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Roman

Janne Teller – Nichts. Was im Leben wichtig ist

„Wenn es etwas gibt, über das es sich lohnt sauer zu werden, gibt es auch etwas, worüber es sich lohnt sich zu freuen. Wenn es etwas gibt, über das es sich lohnt sich zu freuen, gibt es auch etwas, was etwas bedeutet. Aber das gibt es nicht!“

Diesen Roman hatte ich seit Längerem auf der Liste und über Weihnachten dann mal in der Onlinebücherei angefordert. Regelrecht schade, dass ich nicht mehr weiß, aus welcher Richtung mir der zugeflogen ist, denn es ist ein bedrückendes, schockierendes, düsteres Meisterwerk.

Eine dänische Schulklasse ringt mit einem Aussteiger. Pierre Anthon hat sich in den Zwetschgenbaum verkrochen und terrorisiert seine Mitschüler mit philosophischen Weisheiten über die Nicht-Bedeutung des Lebens. Die wollen sich das nicht gefallen lassen und dem Besserwisser beweisen, dass es doch eine Bedeutung gibt.

Ihre Ruhe hatte etwas Unheimliches. Trotzdem schien sie sich auf uns andere zu übertragen. Das, was geschehen sollte, war ein notwendiges Opfer in unserem Kampf für die Bedeutung. Alle mussten ihren Teil beitragen. Wir hatten unseren beigetragen. Jetzt war Jan-Johan an der Reihe.

Die Schüler beginnen, Dinge, die ihnen wertvoll sind, zu einem Berg aus Bedeutung zusammenzutragen. Doch nicht sie selbst, sondern jeweils die Mitschüler bestimmen, was sie abgeben müssen. Die Erzählerin Agnes kommt mit ihren neuen grünen Lieblingssandalen noch glimpflich davon. Jeder Schüler denkt sich für den Nächsten aus Rachegelüsten stets Schlimmeres aus. So muss ein Hamster dran glauben, ein Kindersarg ausgegraben werden und letztendlich machen die Schüler auch vor den eigenen Körpern nicht mehr halt. Mit Jan-Johans letztem Opfer fliegt das Geheimnis schließlich auf und die Geschichte nimmt einen noch beängstigenderen Verlauf. Denn Pierre Anton zeigt sich völlig unbeeindruckt und will den Berg aus Bedeutung nicht mal besichtigen.

Mich erinnert die Geschichte geringfügig an „Die Welle“, das ich vor vielen Jahren im Schulunterricht lesen musste und wo ich schon damals nicht verstehen konnte, warum alle mitmachen, warum keiner aufschreit und aussteigt und darauf hinweist, wie unsinnig all das ist. So ging es mir auch stellenweise bei diesem Roman, wo bei jedem zweifelhaften Stück Bedeutung die Gruppe gewinnt. Sofies Unschuld ist hier ein wichtiger Wendepunkt: die Unversehrtheit der Beteiligten muss der Bedeutung unterliegen. Die Bedeutung steht über allem. Was bewegt die Jugendlichen zu ihrer verzweifelten Suche? Sogar die Gläubigen unter ihnen beteiligen sich und liefern ihren jeweiligen Glauben der Bedeutung aus. Die Gruppe und die Bedeutung stehen sogar über dem Glauben. Ein Roman, der zum Nachdenken anregt. Über Bedeutung. Was im Leben wichtig ist.

„Ist die Bedeutung denn nicht wichtiger als alles andere?“

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Krimi Roman

Wolf Haas – Der Brenner und der liebe Gott

Und noch einer im Boot der Krimikameraden. Der Brenner-Nachzügler von Wolf Haas, als der mit dem Brenner eigentlich schon fertig war. Und so ist der Brenner über weite Strecken dieses Romans nicht der Brenner, sondern der Herr Simon – pensionierter Polizist, der sich als Chauffeur für einen Baulöwen und dessen Familie seine Brötchen verdient.

„Fanatismus“ hat der Knoll so ausgesprochen, als hätte er eine verdorbene Buchstabensuppe gefrühstückt, in der nur Anführungszeichen drinnen waren, die ihm in diesem Moment hochgekommen sind.

Es bleibt beim bekannten Plauderton, in dem die Brenner-Geschichten auch bisher illustriert waren, daher schwimmt man die Geschichte auch wie einen Fluss hinab. Allzuviel kann man nicht sagen, denn Kindesentführung, fanatische Abtreibungsgegner, Freunderlwirtschaft und Korruption vereinen sich zu einem nicht vorhersehbaren Mordausmaß, das der Brenner nur knapp überlebt. Und auch was der liebe Gott eigentlich damit zu schaffen hat, muss sich der geneigte Leser schon selbst erlesen. In Form geblieben. Der Brenner, wie er leibt und lebt.

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Krimi Roman

Robert B. Parker – Trügerisches Bild

Er hatte keinen Grund anzunehmen, dass er verfolgt wurde, also hatte er auch keinen Grund, irgendwelche Tricks zu versuchen. Und er wurde natürlich von einem Ass beschattet. Ich folgte ihm.

Im direkten Vergleich zum ach so bürgerlichen Brunetti zeigt sich der Detektiv dieses Romans großmäulig – und ansonsten ebenso bürgerlich. Detektiv mit Frau und verliebtem Hund, immerhin blitzt zwischendurch etwas wirklich Witziges auf, man könnte beinahe sagen, es ähnelt trockenem Humor.

„Und was, wenn sie versuchen, mich zu töten?“ – „Versuchen Sie, das zu vermeiden.“

Ansonsten zeigt sich Spenser als großmäuliger Angeber, der den Fall am Ende natürlich löst. Der Fall selbst erweist sich als komplex, das Ende kommt dann doch schneller als gedacht. Mit einer Auflösung aller Details sollte man sich nicht allzulange aufhalten, nachdem der Mörder selbst den Tod gefunden hat (im Lauf eines Gewehrs).

Er zählte zu den zwei Besten, die ich kannte. Ohne meinen Vorsprung in Sachen Charme und ansprechendem Erscheinungsbild hätte er glatt mit mir gleichgezogen.

Man wünscht ihm fast schon, dass er endlich mal eine abbekommt …

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Krimi Roman

Donna Leon – Feine Freunde

Er dachte an Paola, die gesagt hatte, wie froh sie sei, dass sie an Drogen nie etwas gefunden hatte, weil sonst alles mögliche hätte passieren können; er selbst besaß nicht ihre Aufgeschlossenheit und hatte Drogen nie probiert, auch als Student nicht, als alle um ihn herum dieses oder jenes rauchten und ihm versicherten, nur so könne er seinen Geist von den beengenden Vorurteilen des Bürgertums befreien. Sie hatten sich nicht vorstellen können, wie sehr er damals nach bürgerlichen Vorurteilen strebte, nach allem Bürgerlichen überhaupt.

Da hat sich diesmal ein sehr bezeichnender Satz gefunden, der möglicherweise auch eine Antwort an all jene schickt, die den Kommissar Brunetti stets für seine Bürgerlichkeit verachten. Auch ich kann nicht verhehlen, dass ich abgründige Charaktere im Allgemeinen spannender finde. Wenn man sich jedoch auf Brunetti einlässt, dann findet man mit „Feine Freunde“ einen relativ vielseitigen Krimi, der mit Drogensucht, Zinswucher und Korruption gleich mehrere heiße Themen behandelt und zu einem großen Ganzen verknüpft. Nicht überragend ist allerdings das Ende, das sich anfühlt, als hätte die Autorin noch dringend einkaufen müssen. Beinahe erwartungsgemäß.

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Roman

Zsuzsa Bank – Die hellen Tage

Selten weiß man am Beginn des letzten Absatzes eines Buches so offensichtlich, dass es der letzte Absatz sein wird. Nicht, weil man sieht, dass der Rest der Seite leer ist oder weil man sieht dass es die letzte Seite ist. Denn so genau weiß man das am Kindle nicht. Bei 99% können noch mehrere Seiten Roman kommen oder vom Verlag für unverzichtbar befundene Informationen. In diesem Fall wusste ich inhaltlich, das kann nur der letzte Absatz sein. Weil der Schluss einfach stimmt.

Aja war durchs große Tor über die grauen Steinstufen und die Backsteingänge unserer Schule gelaufen und hatte alles sofort in Besitz genommen, als hätten sich die Dinge um sie angeordnet, sobald sie aufgetaucht war, als habe sie jeden Winkel, jede Tür und hinter den Treppen jeden Gang sogleich gekannt und sich darum so sicher und leicht bewegt, sicherer und leichter als alle anderen zwischen Formeln und Fragen, zwischen Zahlen und Wörtern, die sie auseinandernahm und zusammensetzte, wie es ihr einfiel, und mit denen sie zu jonglieren wusste, so wie Zigi mit den Reifen aus Holz, die er hintereinander hochjagte und mit den Füßen auffing.

Aber nicht nur der Schluss stimmt, sondern auch alles, was davor steht. Es wäre falsch, zu sagen, dass die Geschichte dahinplätschert, weil man diese Formulierung zumeist als Kritik auffasst (ich selbst sehe das auch so). Es ist alles im Fluss und auch wenn Katastrophen das Leben der Protagonisten erschüttern, ist stets klar, dass es weitergeht.

Er und Aja nahmen die Welt auf ihre Weise auseinander und setzten sie nach ihrer eigenen Vorstellung wieder zusammen, Aja mit Formeln und Ziffern, mit denen sie den menschlichen Körper wie unter einer Lupe absuchte, und Karl, indem er seine Umgebung in Stücke teilte, passend zu den zwei Sekunden, die seinem Kopf die Zeit vorgaben und seinen Lebenstakt schlugen, als könne er noch immer Hinweise auf seinen Bruder finden, die Fetzen der Welt aneinanderreihen und so ihre Lücken schließen.

Der Roman erzählt die Geschichte der Kinder Seri, Aja und Karl – jedes für sich mit einer Familiengeschichte gezeichnet – und in Rückblenden auch die Geschichte ihrer Eltern, wobei die Mütter klar im Vordergrund stehen. Die Väter kommen nur als Nebenfiguren vor, obwohl sie die Geschichte durch ihre (Nicht-)Anwesenheit natürlich wesentlich beeinflussen.

Auch die Freiheit spielt eine große Rolle – die wahre Freiheit, die die drei Hauptpersonen als Kinder genießen – und die spätere eingebildete Freiheit, als sie nach Rom gehen, um sich von ihrem beschaulichen Leben im ländlichen Kirschblüte zu befreien. Doch von seiner Familiengeschichte kann man sich nicht befreien, sie begleitet einen durchs ganze Leben.

Dieser Roman hat mich durch einige der dunkelsten Tage (und Nächte) dieses Jahres begleitet und ich wüsste keinen, der besser gepasst hätte. Ein Zufallstreffer übrigens, auf den ich gestoßen bin, als ich dringend ein Kindle-Buch kaufen musste. Zum Verschenken, Selberlesen und Teilen. Möglicherweise mein Buch des Jahres.

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Krimi Roman

Uwe Klausner – Die Bräute des Satans

Gegen seinen Willen, als drücke ihm jemand das Kinn in die Höhe, hob der Mörder von Bruder Severus schließlich den Blick. Und erkannte mit Entsetzen, weshalb der Bockbeinige die Mehrzahl benutzt hatte.

Da muss erst Weihnachten kommen und die interessante Erkenntnis, dass ich tatsächlich einen Blogeintrag unter den Tisch fallen haben lassen, den ich nachträglich nicht mal mehr einsortieren kann. In der Kindle-App am iPad – wie, da soll ich schon bei 80% sein? – das muss ein Fehler sein. Genaueres Hinschauen ergab dann, dass ich sogar schon bei 100% war … allerdings verstehe ich nachträglich schon, warum ich das schnell vergessen wollte …

Ein Mönch, der im Kloster Mordfälle löst. Äußerst blumige Sprache, deutlich unpassend für die angepeilte mittelalterliche Zeit und auch der Kriminalfall ist eher unoriginell. Ist nun der Mörder vom Teufel besessen? Will das ein mittelalterliches CSI sein oder eher Sleepy Hollow? Der Autor konnte sich offenbar nicht entscheiden.

Eine unschuldig angeklagte Hexe, ein dämonischer Inquisitor, ein gepeinigter Schüler (Anleihen bei Der Name der Rose?) – viele Bestandteile, die am Ende zwar einen Roman ergeben, jedoch keinen, der sonderlich im Gedächtnis bleibt. Offensichtlich.

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Roman

Arno Geiger – Alles über Sally

Vielleicht stimmte es, dass alles Friedliche eine unruhige Vergangenheit besitzt. Vielleicht wussten sie es nur nicht, weil wie so dumm waren wie das Leben selbst.

Wenn der Weihnachtsstress hereinbricht, kann einem diese Onlinebücherei ganz schön Stress verursachen … gerade hab ich’s noch geschafft, das Buch zu beenden, bevor es vorweihnachtlich verschimmelt. Und das noch mit einem unerwarteten Bug. Die Erstdatei mit allen meinen Bookmarks hat sich vor der Zeit selbst zerstört und daher sind meine ganzen Notizen und Highlights weg. Immerhin konnte ich es nochmal runterladen und wenigstens noch die letzten 15 Seiten lesen. Ich sah mich schon in der Buchhandlung stehen und dort zu Ende lesen …

Also … alles über Sally. Arno Geiger ist auch einer dieser österreichischen Autoren, die in den vergangenen Jahren so gehypt wurden, dass ich schon mal prinzipiell skeptisch bin, sie könnten abgehoben und metaphorisch sein, sodass man nichts versteht (mit Clemens J. Setz’ Söhne und Planeten konnte ich beispielsweise überhaupt nichts anfangen). Bei „Alles über Sally“ ist sich der Einstieg bei weitem nicht so kompliziert und auch wenn sich Sally oder ihr Mann Alfred manchmal in etwas zu ausgedehnten Grundsatzmonologen verlieren, wird es doch selten langweilig.

Arno Geiger zeichnet die Ehe von zwei gealterten Menschen, die in ihrer Jugend aus dem Establishment ausbrechen wollten (wollten wir das nicht alle?), die dann aus einem niemals thematisierten Grund den traditionellen Weg Heirat-Haus-Kinder einschlagen und 20 Jahre später ernüchtert feststellen, dass ihre Ehe unter der Last der Zeit zerbröselt. Während Alfred sich selbst versichert, alles nochmal genauso machen zu wollen, träumt Sally von Freiheit und fragt sich, ob sie nicht mehr vom Leben haben hätte können. Beide haben Affären, beide wissen von den Affären des anderen, beide wähnen sich in Sicherheit, beide schweigen.

Bedrückend ist die Realitätsnähe, die man auf jeder Seite spüren kann. Dieses Paar könnten unsere Nachbarn sein, dieses Paar könnten wir aber auch selbst noch werden, dieses Paar könnten wir gewesen sein (je nach Alter). Dieses junge, lebensfrohe Paar könnten wir gewesen sein wollen. Und doch steht niemals eine Trennung von Sally und Alfred wirklich im Raum. Sie hängen aneinander, an der Sicherheit, die sie sich gegenseitig geben. Vielleicht ist es diese Sicherheit, die eine Ehe ausmacht, die viele Ehen am Leben hält, während andere auseinandergehen. So schenkt ihnen der Autor auch zum Abschluss einen versöhnlichen, nachweihnachtlichen Moment der Stille.

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Roman

Thomas Glavinic – Das Leben der Wünsche

Vielleicht lag es an ihm. Vielleicht war er zu oberflächlich, um die essenziellen Komponenten der Dinge zu erfassen, die über die philosophischen Seiten der Liebe hinausgingen. Aber dann war es eben so. Sein Intellekt bescherte ihm weder Sinn noch Antworten. In der Liebe zu Frauen lag Sinn und lag das Gefühl einer Antwort. An manchen Tagen, in mancher Minute fühlte er eine Antwort. In Marie zu sein war eine Antwort. In einer Frau, in die er verliebt war, hörte er leise das Universum. In einer Kirche nicht.

Jonas wird auf der Straße von einem Mann angesprochen, der ihm drei Wünsche offeriert. Jonas will ihm nicht glauben, fühlt sich gepflanzt. Schließlich wünscht er sich, zu verstehen. Was er zuerst als harmlose Episode abtut, erweist sich bald als alles verändernder Schnitt in seinem Leben. Jonas stürzt ihn eine Zeit, die ihm alle möglichen menschlichen Emotionen auftischt. Doch versteht er?

Er hob ab. Es ging leicht. Raum, Zeit, Materie waren nichts und eins, und in der Sekunde darauf war er die Zimmerdecke.
Er war Mauer, Fugen, Staub. Obwohl er alles sah, was sich unter ihm befand, hatte er das Gefühl, seine Augen seien geschlossen, ja, in Wahrheit hatte er das Gefühl, keine Augen zu haben. Statt Hitze oder Kälte fühlte er eine Verbindung mit dem Haus und mit den Dingen. Er roch nichts außer sich selbst, den freundlichen Geruch von Stein. Unter ihm das leere Bett. Der Schrank. Der Teppich. Der Nachttisch. Das Fenster. Die Tür. Elemente einer Ordnung, die ihm nun wohlgesinnt war.

Jonas verliert seine Frau. Jonas verliert schließlich auch seine Geliebte. Und bekommt sie zurück.

Nicht Problem, ich finde es schade. Schade, dass nicht die ganze Welt, alle sechs oder sieben Milliarden Menschen, eine Sekunde zugleich bewusst erleben kann. Sagen wir, jedes Jahr am neunten April um zwölf Uhr mittags mitteleuropäischer Zeit besinnen sich alle auf das, was sie gerade tun, verbringen diese Sekunde ohne Ablenkung, denken sich: Das ist hier und jetzt. So ist es, so wird es gewesen sein.

Diese Passage erinnert leicht an Flash Forward (warum diese Fernsehserie nicht weiter produziert wurde, ist mir nach wie vor nicht klar). Irgendwie lässt sich bestimmt auch eine Parallele zu 9/11 drehen. Weil ja jeder weiß, wo er war, als er gehört hat, dass ein Flugzeug ins World Trade Center gerast ist. Auch wenn es nicht in einer Sekunde passiert ist.

Aus dem Nichts, auf schnurgerader Landstraße brach wieder das kurze Gefühl von Entfremdung über ihn herein, das dem Weltverlust voranging. Im Moment darauf schwebte er in haltlosem Nichts.

Das Tempo wird schneller. Seit er mit Marie unterwegs ist, brechen die Erkenntnisse nur so über ihn herein. Und er wird auch langsam misstrauisch und wünscht sich die Gesundung seiner Freundin Anne, die an Krebs im Endstadium leidet. Wird er am Ende selbst sterben müssen? Gibt es am Ende nur mehr das eine, was man verstehen kann?

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Roman

T.C. Boyle – Die Frauen

Olgivanna erkannte die Mopsnase, das feste Kinn, den zusammengekniffenen, unersättlichen Mund und den überdimensionalen Turban, der ihr über die Augenbrauen gerutscht war – und dann die Augen selbst, schreckhaft geweitet, als würde sie schon ihr Leben lang wieder und wieder mit einer Nadel gestochen.

Da stocherte ich wieder mal in der Onlinebibliothek der Büchereien Wien um, diesmal mit den Suchkriterien „Bestleiher“ und „verfügbar“. Stieß auf diesen Roman und dachte mir, bei T.C. Boyle kann ja nichts falsch sein. Und lag richtig und auch falsch. Falsch war an dieser Stelle jedoch nur der Zusammenhang von 560 Seiten und nur zwei Wochen Leihfrist, was mich einigermaßen ins Schwitzen brachte …

„Geh doch!“ schrie sie und rannte zur Tür, in der erhobenen Hand den Teller mit dem Bries, den sautierten champignons de laforêt und der Sherrysauce, die sie persönlich zubereitet hatte. „Geh doch, du Scheißkerl!“ Und dann flog der Teller ihm hinterher und beschrieb über dem mondbeschienen Vorgarten eine tropfende Parabel, bis er auf dem Bürgersteig zerschellte und das, was darauf gewesen war, den Vögeln und Eichhörnchen und Kreaturen der Nacht zum Fraß diente.

Als Hauptfigur erwählt T.C. Boyle den amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright und dessen Frauenbeziehungen sind das Thema des Romans. Er erzählt allerdings nicht chronologisch, sondern beginnt mit Wrights dritter Frau Olgivanna. Aus ihrer Sicht können wir auch bereits einen Blick auf ihre Vorgängerin Miriam werfen. Eine Drama Queen vom Feinsten, die wir schließlich noch näher kennenlernen und so etwas besser verstehen können, was Frank an dieser morphiumsüchtigen Verrückten finden konnte.

Ihm stand der Sinn vor allem nach Harmonie, und er war entschlossen, sie diesmal herzustellen und nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben, denn er hatte die lange, zermürbende Qual ihrer Abwesenheit ertragen müssen. Wenn er sie verwöhnen musste, wenn er hier und da ein Kissen oder hin und wieder ein französisches Essen ertragen musste – na, wennschon.

Doch der wahre Höhepunkt ist schließlich die Geschichte von Mama. Nach mehr als zwei Jahrzehnten Ehe lässt Frank seine erste Frau Kitty sitzen (ihre Geschichte erschien dem Autor offenbar nicht interessant genug), um mit seiner Seelenverwandten Mama ein neues Leben zu beginnen. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Leser bereits, dass diese Liebe in einer Katastrophe enden wird, kennt jedoch nicht die Details.

Und sie versicherte ihnen, dass er zurückkehren werde, sobald es ihm gelungen sei, sich zu bezwingen und die Schlacht zu gewinnen, die er nun heldenhaft schlagen werde, für sie und seine Kinder. Und dass, wenn er erst zurückgekehrt war – und sie glaubte tatsächlich, ganz unabhängig von der Leidenschaft des Augenblicks, an seine Rückkehr –, alles sein werde wie zuvor.

Allen Frauen, die mit Frank Lloyd Wright in Verbindung stehen, ist der Terror der Presse sicher. Die prüden Amerikaner verurteilen ihn wegen seiner Vorstellungen der Liebe, die über der Ehe steht. Sowohl Mama, als auch Miriam und Olgivanna erwarten zuerst, mit ihrer wahren Geschichte Verständnis von Presse und Bevölkerung zu ernten und werden doch nur durch den Schmutz gezogen und der Lächerlichkeit preisgegeben. Ein harter Preis, den sie für die Beziehung zu Frank zahlen müssen.

Die Geschichte nicht chronologisch zu erzählen erweist sich nicht nur als zufälliger Glücksgriff, sondern geradezu als eine sich aufdrängende Idee. Was könnte sich für den Schluss besser eignen als das flammende Inferno, das einen entscheidenden Wendepunkt im Leben des berühmten Architekten darstellt? Der Roman lehnt sich nur lose an die Lebensgeschichte des berühmten Architekten, zu ergründen, welche Teile nun Fakten darstellen, erscheint müßig. Wie so oft hat T.C. Boyle einen packenden Roman geschrieben, der die Menschen in den Mittelpunkt stellt und das Leben an sich in allen seinen Facetten feiert.

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Roman

Molly McCloskey – Wie wir leben

Aber natürlich war genau das ihr Problem. Sie wusste nicht, wie sie sich fühlte. Sie wusste lediglich, dass sie nicht länger beurteilen konnte, wie glücklich oder unglücklich sie war, wie glücklich sie sein sollte oder wie glücklich alle anderen waren.

Alltag in allen seinen Facetten. Dieser Roman beleuchtet das Leben einer irischen Familie, Mutter Gillian, Vater Damien und Tochter Heather. Die Ehe von Gillian und Damien kriselt, Gillian hatte eine Affäre, Damien weiß davon, hat jedoch nichts unternommen. Heather hingegen erkundet mit ihren jugendlichen Bekanntschaften die erste Liebe und Sexualität.

Neben diesen banalen Liebesangelegenheiten werden aber auch schwierigere Lebensabschnitte thematisiert. Gillian hat nicht nur als Kind ihre Eltern bei einem tragischen Unfall verloren, ihre Tante Grace, bei der sie danach aufwuchs, erkrankt an Alzheimer und vergisst sich Stück für Stück selbst. Als sie stirbt, erkennt Gillian ihre eigene Angst vor dem Vergessen und sucht Zuflucht bei einem umstrittenen Medikament, das das Gedächtnis stärken soll.

Damien arbeitet an einem kritisierten Tourismusprojekt. Es beinhaltet die Erhaltung eines „authentischen“ irischen Dorfes durch Bewohnen desselben von Laiendarstellern, die sich teils selbst spielen, teils den „authentischen“ irischen Dorfbewohner darstellen sollen. Daraus ergibt sich für Damien schließlich selbst eine Identitätskrise.

Die drei Protagonisten suchen sich inmitten ihres Alltags selbst und wissen nicht, was sie glücklich macht und wie sie mit ihrem Leben weiter verfahren sollen. Immer wieder stellt sich ein warmes Gefühl des Verständnisses ein, denn wer zweifelt nicht hin und wieder an seinen eigenen Entscheidungen und Lebensrealitäten? Einerseits langweilig, weil man alles aus seinem eigenen Leben zu kennen meint. Aber dann auch wieder tröstlich, weil ein Solidaritätsgefühl in harten Zeiten wärmt. Und schließlich die Erkenntnis: Jeder gestaltet sein Leben selbst.