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Roman

Schulamit Meixner – ohnegrund

Ich müsste mir echt mal Notizen machen, warum ich ein bestimmtes Buch auf die Leseliste setze. Bei diesem weiß ich noch, dass ich kürzlich eine Rezension darüber gelesen habe, aber mehr schon nicht mehr. Weder in welchem Medium, noch was den Ausschlag gab. In der Onlinebücherei stolperte ich dann (zufällig?) darüber?

Der Roman beschreibt eine Familiengeschichte. Amy geht auf Betreiben ihrer lieblosen Eltern nach Tel Aviv, wo ihr Vater ihr einen Platz an der Kunstuni verschafft hat. Da ihr Cousin sie nicht vom Flughafen abholen kann, landet sie zufällig in den Armen von Nimrod, der sie bei sich aufnimmt und schließlich ihr Ehemann wird. Die Ehe bleibt nicht unbelastet, Nimrod verfolgt weiterhin seine eigenen Ziele, während Amy sich nur schwer im Leben zurechtfindet.

Um nicht die ganze Geschichte preiszugeben, sei nun abgekürzt gesagt, dass der Roman mit einem herrlich altklugen Kommentar von Amys und Nimrods Tochter Sharona endet. Jedem Kapitel ist ein Wetterbericht vorangestellt, der tiefere Sinn dahinter hat sich mir nicht erschlossen. Mitfühlend geschrieben, das Glanzlicht bleibt der Schluss. Ein wirklich guter Schluss und wie oft kann man das schon sagen?

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Klassiker Roman

Charles Dickens – David Copperfield

And now I fell into a state of neglect, which I cannot look back upon without compassion. I fell at once into a solitary condition,– apart from all friendly notice, apart from the society of all other boys of my own age, apart from all companionship but my own spiritless thoughts,– which seems to cast its gloom upon this paper as I write.

Charles Dickens also. Nachdem ich hiermit endlich durch bin, kann ich wohl sagen, er ist einfach nichts für mich. Weltliteratur – ja, vielleicht. So viele Vorleser können schließlich nicht irren. Und retrospektiv betrachtet, verstehe ich jetzt auch, warum John Irving in Gottes Werk und Teufels Beitrag seinen Dr. Larch den Waisenbuben daraus vorlesen lässt (der aktuelle Anlass für mich, diesen Wälzer endlich aus dem Regal zu nehmen). Aber für mich scheint der einfach nicht zu passen. Charles Dickens als Autor, meine ich. Das zeigte sich schon mit Große Erwartungen. Vor langer Zeit gelesen, Film gesehen, Theaterstück gesehen (im Renessaincetheater, erinnere mich nicht mehr genau, wann) und doch mit der Geschichte niemals warm geworden. Ähnlich ging es mir mit Oliver Twist.

But the agony of the mind, the remorse, and shame I felt, when I became conscious next day! My horror of having committed a thousand offenses I had forgotten, and which nothing could ever expiate – my recollection of that indelible look which Agnes had given me – the torturing impossibility of communicating with her, not knowing, beast that I was, how she came to be in London, or where she stayed – my disgust of the very sight of the room where the revel had been held – my racking head – the smell of smoke, the sight of glasses, the impossibility of going out, or even getting up! Oh, what a day it was!

Aber nun zu David Copperfield. Schon als Junge lernt er die Härten des Lebens kennen, sein Vater verstorben, seine Mutter erliegt einem Tyrannen, der sie psychisch schließlich bis in den Tod foltert und den jungen David dann schnellstmöglich los wird. So landet er auf sich selbst gestellt in London und arbeitet sich Stück für Stück hoch zum bekannten Autor. Dabei kann er immer wieder auf die Hilfe des bis zuletzt glücklosen Mr. Micawber zählen. Sein ehemaliger Schulkollege Steerforth führt David auf Abwege und entführt schließlich das Mädchen Emily, die David wie eine Schwester nahesteht. Der Schrecken seiner Jugend, Uriah Heep, verfolgt Copperfield lange Zeit, doch letztendlich findet er seine gerechte Strafe. Seine Jugendfreundin Agnes steht ihm stets zur Seite, auch, als er sich in Dora verliebt, ein pink aufgerüscheltes, dummes Blondchen, das sich nach der Heirat als äußerst unfähige Hausfrau erweist.

I had always felt my weakness, in comparison with her constancy and fortitude; and now I felt it more and more. Whatever I might have been to her, or she to me, if I had been more worthy of her long ago, I was not now, and she was not. The time was past. I had let it go by, and had deservedly lost her.

Was ich gerade so kurz zusammenfasse, zieht sich über viele 100 Seiten, oft steht die altmodische englische Sprache einem einfachen Verständnis des Geschehens im Weg (jaja, mein eigenes Problem, ich weiß), oft bringen auch die altmodischen Gesellschaftsdiktate der damaligen Zeit durcheinander. Ich will mich nicht aufschwingen, zu behaupten, Dickens wäre nicht mehr zeitgeistig, aber für mich war es das mit ihm. Die Plage, diese 716 Seiten im englischen Original zu lesen, war lang und oft wollte ich es bleiben lassen. So sollte Lesen eigentlich nicht sein, daher wende ich mich in nächster Zeit erfreulicherer Literatur zu. Mein Kindle-Archiv ist bis Auf 1Q84 leer und daher müssen dringend Bücher gekauft werden. Und der Büchereiausweis verlängert … für mehr Lesespaß 2013!

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Roman

Kazuo Ishiguro – Damals in Nagasaki

Margeriten

„So war mein Mann eben, Etsuko. Sehr streng, und sehr patriotisch. Er war nie besonders rücksichtsvoll. Aber er kam aus einer sehr angesehenen Familie, und meine Eltern hielten ihn für eine gute Partie. Ich habe mich nicht gewehrt, als er mir verbot, Englisch zu lernen. Es schien mir schließlich gar nicht mehr sinnvoll.“

Es ist eine seltsame Welt, die sich in diesem Roman entfaltet. Mich verstörte ziemlich von Anfang an die Distanz, mit der die Autorin die Geschehnisse schildert. Durch die unterschiedlichen Zeitebenen – die Mutter Etsuko mit ihrer Tochter Niki in England, die junge Etsuko, schwanger mit ihrem ersten Kind in Japan, hoffnungsvoll in die Zukunft blickend – scheint die Hauptfigur Etusko in Distanz zu ihrem eigenen Leben zu stehen. Wie man es vielleicht in so einer Situation – mehr als 20 Jahre später, am anderen Ende der Welt lebend – selbst empfinden könnte.

Seit Langem habe ich wieder ein Buch vom Wühltisch gekauft, im Kurzurlaub in Klagenfurt. Angezogen hat mich der bunte Umschlag, dann der Titel, japanische Kultur hat ja auf die Nerdgemeinde seit Längerem eine große Anziehungskraft und ich schließe mich da selbst nicht aus. Es scheint Japan in vielem eine andere Welt zu sein. Die hohe Selbstmordrate, die hohen Ansprüche, die die Menschen an sich selbst stellen, die Höflichkeit, ständige Achtsamkeit, um nur niemanden zu beleidigen. Selbst im Streit vollkommene Umgangsformen zu bewahren, das kennt man in Europa und speziell in Österreich so nicht. Diese Höflichkeit prägt in zweiter Linie die Geschichte in diesem Buch.

Der Klappentext verspricht schließlich, dass Etsuko „sich ihrer Vergangenheit stellen“ muss, das konnte ich jedoch im Buch eher nur in der Theorie erahnen. „Erschüttert taucht sie ein in eine Welt der Erinnerungen, Träume und Illusionen und blickt zurück auf die Zeit damals in Nagasaki, nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Welt, die sie kannte, in Trümmern lag …“. Von diesen Trümmern bekommt man als Leser nicht recht viel mit, auch der Konflikt, wegen dem Etsuko schließlich Japan verlassen hat, wird nur angedeutet. Probleme werden nicht thematisiert, selbst in emotionalen Momenten ist Zurückhaltung angesagt. In diesem Sinn ist das Buch vielleicht authentisch, vielleicht aber auch nicht. Als Außenstehender kann man das nicht beurteilen. Und so mag die Geschichte Einsichten liefern oder auch nicht. Kryptisch.

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Roman

Caryl Phillips – Jener Tag im Winter

Smoke

Seit er in die Jahre kommt, fällt es ihm zunehmend schwerer, sei es größere Menschenmengen, sei es laute Musik, die jeden Versuch einer Unterhaltung vereitelt, zu ertragen. Merkwürdig, denkt er, diese erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Umweltreizen. Er trinkt einen Schluck Wein und stellt sein Glas dann wieder auf die hölzerne Tischplatte.

„Jener Tag im Winter“ erzählt eine weitläufige Familiengeschichte, so vielschichtig, wie sie üblicherweise in der Realität geschrieben wird, allerdings sehen wir sie selten in allen Facetten. Der Protagonist Keith ist der Sohn eines Einwanderers, sein Vater Earl kam aus der Karibik nach England, um zu arbeiten, hat sich aber nie wirklich einleben können. Keith selbst lebt von seiner Frau getrennt, der gemeinsame Sohn Laurie steckt kurz vor seinem Schulabschluss und scheint zunehmend in schlechte Gesellschaft zu geraten. Der Alptraum aller Eltern. Trotz dieser bereits sich abzeichnenden Krisensituation wird die Stimmung zunehmend emotionsloser. Der Protagonist Keith scheint sich von der grausamen Welt abzuwenden.

Ich bin erst 22, mit einer dünnen Jacke und so einem albernen Strohhut, und die Leute auf dem Schiff streiten sich, ob der Frühling schon da ist ober ob’s noch Winter ist, aber ich spür, wie mir eine solche Kälte durch die Knochen geht, dass mir egal ist, ob die mich runterschmeißen und mich da direkt totmachen gleich am ersten Tag, sodass mir England, noch bevor ich von dem verdammten Schiff steig, auf Seele und Körper eindrischt, dass ich gleich von vornherein weiß, was für ‘ne Sorte Land das ist.

Erst als Keiths Vater mit einem Herzanfall ins Spital eingeliefert werden muss erklärt sich schrittweise, warum dieser alte, mürrische Mann so ist, wie er ist. Wie so oft zeigen sich die persönlichen Hinter- und Beweggründe erst spät oder nie. Was in Schweine züchten in Nazareth offen ausgesprochen bzw. geschrieben wurde, erschließt sich hier auf einer deutlich tiefer liegenden Ebene.

Die Kurzbeschreibung „Das einfühlsame Psychogramm eines Menschen in der Krise“ ist meiner Meinung nach zu oberflächlich. Natürlich ist es aus Sicht von Keith eine Krise. Aber wer würde nicht in eine Krise geraten, würde er mit solchen Veränderungen in seinem Leben konfrontiert? Wer möchte, kann auch die Folgen sehen, die Migration auf das Familiengefüge haben kann. So wie Earl nie Fuß fassen konnte in England, scheint nun auch Keith entwurzelt zu sein ohne Chance auf einen ruhigen Platz in seinem Leben. Letztendlich weiß er nicht mehr, wohin er gehört. Oder hat er es je gewusst?

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Klassiker Roman

Charles Dickens – Oliver Twist

StPauls_(c)_tokamuwi / PIXELIO

„Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ Der Schrei wird von hundert Stimmen aufgenommen, und an jeder Ecke wächst die Menge an. Dahin eilen sie, durch den Schmutz patschend und über das Pflaster klappernd; die Fenster fliegen auf, Leute rennen hinaus, der Pöbel drängt vorwärts, eine ganze Zuschauermenge verlässt im spannendsten Augenblick des Stücks den Punch, schließt sich der stürmenden Menge an, steigert das Gebrüll und gibt der Losung „Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ neue Kraft.

Die Geschichte des Waisenjungen Oliver Twist sollte man im Großen und Ganzen als bekannt voraussetzen. Hätte ich gedacht. Dass ich selber eigentlich kaum mehr darüber wusste, als den Beginn der Geschichte, als Oliver in die Hände des räuberischen Juden Fagin fällt, hat mich dann jedoch eines Besseren belehrt. Tatsächlich entfaltet sich hier eine Krimigeschichte, die die komplizierte Lebensgeschichte des Jungen Oliver erst ganz zum Schluss auflöst.

Kurzum, der verschlagene alte Jude hatte den Knaben in seinem Netz. Nachdem er durch Einsamkeit und Düsternis so auf sein Gemüt eingewirkt hatte, dass Oliver jede andere Gesellschaft der seiner traurigen Gedanken an diesem trostlosen Ort vorzog, träufelte er ihm nun nach und nach das Gift in die Seele, von dem er hoffte, es werde ihr für immer die natürliche Farbe nehmen und sie schwarz machen.

Das gelingt dem Juden nachweislich nicht, der gute Junge Oliver bleibt bei seiner herzensguten Einstellung und schlägt sich nachhaltig auf die Seite des Guten. Dafür wird er von seiner ihm nicht so wohlgeneigten Familie verfolgt, doch letztlich siegt wie so oft das Gute, mehr kann ich dazu kaum noch verraten.

„Ach“, sagte die alte Dame, „Maler stellen die Damen immer hübscher dar, als sie sind, sonst würden sie keine Kundschaft bekommen, Kind. Der Mann, der den Apparat zum Aufnehmen von Ebenbildern erfand, hätte wissen können, dass damit nie ein Erfolg zu erzielen ist, sie sind viel zu ehrlich. Viel zu ehrlich“, sagte die alte Dame und lachte herzlich über ihren Scharfsinn.

Mit dieser Vorhersage hat sich Dickens offensichtlich geirrt. Natürlich kannte er auch noch nicht die modernen Möglichkeiten, die uns die Bildbearbeitung beschert hat. Das folgende Beispiel dürfte allgemein bekannt sein, sollte hier aber der Vollständigkeit halber nochmal erwähnt werden:

Wer hätte gedacht, dass man so ein Video in einem Beitrag über Charles Dickens unterbringen kann?

Und wo wir schon bei Videos sind, hier hätten wir auch noch den Trailer zu einer Verfilmung von Roman Polanski aus dem Jahr 2005, die dem Thema aber eher den Charme eines Heimatfilms verleiht:

Weitere Informationen: WikipediaIMDBThe Complete Works of Charles Dickens

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Roman

Tony Parsons – Als wir unsterblich waren

Rock(c)Friedrich Hillenbrand/PIXELIO

„Ja, schon gut“, sagte sie. „Aber hey, es wäre so wie in On the Road. Sal Paradise und Dean Moriarty, du weißt schon.“ Sie dachte, dass ihn das überzeugen würde. Sie wusste, wie sehr er dieses Buch liebte.

Tony Parsons entpuppt sich überraschenderweise als Multitalent. Hier entfaltet sich ein Punk Rock Epos, das die Geschichte dreier Freunde erzählt, deren Leben sich in einer Nacht vollkommen verändert. Als die Nacht (des 16. August 1977, die Nachricht von Elvis Tod verbreitet sich wie ein Lauffeuer) beginnt, arbeiten alle drei bei The Paper und haben mit ihrem Leben weiter nichts vor, als von Party zu Party zu ziehen und den rivalisierenden Jugendgruppen aus dem Weg zu gehen, die hinter ihnen her sind, um sie zu verprügeln. Trotz allem kennen diese Musikkritiker nicht nur die neue Musik, sondern können sich (auf Speed) sogar für eine Puccini-Arie begeistern.

Aber irgendwas in dem über die Ruinen wehenden Puccini sagte Terry, dass er sie wollte und nur sie die eine war und er nur diese eine wollte. Er stand auf und gesellte sich zu seinen Freunden am Fenster. „Es ist die Arie aus Madame Butterfly“, sagte Leon. „Es geht um dieses japanische Mädchen und wie sie sich in diesen Amerikaner verliebt, einen Kapitän oder so – keine Ahnung. Er fährt dann zurück in seine Heimat und heiratet eine andere. Aber sie liebt ihn noch. Und sie sagt, dass ihre Liebe eines schönen Tages zurückkommen wird.“

Drogenverherrlichung findet natürlich in gewisser Weise statt, es entspricht dem Zeitgeist, eine solche Geschichte kann ohne Drogen schwerlich auskommen. Auf unaufdringliche Weise gelingt es Parsons jedoch auch, zu zeigen, dass Drogen unweigerlich zum Absturz führen und man sich an einem Punkt entscheiden muss, sein Leben zu ändern. Dies zeigt sich eindrucksvoll an den drei Protagonisten Ray, Terry und Leon, die sich letztendlich für neue Wege entscheiden.

Doch als er über die Kampfzonen blickte, die sich rund um die Dogs auftaten, und er all die Tage und Nächte ohne Schlaf auf sich lasten spürte, war es unmöglich, etwas anderes zu empfinden als eine Art erschöpfter Melancholie.

Während Terry und Leon dem jeweiligen perfekten Mädchen hinterherjagen, steht Ray vor der Aufgabe, noch in dieser Nacht John Lennon zu interviewen oder sein bisheriges Leben als Journalist bei The Paper geht den Bach runter. Das Happy End lässt sich im Gefühl zwar bereits frühzeitig erahnen, wie es sich jedoch letztendlich ergibt und dass Terry in dieser Angelegenheit zum Deus ex machina wird, der nicht nur seine eigenen Probleme in neue Bahnen lenkt sondern damit auch Ray zum großen Erfolg verhilft, ist eine schöne Wendung, die den Leser zu frieden zurücklässt. Auch Leon landet am Ende bei Jack Kerouac (der obige Absatz bezog sich auf Terry, der sich letztendlich zu einem neuen Leben gezwungen sieht). Leon erkennt auf die scheinbar schwerste und doch auch einfachste Weise, dass sein Leben so nicht weitergehen kann und es Zeit wird, zu neuen Ufern aufzubrechen.

Es waren die letzten Tage des Trampens. Lastwagenfahrer und Vertreter, die noch nie von Jack Kerouac oder On the Road gehört hatten, nahmen einen jungen Mann ohne Geld und mit rausgestrecktem Daumen schon mal mit, uns sei’s nur, um ein wenig Gesellschaft zu haben oder um etwas Gutes zu tun in einer schlechten Welt.

Ein wehmütiges und doch hoffnungsvolles Portrait des Erwachsenwerdens.

Fußnote: Der englische Titel „Stories we could tell“ trifft es meines Erachtens viel besser

Weitere Informationen: Tony Parsons Kolumne beim Daily MirrorRezension der Süddeutsche Zeitung

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Musical Sachbuch

Olaf Jubin – Entertainment in der Kritik

TimesSquare(c)TiM-Caspary/PIXELIO

„Die Erfahrung, dass ein persönlich empfundenes Schicksal mit dem Schicksal anderer Menschen übereinstimmt, hat etwas Tröstliches. Es lindert den Druck, den wir immer dann spüren, wenn wir meinen, mit unseren Erfahrungen ganz allein zu sein. Die kommunizierende Kraft des Theaters hebt das Gefühl, ein isoliertes Schicksal zu erleiden, weitgehend auf.“ (Hans Joachim Schäfer)

1.152 Seiten. Dreieinhalb Jahre. Den Großteil dieser Zeit ist dieses Werk natürlich halb gelesen irgendwo in der Wohnung herumgegammelt, weil mich die Trockenheit dieser Untersuchung teilweise wirklich körperlich niedergeschlagen hat. Als Abendlektüre vor dem Schlafengehen eignet sich eine Studie zum Thema Musicalkritiken natürlich ebensowenig als wie zur Unterhaltung an einem lauen Sommerabend. Daher habe ich wie gesagt seit März 2007 kontinuierlich an diesem Werk gelesen und für den zweiten Teil habe ich nicht mal mehr so lange gebraucht (was möglicherweise an den Tabellen der Auswertung lag, die ich mir nicht alle im Detail angesehen habe).

Olaf Jubin ist mit dem Genre Musical sichtlich innig verbunden. Jedem Kapital stellt er den Titel eines Musicalsongs zur Überschrift. Das klingt jetzt nicht so gigantisch, wenn man sich jedoch vor Augen führt, dass seine Überschriften oft bis zur siebten oder achten Ebene gehen und er in den Quellenangaben akribisch Songtitel, Stück, Komponist und Lyricist aufführt, so kann man da schon mal Anerkennung zollen.

Als ganz großen Kritikpunkt muss ich die übertriebene Wertlegung auf gender-neutrale Berufsbezeichnungen anführen. Nach meiner Meinung kann man sich auch als Frau als Journalist oder Mitarbeiter angesprochen fühlen und die Beeinträchtigung des Leseflusses stört mich hier vielmehr als eine möglicherweise fehlende weibliche Berufsbezeichnung. Die letzten 50 Seiten des Werkes wären möglicherweise weggefallen (was wiederum Papier sparte), hätte man sich solche Orgien erspart:

Wenn er/sie allerdings nicht gerade die Finanzierung eines Stückes in Angriff nimmt, reduziert selbst ein(e) etablierte(r) ProduzentIn weitestgehend seinen/ihren Mitarbeiterstab und zwar auf eine(n) GeschäftsführerIn, eine(n) Assistenten/Assistentin und eine(n) LektorIn, der/die nach potentiellen Stücken Ausschau hält.

Im ersten Band erläutert Olaf Jubin erst das Genre und dann die beiden zu untersuchenden Komponisten. Dabei stellt er allerhand interessante Überlegungen zum Thema an und wirft geradezu mit Fachwissen und Recherchen um sich.

Das Genre erzielt also Komplexität durch das Zusammenspiel seiner verschiedenen Bestandteile, von denen jeder für sich genommen – und das gilt besonders für das Buch – diese Eigenschaft nur bedingt aufweisen kann: „Simple characters in a musical book can be full and memorable because they have the richness of music, song, and dance to make them alive in performance.“

Aus meiner Erfahrung war ich eigentlich seit langem der Ansicht, dass ein Musical nicht wirklich gut werden kann, wenn die zugrunde liegende Geschichte nicht passt. Hier wird jedoch die These geäußert, dass die Charaktere erst durch das Zusammenspiel aus Tanz und Gesang Komplexität gewinnen. In weiterer Folge wird auch erläutert, dass Uneinigkeit darüber herrscht, ob Musiknummern die Handlung weitertreiben sollen. Brechen die Charaktere überleitungsfrei in Gesang aus, scheinbar ohne einen Anlass, ist das immer wieder Anlass zur Kritik und ergibt im Allgemeinen einen Bruch der Handlung. Andere Journalisten wiederum erwarten Gesang und Geschichte getrennt. Als Überbegriff wird der Begriff „book trouble“ eingeführt:

Aaron Frankel erläutert, dass darunter in erster Linie ein wie auch immer gearteter Bruch zwischen Dialogstellen und Musiknummern gemeint ist: „,Book trouble’ only means that the elements not put to music fail in craft or in imagination to match those which are. The drop from one energy level to the other shows through.“

In weiterer Folge stellt Olaf Jubin im ersten Band die zu besprechenden Komponisten Stephen Sondheim und Andrew Lloyd Webber vor und wirft einen detaillierten Blick auf deren Karriere bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Werkes (2003, heute also schon etwas angestaubt).

Der zweite Band beschäftigt sich dann mit der intensiven Untersuchung der Kritiken zu Werken von Sondheim und Lloyd Webber. Dabei widmet sich der Autor sehr detailliert den Fragen der Inhalte der Kritiken beispielsweise welche Mitwirkende genannt werden, werden diese bewertet, wie wird das Werk selbst bewertet, welchen Mitwirkenden wird die größte Wichtigkeit beigemessen und vieles mehr. Ins Auge fällt immer wieder, dass Olaf Jubin mit dem Fachwissen der deutschsprachigen Journalisten zum Thema Musical ganz und gar nicht zufrieden ist. Bemerkungen wie diese fallen öfter:

Die wenigen konkreten Gegenüberstellungen beschränken sich zudem auf lediglich vier der insgesamt 19 Sondheim-Musicals im Sample, und diese vier waren alle in Deutschland oder Österreich zu sehen, während Verweise auf Werke des amerikanischen Komponisten, die bislang nur am Broadway und/oder im West End gespielt wurden, völlig unterbleiben. Derartige Verweise würden größeres Fachwissen erfordern, als die meisten deutschsprachigen RezensentInnen mitbringen.

Hier kann ich natürlich nicht umhin, anzumerken, dass Olaf Jubin die Arbeitsbedingungen der deutschsprachigen MusicaljournalistInnen sichtlich nicht bekannt sind. Um Werke von Stephen Sondheim, die in Europa bisher nicht zur Aufführung kamen, zu sehen, bleibt dann wohl nur eine regelmäßige Reise nach New York, was die meisten Arbeitgeber wohl kaum finanzieren werden und vor allem für den freien Journalisten, der seine Reisen selbst finanzieren muss, nicht machbar ist. In den Tageszeitungen gibt es überdies selten Journalisten, die sich nur mit dem Thema Musical beschäftigen. Da diese auch Fachwissen zu anderen Theatergattungen besitzen müssen, kann man ihnen wohl kaum mangelndes Fachwissen in diesem speziellen Bereich zum Vorwurf machen.

Gerade für Journalisten aus diesem Bereich stellt dieses Werk trotzdem eine interessante Betrachtung der eigenen Arbeit dar. Man hinterfragt möglicherweise seine eigenen Strukturen, die sich im Laufe der Jahre der Arbeit von selbst ergeben. Ist dem Komponisten mehr Bedeutung einzuräumen als dem Textdichter? Gerade im deutschsprachigen Raum hat man es außerdem oft mit Übersetzungen zu tun, wo man sich vielleicht öfter die Mühe machen sollte, das Originallibretto intensiver mit dem deutschen Text zu vergleichen. Aus Zeitgründen ist dies leider allzu oft nicht möglich. In jedem Fall muss der Leser auf 1.152 Seiten irgend etwas finden, was ihm zur Fortbildung gereicht, man sollte sich jedoch darauf gefasst machen, bisweilen etwas Flüssigkeit zum Begießen vorrätig zu halten, damit die Trockenheit nicht allzu sehr staubt.

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Roman

Eva Menasse – Vienna

„Die Tränen, die er nie geweint hat“, sagte mein jüngerer Vetter nachdenklich. „Mein Gott, was bist du für ein Pathetiker“, ächzte mein älterer Vetter, und mein Vater tat, als habe er von dieser ganzen Lainz-Burma-Geschichte überhaupt nichts mitbekommen. In meiner Familie schämt man sich für Emotionen bis auf die Knochen.

Liest man diese unterhaltsamen Familiencharakteristik, kommt einem nicht eine einzige Sekunde in den Sinn, es könnte der erste Roman der Journalistin Eva Menasse sein. Eine Sammlung von Familienanekdoten fügt sich Stück für Stück zu einem Portrait von unterschiedlichsten Figuren über mehrere Generationen zusammen. Wirklich erfassen kann man die Familie wohl nur, wenn man sich während des Lesens die Zeit nimmt, den Familienstammbaum zusammenzustellen. Über den Krieg, die Geschichten der Großeltern und der resoluten Tante Gustl bis zum jüdischen Fundamentalismus des Bruders und der Vettern breitet sich die Familiengeschichte zu einem Panoptikum aus skurrilen und doch liebenswerten Persönlichkeiten aus.

Meine Schwester schien ihn anfangs gar nicht zu bemerken. Sie, deren Schönheit nun allerorten gepriesen wurde – „a fesche Katz“, gestanden sogar die Würfelmonster zu –, gab sich gerne den Anstrich hoheitlichen Desinteresses. Sie glaubte wohl selbst, daß auf sie jemand ganz Besonderer warte, eine Art Märchenprinz für die verwöhnte Prinzessin.

Charmante Wiener Eigenarten bilden die charakteristische Grundlage der Familientradition. Die Bridge-süchtige Großmutter und der Tennisclub prägen die Generationen über Jahrzehnte hinaus. Im Tennisclub sind auch die so genannten „Würfelmonster“ – dem Würfelspiel verfallene ältere Damen mit erbarmungslos scharfen Zungen – zuhause, so manche Episode nimmt hier ihren Ausgang.

Wenn das begann, wenn die alten Familiengeschichten zum tausendsten Mal heraufbeschworen, durchgekaut und neu interpretiert wurden, flüchteten sich die angeheirateten Frauen theatralisch eine Weile lang in die Küche, weil sie es angeblich „nicht mehr hören konnten“, England, Burma, Fußball, Film, das ‘Weißkopf’, die abgefeimte Tante Gustl und der Sohn, der irgendwelche klebrigen Mehlspeisen gestohlen hat. Aber sie kamen bald wieder zurück, denn obwohl sie es nie zugegeben hätten, liebten sie es längst genauso, das mehrstimmige Pointenfeuerwerk, die nicht endenwollende Serie ‘echter Königsbees’, die ganze Heimeligkeit dieses familiären Sagengutes, in das wir uns lustvoll einwickelten, weil es unser flüchtiges Zusammensein mit einer kurzen, aber kräftigen Wurzel in der Vergangenheit verankerte.

Doch nicht die so bekannte jüdische Jammerei über Benachteiligungen und Kriegsblessuren prägen diesen Roman, nicht die nervtötende Neurotik einer Lily Brett, nicht die intellektuelle Kulturkritik einer Siri Hustvedt. Die Familie ist das beherrschende Thema und dass diese Familie uns unser ganzes Leben lang begleiten wird, ob uns das nun gefällt oder nicht. Eine gleichzeitig beängstigende und beruhigende Schlussfolgerung, die jeden die Schrulligkeiten der eigenen Familienmitglieder für einen kurzen Moment mit anderen Augen sehen lässt.

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Krimi Roman Thriller Unterhaltung

Stieg Larsson – Verblendung

„Wir sind jetzt beim Kern meines Anliegens angekommen. Ich möchte, dass Sie herausfinden, wer in der Familie Harriet ermordet und danach fast vierzig Jahre versucht hat, mich in den Wahnsinn zu treiben.“

Selten kann man sich an einem Krimi erfreuen, der mit einer derartigen Präzision mehrere Handlungsebenen miteinander veknüpft und auf keiner einzigen dieser Ebenen scheitert.

Über die Handlung möchte ich an dieser Stelle nicht allzu viel sagen, dass ich diesen Roman jedem herzlich empfehlen möchte und daher nicht die Spannung zerstören möchte. Ein Handlungsverlauf durch mehrere Länder garantiert einen Spannungsbogen, der die Schicksale der Hauptpersonen sowohl auf beruflicher als auch privater Ebene immer wieder neu miteinander verwebt.

Aber nicht nur die Geschichte selbst ist ein Meisterwerk der Verknüpfung der Handlungsebenen, sondern auch und gerade die Gestaltung der Hauptpersonen macht diesen Roman zu dem Vergnügen, das sich auf beinahe 700 Seiten ausbreitet. Im Vordergrund steht in erster Linie der Journalist Mikael Blomkvist, der sich zwar mit Scharfblick auszeichnet, jedoch scheinbar ohne Emotionen durch die Betten der Frauen hüpft, die sich ihm auf seinem Weg ergeben. Seine Geschäftspartnerin und langjährige Geliebte Erika Berger – mit einem anderen verheiratet – ist ihm als langjährige Freundin eine wichtige Stütze auf seinem Weg, spielt jedoch emotional nur eine Nebenrolle.

Grandios gelungen ist jedoch das Charakterportrait von Lisbeth Salander. In jedem Kapitel entwickelt sie neue Facetten, jede einzelne überzeugend und konsequent illustriert. Als „schwieriges Kind“ aufgewachsen, ihre Mutter heute dement im Altersheim, sie selbst unter der Vormundschaft eines Anwalts, der ihre finanziellen Verhältnisse verwaltet. Gleichzeitig ist sie hochintelligent, kann die komplexesten Vorgänge entwirren und tummelt sich als Hackerin in den Welten des Internet. Als private Ermittlerin ist sie sehr erfolgreich, weshalb es auch zur Zusammenarbeit mit Mikael Blomkvist kommt, über den sie zuvor ein ausführliches Dossier erstellt hat, dass ihm selbst die Sprache verschlägt, als er es zu Gesicht bekommt. Sie allein trägt alle Emotionen in sich, die Stieg Larsson seinen Personen zugesteht, und diese lebt sie auch immer wieder grenzenlos aus. Gleichzeitig handelt sie nach raffinierter Planung mit kühler Präzision, wenn die Situation dies erfordert. Mit diesem grandiosen Charakterportrait allein hat Stieg Larsson eine großartige Leistung abgeliefert. Die Verfilmung werde ich mir wohl kaum ansehen, schon allein, weil mir einige Szenen sicher Alpträume verursachen würden. In den Trailern (Beispiel) macht die schwedische Schauspielerin Noomi Rapace einen soliden Eindruck, ob es ihr jedoch gelingt, die emotionale Tiefe dieser Figur auch zu verkörpern, muss jeder selbst beurteilen.

Eine Warnung sei jedoch anschließend ausgesprochen: Nach der Lektüre dieses Werkes könnte einem ein Brunetti und selbst ein Wallander etwas blass erscheinen.

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Roman

Bernard Cornwell – Schwertgesang

Wikingerschiff (c) Cellblock / PIXELIO

Da verging meine Furcht. Sie wurde von einer Woge des Stolzes und des Machtgefühls weggespült. Ich bezweifelte Bjorns Botschaft nicht, denn die Götter sprechen nicht leichtfertig, und die Spinnerinnen kennen unser Schicksal. Wir Sachsen sagen „wyrd bid ful araed“, und sogar die Christen glauben an diese Wahrheit. Das Schicksal ist unausweichlich. Das Schicksal lässt sich nicht ändern. Das Schicksal herrscht über uns. Unsere Leben werden gemacht, bevor wir sie leben. Und ich sollte König von Mercien werden.

Wie es schon der Hinweis auf das Schicksal verkündet, kommt es natürlich ganz anders. Mit faulem Zauber versuchen die Dänen Uthred zum Verrat an Alfred zu bewegen, dem er seinen Schwur geleistet hat. Und im Laufe dieses Romans wird Uthred einen weiteren Schwur leisten, obwohl sein einziger Wunsch (neben dem Töten von Dänen) darin besteht, von Alfred aus seinem Schwur entlassen zu werden.

London wird erobert, immer wieder wendet sich das Blatt, kaum glaubt man, jetzt ist alles klar, ergibt sich die nächste Überraschung, die die Spinnerinnen für Uthred und seine Mitstreiter und Feinde ausgeheckt haben. Ein weiterer Roman kündigt sich an und ich hoffe in aller Ehrlichkeit, dass Cornwell noch viele Abenteuer für Uthred in Planung hat, bevor dieser seine Bebbanburg wieder erobern darf.