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Roman

Fabio Volo – Einfach losfahren

Eibe Macro made with Cam+ & Olloclip

Etwas Außergewöhnliches, das befreit werden musste. Ich, der im Käfig Gefangene, wollte hingehen und die Leute befreien. Vielleicht war es ein Automatismus. Da ich mich nicht selbst befreien konnte, versuchte ich die anderen zu befreien, nur dass mir das geeignete Handwerkszeug dazu fehlte.

In diesem Roman beschreibt Fabio Volo den Entwicklungsprozess eines jungen Mannes, der seinen Platz im Leben sucht. Scheinbar leichtfüßig hüpft er zuerst wie ein Grashüpfer durchs Leben. Erst durch den Tod seines Freundes Federico, der sein Leben auf den Kopf gestellt und auf Reisen das Glück gefunden hatte, wacht Michele auf und entdeckt die Leere in seinem Leben.

In dieser Zeit war ich Rassist, ich hasste alle, denen es schlechthin. Nur mein Leid war echt und real, glaubte ich, während Leute mit Liebeskummer zum Beispiel nicht das Recht hatten, auch nur den dicken Zeh ins große schwarze Meer des Schmerzes zu tauchen.

Aus den Trümmern seines bisherigen Lebens bricht Michele nun aus, um die Frau kennenzulernen, die Federiges Leben verändert hat. Mehrere Monate hilft er Sophie beim Aufbau ihrer Posada und lernt dadurch ein anderes Leben kennen. Einfache Arbeit, einfaches Leben, Glück in der Natur finden, Gemeinschaft und schließlich Zufriedenheit mit sich selbst. Dabei geht Michele durch unterschiedlichste Phasen der Trauer um Federico, des Zweifelns an den eigenen Werten und an seinen Beziehungen. Einziger Wermutstropfen aus meiner Sicht ist die beinahe zu perfekte Beziehung, die Michele schließlich mit Francesca findet. In meinen Augen kann niemand ständig so ausgeglichen sein und niemals an seinem Leben oder seiner Liebe zweifeln. Aber lassen wir das Happy End einfach mal so stehen und nehmen wir mit, was uns auf unserem eigenen Weg helfen kann: Manchmal muss man aussteigen, um den Durchblick zu bekommen.

If you don’t know where you are going, any road will take you there.

Lewis Carroll (Alice’s Adventures in Wonderland)

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Roman

Jonathan Tropper – Mein fast perfektes Leben

Radieschen

Ich benenne sie nach ihren Artgenossen aus irgendwelchen Kinderbüchern. Anschließend tue ich alles in meiner Macht Stehende, um ihnen den Schädel einzuwerfen, denn sie führen mir vor Augen, wo ich selbst gerade bin: gestrandet in diesem Leben, das ich niemals geplant hatte.

Wir steigen an einem dunklen Punkt in Dougs Leben ein. Seine Frau Hailey ist bei einem Flugzeugabsturz umgekommen. Doug trauert. Er wirft mit Steinen nach frei laufenden Kaninchen, muss sich mit Haileys pubertierendem Sohn Russ herumschlagen und sich den Hilfsversuchen seiner Familie widersetzen. Zu viel für einen einsamen Witwer?

„Du hast deine Frau verloren, Douglas, und es bricht mir das Herz, mit ansehen zu müssen, wie schlecht es dir geht. Aber ich verliere meinen Mann jeden Tag aufs Neue. Und ich kann noch nicht einmal um ihn trauern.“

Wir verfolgen, wie Doug Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden muss. Seine Familienverhältnisse explodieren und lassen nicht mehr zu, dass sich Doug mit seiner Trauer allein in seinem Haus verkriecht. Er übernimmt die Verantwortung für Russ, als dessen Vater mit seiner neuen Frau nach Florida zieht. Seine Schwester Claire verkracht sich mit ihrem Mann Stephen und zieht bei Doug ein. Und schließlich muss er auch einsehen, das seine Mutter mit seinem demenzkranken Vater Tag für Tag leidet. Letztlich geht es um die Akzeptanz der eigenen Gefühle und Gedanken. Denn Doug fühlt sich auch noch schuldig, wenn er langsam wieder ins Leben zurückfindet.

Mein ganzes Leben wird richtig toll, und das alles nur, weil Hailey bei einem Flugzeugabsturz gestorben ist. Ich weiß nicht genau, wann es passieren wird, aber irgendwann wird der Tag kommen, an dem ich die Grenze überschreite. … Der Gedanke, dass ich dieser Mensch werden könnte, der die Zeit nicht zurückdrehen will, selbst wenn er sie dadurch retten könnte …

Das alles beschreibt Jonathan Tropfer mit beißendem Humor und ausreichend Sarkasmus, sodass aus der Trauergeschichte in Züruck ins Leben wird und man die Veränderung in Dougs Verhalten nicht nur liest, sondern sogar spürt. Und dann auch noch eine grandios verschriftlichte Datingkatastrophe, wie man sie sich nicht mal in den schlimmsten RomComs vorstellt … alle Facetten des Lebens und der menschlichen Gefühle spiegeln sich in diesem Roman und seinen detailliert gezeichneten Figuren wieder. Es gibt keine Statisten, selbst der gehörnte Ehemann Dave Potter erhält seinen großen Auftritt. Wie das Leben selbst.

„So ist das Leben nun mal. Es gibt keine Happy Ends, nur glückliche Tage, glückliche Momente. Das einzige Ende ist der Tod, und glaub mir, niemand stirbt glücklich. Solange man noch nicht sterben muss, zahlt man dafür eben den Preis, dass sich alles ständig ändert. Das Einzige, worauf man sich verlassen kann, ist die Tatsache, dass man sich auf nichts verlassen kann.“

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Roman

Alex Capus – Léon und Louise

Melly in der Lammach

Ich liebe Dich und bin in großer Sorge um Dich, mein Léon, das habe ich noch gar nicht gesagt; hoffentlich, hoffentlich tun Dir die Nazis nichts an. Pass auf Dich und die Deinen auf und halt Dich von allen Gefahren fern, sei vorsichtig und so glücklich als möglich, spiel nicht den Helden und bleib gesund und vergiss mich nicht!

Eine Liebesgeschichte zu Zeiten des zweiten Weltkriegs. Erst kürzlich auf meiner Liste gelandet, das Taschenbuch ist gerade erschienen, ich habe stattdessen das Kindle-Buch gekauft. Beim Lesen fiel mir zum ersten Mal eine überraschende Häufung von Weltkriegsgeschichten auf. Nur in meiner Lesewelt oder zeichnet sich da ein allgemeiner Trend ab? Die meisten meiner Bücher sind ja nicht frisch erschienen, also vielleicht doch eine unbewusste Wahl …

Dieser schlingende, grunzende Moloch musste die ganze Zeit in der strengen Wärterin gewartet haben, die Yvonne während der Kriegsjahre gewesen war; diese Wächterin wiederum hatte zuvor in der lasziven Diva gesteckt, jene in der zerquälten Ehefrau und diese schließlich in der koketten Braut; Léon fragte sich, mit welchen Metamorphosen ihn diese Frau in Zukunft noch überraschen würde.

Zwei Frauen gibt es in Léons Leben. Louise hat er bereits als junger Mann kennengelernt, doch gerade als die beiden sich näherkommen, werden sie durch den Krieg auseinandergerissen. Jeder hält den anderen für tot, falsche Auskünfte machen jede Hoffnung zunichte. Erst Jahre später laufen sie sich in Paris zufällig über den Weg und sind beide überrascht, den anderen am Leben zu finden. Doch Léon ist inzwischen verheiratet mit Yvonne, einer starken Frau, die er auf eine andere Art liebt. Das Leben reißt Léon und Louise auseinander und führt sie doch wieder zusammen, auch wenn sie nicht zusammen leben können. Eine Geschichte über eine Liebe, die Jahre, Kriege und Einsamkeit überdauert. Eine Geschichte, die Hoffnung macht.

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Roman

Gottfried Keller – Der grüne Heinrich

Yellow Flower

Aber leider setzte ich, anstatt mich der praktischeren und beliebteren Waffen meiner Genossen zu bedienen, knabenhafter- und ungalanterweise den Mädchen ihre eigene Kriegführung entgegen. Der trotzige Stoizismus, welchen ich gegen das jungfräuliche Selbstgenügen aufwandte, warf mich um so schneller in eine einsame und gefährliche Stellung, als ich in meiner Einfalt augenblicklich selber daran glaubte und mit heftigem Ernste verfuhr.

Wenn mich die Erinnerung an den Deutschunterricht nicht trügt, handelt es sich beim grünen Heinrich um einen Klassiker der Kategorie „Entwicklungsroman“. Tatsächlich beschreibt der Roman auch Heinrichs Entwicklung vom glücklosen Schüler zum glücklosen Maler. Der erste Teil konzentriert sich auf die Jugendjahre, Heinrichs erste Verliebtheit in die Lehrertochter Anna, seine Affinität zur Landschaftsmalerei. Da Heinrichs Vater verstorben ist, lässt ihm die Mutter alle Freiheiten und ermöglicht es ihm schließlich auch, in der fremden Stadt als Maler sein Glück zu versuchen.

Auch nachdem ich aufgeblickt, veränderte sie Haltung und Ausdruck nicht sofort, und erst als ihre Augen auch einen feuchtern Glanz bekamen, nahm sie sich zusammen. Das Bild dieses Augenblickes ist mir auch geblieben gleich dem stillen Glanz eines Sternes, den man einmal in ungewöhnlich klarer Luft leuchten sah und niemals vergisst.

Dort lernt Heinrich viele andere Künstler sowie diverse Frauen kennen, kann sich jedoch als Maler nicht wirklich durchsetzen. Es könnte ein wichtiger Aspekt sein, dass dieser Heinrich sich einfach nur treiben lässt. Er fühlt sich nicht wirklich verantwortlich, er tappt von einer Gelegenheit zur Nächsten ohne viel Sorgen, ohne Ziel. Als ihm schließlich das Geld ausgeht, verkauft er erst sein gesamtes Werk an einen Trödler und verdingt sich anschließend dort als Fahnenstangenmaler. Erst als er sich tatsächlich nicht mehr zu helfen weiß und sich zu Fuß auf den Weg in die Heimat macht, ist ihm schließlich das Glück hold. Dass seine Existenz als „gewöhnlicher“ Beamter endet anstatt als erfolgreicher Maler spricht eine andere Sprache. Ein äußerst zähes Werk der oben genannten Kategorie mit minimalem Erkenntnisgewinn für den Leser.

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Roman

Kazuo Ishiguro – Damals in Nagasaki

Margeriten

„So war mein Mann eben, Etsuko. Sehr streng, und sehr patriotisch. Er war nie besonders rücksichtsvoll. Aber er kam aus einer sehr angesehenen Familie, und meine Eltern hielten ihn für eine gute Partie. Ich habe mich nicht gewehrt, als er mir verbot, Englisch zu lernen. Es schien mir schließlich gar nicht mehr sinnvoll.“

Es ist eine seltsame Welt, die sich in diesem Roman entfaltet. Mich verstörte ziemlich von Anfang an die Distanz, mit der die Autorin die Geschehnisse schildert. Durch die unterschiedlichen Zeitebenen – die Mutter Etsuko mit ihrer Tochter Niki in England, die junge Etsuko, schwanger mit ihrem ersten Kind in Japan, hoffnungsvoll in die Zukunft blickend – scheint die Hauptfigur Etusko in Distanz zu ihrem eigenen Leben zu stehen. Wie man es vielleicht in so einer Situation – mehr als 20 Jahre später, am anderen Ende der Welt lebend – selbst empfinden könnte.

Seit Langem habe ich wieder ein Buch vom Wühltisch gekauft, im Kurzurlaub in Klagenfurt. Angezogen hat mich der bunte Umschlag, dann der Titel, japanische Kultur hat ja auf die Nerdgemeinde seit Längerem eine große Anziehungskraft und ich schließe mich da selbst nicht aus. Es scheint Japan in vielem eine andere Welt zu sein. Die hohe Selbstmordrate, die hohen Ansprüche, die die Menschen an sich selbst stellen, die Höflichkeit, ständige Achtsamkeit, um nur niemanden zu beleidigen. Selbst im Streit vollkommene Umgangsformen zu bewahren, das kennt man in Europa und speziell in Österreich so nicht. Diese Höflichkeit prägt in zweiter Linie die Geschichte in diesem Buch.

Der Klappentext verspricht schließlich, dass Etsuko „sich ihrer Vergangenheit stellen“ muss, das konnte ich jedoch im Buch eher nur in der Theorie erahnen. „Erschüttert taucht sie ein in eine Welt der Erinnerungen, Träume und Illusionen und blickt zurück auf die Zeit damals in Nagasaki, nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Welt, die sie kannte, in Trümmern lag …“. Von diesen Trümmern bekommt man als Leser nicht recht viel mit, auch der Konflikt, wegen dem Etsuko schließlich Japan verlassen hat, wird nur angedeutet. Probleme werden nicht thematisiert, selbst in emotionalen Momenten ist Zurückhaltung angesagt. In diesem Sinn ist das Buch vielleicht authentisch, vielleicht aber auch nicht. Als Außenstehender kann man das nicht beurteilen. Und so mag die Geschichte Einsichten liefern oder auch nicht. Kryptisch.

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Roman

Cornelia Travnicek – Chucks

Denkmal auf der Donauinsel vor dem Millenium Tower in Wien

Sie seien gegen die Traurigkeit, sagte meine Mutter. Der süße Nachgeschmack, kurz und intensiv, verbreite sich in meinem Mund immer genau in dem Moment, wenn sie die Tür schloss und es plötzlich dunkel in meinem Zimmer war. Aurum metallicum. In meinen Träumen nahmen die Globuli den Platz eines fremdländischen Zaubermittels ein, magische Kügelchen aus einem Land, in dem es sicherlich auch fliegende Teppiche und Wunderlampen gibt.

Die Ich-Erzählerin in Cornelia Travniceks berührendem Roman Chucks lebt ein bewegtes Leben. Bewegt ist auch die Erzählung desselben, sie springt zwischen verschiedenen Zeitebenen nahezu willkürlich herum. Und doch fügt sich das Bild zu einem harmonischen Ganzen. Der Tod des Bruders prägt die junge Frau entscheidend. Das scheinbar von Zwängen freie Leben der Aussteigerin Tamara, die in U-Bahnen und abbruchsreifen Häusern lebt, übt eine Anziehungskraft auf die Protagonistin aus, die nicht weiß, was sie vom Leben will.

„Im Falle eines Unfalles“, wiederhole ich mit affiger Stimme. Ich sehe schon einen Baum näher kommen, sehe, wie sich die Schnauze des Autos langsam, wie bei den Crashtests im Fernsehen, zusammenfaltet, sehe, wie die Airbags sich aufblasen und auf einmal da sind, wie meine Füße nach oben geschleudert werden, meine Nase ein blutiges Loch ist. Warum sich die lange Mitte unseres Lebens immer um den unvermeidlichen Anfang und das zu vermeidende Ende dreht.

Wer hat sich noch nicht vorgestellt, das Schlimmstmögliche würde nun eintreten und sich die grausigen Folgen ausgemalt? Ich denke, es wird vielen Lesern so gehen, dass sie ein oder mehrere Situationen auch schon erlebt haben. Obwohl das Schicksal der Protagonistin aus bekannten Versatzstücken zu bestehen scheint, langweilt man sich nie, auch wenn man Bekanntes findet. Der Druck, das Leben nutzen und möglichst sinnvoll befüllen zu müssen, kann jeden mal dazu treiben, den Ausstieg zu suchen und einfach zu gehen. Viele widerstrebende Gefühle werden so thematisiert und die Beschäftigung mit einem langsamen und quälenden Sterben könnte kaum gleichzeitig so distanziert und lebensnah beschrieben werden. Und wenn das noch nicht reichen sollte, dann sollten es alltagspoetische Sätze wie dieser tun:

Neben unseren Füßen zieht eine leere Fast-Food-Verpackung vorbei wie urbanes Tumbleweed.

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Roman

Kathrin Gerlof – Alle Zeit

Osterschnee

Es ist erstaunlich, dass ich in diesem Buch keine Zitate gefunden habe, die ich als charakteristisch für die Geschichte empfinde. Andererseits kann man es auch so interpretieren, dass ich so in die Geschichte gezogen wurde, dass ich darauf einfach nicht mehr geachtet habe.

Die Sprache ist einfach, Alltagssprache sozusagen, Kathrin Gerlof erzählt eine Geschichte, wie sie die Familiengeschichte der Nachbarin sein könnte. Vier Frauen sind Protagonistin dieser Geschichte, sie repräsentieren 4 Generationen einer Familie. Die Älteste, Klara, lebt vereinsamt im Altenheim und verfällt zusehends der Demenz. Die jüngste, Juli, ist soeben selbst im zarten Teenageralter Mutter geworden und sucht nach der Urgroßmutter, die ihr tatsächlich so nah ist. Die beiden dazwischen, Julis Mutter Elisa sowie deren Mutter Henriette, sind kürzlich bei einem Autounfall verstorben. Doch auch ihre Geschichte wird in einer Rückblende erzählt. So entfaltet sich ein Familienpanorama, das Platz für unterschiedlichste Blickwinkel auf das Leben bietet. Nebenschauplätze sind die Krebserkrankung der Kellnerin, die im Park das Verbindungsglied zwischen Juli und Klara sein könnte, sowie die späte Liebe von Klara und Aaron, die sich aus dem Altenheim davonstehlen, um ein bißchen Glück zu erleben. Man fühlt mit allen beschriebenen Personen mit, Antagonisten fehlen vollkommen (sieht man von einer unfreundlichen Pflegerin im Altenheim ab), und doch ist die Geschichte reich an Konflikten unter den beschriebenen Frauen. Eine Meisterleistung, diese tief im Leben verwurzelte Geschichte, die den Blick öffnet für die Perspektiven der unterschiedlichen Generationen. Leseempfehlung.

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Roman

Ildefonso Falcones – Die Pfeiler des Glaubens

Mezquita (c) Daniel Vattay SXC

Sein ganzes Leben war immer gleich verlaufen, dachte er, während eine Dame in einem blauen Kleid auf ihn einsprach. Sein ganzes Leben lang war er dem Streit zwischen Christen und Muslimen machtlos ausgeliefert gewesen.

Nach Die Kathedrale des Meeres zögerte ich natürlich nicht lange, als mir bei den Neuerscheinungen in der virtuellen Bibliothek der Büchereien Wien zufällig dieser neue Roman von Ildefonso Falcones ins Auge stach. Die anfängliche Befürchtung, dass ich diesen Wälzer möglicherweise nicht in den vorgesehenen zwei Wochen Ausleihzeit schaffen würde, hat sich leider bewahrheitet. So musste ich das Buch mit einer Pause dazwischen zwei Mal ausleihen. Noch dazu musste ich jetzt feststellen, dass ich zwar meine Notizen im Bluefire Reader noch abrufen kann, allerdings nicht die gesamten Markierungen, die ich im Text vorgenommen hatte. Denn dieser ist eben schon abgelaufen …

Der Protagonist Hernando ibn Hamid verbringt sein Leben zwischen den Religionen. Der Islam wird in Spanien verboten, die Neuchristen müssen vorgeben, zum Christentum konvertiert zu sein und können ihren wahren Glauben nur heimlich leben und an ihre Kinder weitergeben. Hernando pendelt hier sein Leben lang zwischen den Extremen. Mit dem Alfaqui Hamid hält er den wahren Glauben am Leben, schließlich unterwirft er sich dessen Rat christlicher als jeder Christ zu sein, was ihm letztendlich allerdings die Verachtung der Islam-Gemeinde einbringt, die nicht glauben wollen, dass er noch immer Anhänger des wahren Glaubens ist. Sogar Hernandos Mutter Aisha verliert den Glauben an ihn, als sie ihn während einer Büßerprozession das Kreuz tragen sieht.

Geprägt ist Hernandos Leben natürlich von den Frauen in seinem Leben: seine Mutter Aisha, seine erste Frau Fatima, die von ihm vor der Sklaverei gerettete Christin Isabel und schließlich seine zweite Frau Rafaela. Stets lenken sie aus dem Hintergrund seine Schritte und Entscheidungen. Wie so oft im Leben steht hinter jedem Mann oft sogar mehr als eine starke Frau. Das dürfte auch als Botschaft zum Mitnehmen gelten: Wahre Liebe überwindet selbst religiöse Auffassungsunterschiede.

Auch die Mezquita existierte nicht mehr als solche, war jetzt eine christliche Kathedrale, aber es hieß, man könne noch die Arabesken und den gewaltigen maurischen Säulenwald in der alten Gebethalle mit den doppelten Hufeisenbögen sehen, die sie zu einem so einzigartigen Bauwerk machten.

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Roman

Caryl Phillips – Jener Tag im Winter

Smoke

Seit er in die Jahre kommt, fällt es ihm zunehmend schwerer, sei es größere Menschenmengen, sei es laute Musik, die jeden Versuch einer Unterhaltung vereitelt, zu ertragen. Merkwürdig, denkt er, diese erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Umweltreizen. Er trinkt einen Schluck Wein und stellt sein Glas dann wieder auf die hölzerne Tischplatte.

„Jener Tag im Winter“ erzählt eine weitläufige Familiengeschichte, so vielschichtig, wie sie üblicherweise in der Realität geschrieben wird, allerdings sehen wir sie selten in allen Facetten. Der Protagonist Keith ist der Sohn eines Einwanderers, sein Vater Earl kam aus der Karibik nach England, um zu arbeiten, hat sich aber nie wirklich einleben können. Keith selbst lebt von seiner Frau getrennt, der gemeinsame Sohn Laurie steckt kurz vor seinem Schulabschluss und scheint zunehmend in schlechte Gesellschaft zu geraten. Der Alptraum aller Eltern. Trotz dieser bereits sich abzeichnenden Krisensituation wird die Stimmung zunehmend emotionsloser. Der Protagonist Keith scheint sich von der grausamen Welt abzuwenden.

Ich bin erst 22, mit einer dünnen Jacke und so einem albernen Strohhut, und die Leute auf dem Schiff streiten sich, ob der Frühling schon da ist ober ob’s noch Winter ist, aber ich spür, wie mir eine solche Kälte durch die Knochen geht, dass mir egal ist, ob die mich runterschmeißen und mich da direkt totmachen gleich am ersten Tag, sodass mir England, noch bevor ich von dem verdammten Schiff steig, auf Seele und Körper eindrischt, dass ich gleich von vornherein weiß, was für ‘ne Sorte Land das ist.

Erst als Keiths Vater mit einem Herzanfall ins Spital eingeliefert werden muss erklärt sich schrittweise, warum dieser alte, mürrische Mann so ist, wie er ist. Wie so oft zeigen sich die persönlichen Hinter- und Beweggründe erst spät oder nie. Was in Schweine züchten in Nazareth offen ausgesprochen bzw. geschrieben wurde, erschließt sich hier auf einer deutlich tiefer liegenden Ebene.

Die Kurzbeschreibung „Das einfühlsame Psychogramm eines Menschen in der Krise“ ist meiner Meinung nach zu oberflächlich. Natürlich ist es aus Sicht von Keith eine Krise. Aber wer würde nicht in eine Krise geraten, würde er mit solchen Veränderungen in seinem Leben konfrontiert? Wer möchte, kann auch die Folgen sehen, die Migration auf das Familiengefüge haben kann. So wie Earl nie Fuß fassen konnte in England, scheint nun auch Keith entwurzelt zu sein ohne Chance auf einen ruhigen Platz in seinem Leben. Letztendlich weiß er nicht mehr, wohin er gehört. Oder hat er es je gewusst?

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Roman

Amanda Stehrs – Schweine züchten in Nazareth

Pflanze Silhouette made with CAM+

Letzte Woche saß ich im Zug (ich lebe in Flugzeugen oder in Zügen, in denen ich neue Stücke schreibe, derentwegen ich wieder Flugzeuge und Züge nehmen muss). Da waren zwei ausgelassene Kinder, die sich ein Sandwich geteilt haben. Das jüngere Kind versuchte das Stück des Bruders aufzuessen, der mit seiner Gabel lauerte und so tat, als würde er nicht zögern, den anderen aufzuspießen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die beiden gelacht haben. David an seine Schwester Annabelle

Briefromane fand ich schon immer attraktiv. Es sind überschaubare Häppchen, man kann die Lektüre jederzeit unterbrechen. Hier schreibt sich eine zerrüttete Familie wild durcheinander Briefe und E-Mails. Daraus ergeben sich Geschehnisse, die jede einzelne Person in aller Deutlichkeit charakterisieren.

Wir haben noch nie wirklich miteinander reden können. Bei dir weiß ich nicht, wie das geht. Schon als du klein warst, hast du mir Angst eingejagt. Monique über ihre Tochter Annabelle

Es ist irgendwie seltsam, dass die Personen hier in den Briefen alles gerade heraus schreiben, was man normalerweise sorgfältig zwischen den Zeilen versteckt. Weil man einerseits hofft, dass der Empfänger sowieso blind versteht, was man denkt und fühlt und andererseits darauf wartet, dass der andere zuerst seine Gefühle offenbart.

Wenn das reale Leben seine Geschichte überholt, ist David verloren. Er setzt Geschichten oben drauf. Eine Sandburg bauen, um die Welle ungeschehen zu machen. Ohne daran zu denken, dass die nächste kommen wird. Annabelle über ihren Bruder David

Zeitweise wird es dann zu poetisch, um noch glaubwürdig zu sein. Wenn die Sandburgen in den Wellen aus der Feder des Schriftstellers kämen, würde man als Leser vermutlich überbordende Fantasie als Charaktereigenschaft identifizieren. Bei der flatterhaften Schwester, die verzweifelt nach Liebe sucht, scheint es mehr ein kitschiges Luftschloss zu sein.

Ich will frei sein, befreit von dir, von Papa und Annabelle. Ich nehme an, es ist nicht möglich. Ihr seid meine Gefangene und ich bin euer. Wir sind eine Familie. Eine Familie, die sich schreibt, die sich nicht berührt, die keine Kochgerüche in der Küche des anderen einatmet, aber dennoch eine Familie. David an seine sterbende Mutter

Vater Harry lebt entgegen der jüdischen Gesetze in Israel und züchtet dort Schweine. Er kann die Homosexualität seines Sohnes nicht akzeptieren und hat daher den Kontakt zu diesem abgebrochen. Tochter / Schwester Annabelle sucht nach einem Fixplatz in dieser Welt und bleibt letztlich ohne Mann an der Seite ihrer sterbenden Mutter zurück. Die sprachlose Mutter Monique, der die Zeit schließlich davonläuft. Leseempfehlung.

NOTE: Es hat sich wiederum eine neue Quelle erschlossen. Bei den Büchereien Wien kann man jetzt auch ebooks ausleihen. Das Angebot ist bis dato nicht überragend, aber auch nicht zu verachten, ich habe auf Anhieb drei (aktuelle) Bücher gefunden. Das hier besprochene war sofort verfügbar, ein weiteres habe ich vorbestellt und wenige Tage später bekommen. Die Jahreskarte kostet 22 Euro (Ermäßigungen natürlich für Schüler, Studenten und andere Begünstigte), für iPhone und iPad gibt es ein Ausleih-App, zum Lesen benötigt man dann den Bluefire Reader, der mit dem verwendeten Adobe DRM umgehen kann. Die Experience ist nicht zu bejubeln, aber auch nicht zu beweinen, das Umblättern im Bluefire Reader ist nicht ganz so soft wie bei Kindle App oder iBooks, aber ok. Im weiteren Sinne des Einsparens von Papier werde ich mich auch dieses Angebots weiter bedienen. Wenn ich dort nur drei Bücher im Jahr ausleihe (die ich sonst kaufen würde), hat sich der Jahresbeitrag schon gelohnt.