativen) Gefühlen, die er dem Sohn des Freundes (Jack) entgegenbringt. Das Geschriebene ist an den eigenen Sohn gerichtet, der diese Aufzeichnungen nach dem Tod des Vaters erhalten soll, dient aber eigentlich dem Nachsinnen über das Altern, über das Zurücklassen von Menschen, über das Gute und Böse an sich.

But are there people who are simply born evil, live evil lives, and then go to hell?

Passend zur „aktuellen Situation“ fand ich eine kurze Passage, die die Zeit der Spanischen Grippe beschreibt:

We lost so many of the young people. And we got off pretty lightly. People came to church wearing masks, if they came at all. They’d sit as far from each other as they could.

Notiert hatte ich mir das Buch übrigens aufgrund einer Empfehlung von Nick Hornby in All You Can Read. Er schreibt sinngemäß, dass die Begleitumstände, in denen wir Bücher lesen, unsere Wahrnehmung davon beeinflussen: ein Phänomen, das ich auch immer wieder an mir wahrnehme. Er schreibt über den Seelenfrieden, der sich in Gilead ausbreitet und den er zu diesem Zeitpunkt gerade dringend brauchte. Möglicherweise hätte ich mehr daraus ziehen können, hätte ich mir diese Empfehlung vorher nochmal durchgelesen und nicht die ganze Zeit darauf gewartet, dass etwas passiert. Es ist weniger eine Geschichte als eine Meditation über die Themen, die am Ende unseres Lebens noch wichtig sind und wie wir mit diesen Frieden machen können.

If you think how a thing we call a stone differs from a thing we call a dream – the degrees of unlikeness within the reality we know are very extreme, and what I wish to suggest is a much more absolute unlikeness, with which we exist, though our human circumstance creates in us a radically limited and peculiar notion of what existence is.