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Roman

Corina Bomann – Und morgen am Meer

Zu Beginn des Buches hat mich der Nostalgiefaktor wieder voll erwischt: Songs aus dem Radio auf Kassetten aufnehmen und diese mit der besten Freundin tauschen. Habe ich auch gemacht, bevor ich 1994 meine erste CD (Bravo Hits 4!) kaufen konnte. Auch die Benennung der Kapitel mit Musiktiteln finde ich sehr gelungen, hat mich auch wieder an die viel zu selten gehörte Playlist von Amy & Roger’s Epic Detour erinnert.

Der Rest des Romans hat mich dann leider nicht mehr so begeistert. Die beschriebene Love Story zwischen einem Mädchen aus Ostberlin („das Karamellmädchen“) und einem Jungen aus Westberlin (träumt von einer Karriere als Musiker in den USA), die sich nicht lieben dürfen, weil der Westler für die Sozialisten den Klassenfeind darstellt, ist einfach zu kitschig.

Man spürt den persönlichen Bezug der Autorin, aber es fühlt sich an, als hätte sie versucht, zu viel hineinzupacken. Die komplizierte Geschichte der Eltern des Mädchens, der Unfall des Jungen, der ihn zuerst hindert, Motorrad zu fahren, was er aber aus Liebe dann im Eiltempo überwindet – wenn man ein Musical daraus machen wollte, kann ich mir lebhaft vorstellen, welche Randfiguren man wegstreichen würde, um die Geschichte knackiger zu gestalten. Der Nostalgiefaktor und der Geschichtsbezug mit interessanten Details aus dem Leben in der DDR reichen leider nicht aus, um die Schwächen der Geschichte und ihrer Figuren auszugleichen.

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Roman

Pia Ziefle – Länger als sonst ist nicht für immer

Der Weg in die Küche wurde ihm zu weit, und die wenigen Minuten, die er warten musste, bis der Kaffee gebrüht war, erschienen ihm wie Verschwendung. Was man tun könnte in vier oder fünf Minuten! Zeitung lesen, aufs Klo gehen, die schmutzigen Tassen vom Vorabend auswaschen, die Weingläser kurz mit dem Tuch polieren, wo war noch mal das Tuch? In der Wäsche, unten im Keller, das dauerte zu lange, um innerhalb des Zeitfensters wieder zurück zu sein – und dann stand einer da und starrte zum Fenster hinaus, und hinter ihm türmten sich die Möglichkeiten, versammelten sich die verpassten Chancen, und er scheiterte sogar daran, vier oder fünf Minuten sinnvoll zu nutzen. Wie sollte er da eine halbe Stunde bewältigen oder eine ganze oder gar einen Tag?

Die Autorin erzählt in dieser Geschichte von zwei Familien, der gemeinsame Strang sind die verlassenen Kinder. Die Brüder Lew und Manuel wurden von ihren Eltern zurückgelassen. Als Lew als Erwachsener die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhält, entscheidet er sich, den Vater in Indien zu besuchen, um die Wahrheit herauszufinden. In vielen Rückblenden wird Stück für Stück aufgelöst, was damals geschah. Vieles bleibt aber auch im Dunkeln. Der zweite Erzählstrang erzählt die Geschichte von Ira und ihrer bunt zusammen gewürfelten Familie. Evi in der Bäckerei, der von seiner Mutter verlassene Fido, der mit seinem Großvater Tadija aus der Heimat nach Deutschland gekommen ist.

Obwohl sich die Geschichte mit komplizierten und schwierigen Familienverhältnissen auseinandersetzt, ist sie in einem völlig unaufgeregten Ton geschrieben, als wäre es ein Märchen oder etwas, was vor langer Zeit passiert wäre, woran sich kaum jemand mehr erinnert. Die Wunden sind verheilt und sind es doch nicht und vielleicht ist es das, was mich nicht richtig reinrutschen hat lassen in diese Lebenswelt. Seltsam distanziert fühlte mich mich beim Lesen.

Die Dinge entscheiden sich von ganz allein, wenn man ihnen nur genügend Zeit lässt.

Reading Challenge: A book recommended by a friend

Empfohlen von der Kaltmamsell. Wir sind nicht direkt befreundet, aber ich lese ihren Blog schon so lange, dass es sich so anfühlt.

Halbzeit: Im ersten Halbjahr 2015 habe ich 20 Bücher geschafft. Zum Vergleich habe ich mir die Statistik des Jahres 2013 angeschaut. Da hatte ich im ersten Halbjahr 27 Bücher gelesen, deutlich mehr als im zweiten Halbjahr, wo es nur 20 waren. Aber ich gebe nicht auf und habe bereits viele weitere Bücher für die Reading Challenge ausgesucht und geplant. Und kürzlich habe ich mich ernsthaft gefragt, wie ich eigentlich sonst die Bücher ausgesucht habe, die ich lesen möchte. Die Reading Challenge verändert die Lesegewohnheiten und erweitert den Horizont.

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Roman

Leon de Winter – Hoffmans Hunger

Handymast im Ernstbrunner Wald, NÖ / made with Cam+

Der echte Schlaf erlöste einen auch von der eigenen Identität und vom eigenen Charakter. Nur Rudimente blieben übrig, während man schlief, ein vages Bewusstsein von einer kreatürlichen Existenz, ohne die unmöglichen Paradoxe des menschlichen Geistes. Zwanzig Jahre war er nun schon ununterbrochen bei sich selbst zu Gast, und er hatte angefangen, den Gastgeber zu hassen.

21 Jahre nach der Erstveröffentlichung in den Niederlanden wirkt dieser Roman aktueller denn je. In die Spionagewirren zur Zeit des Mauerfalls fällt die Geschichte eines Mannes, dessen Leben zu einem verstümmelten Gerüst verkommen ist, das jeden Moment zusammenbrechen kann. Er selbst kann jeden Moment zusammenbrechen. Seine Psyche hat mit dem Tod seiner Töchter unwiderruflichen Schaden genommen. Dass er mit seinem Geist und seinen Erinnerungen nicht mehr klarkommt, äußert sich zusehends auch in körperlichen Problemen. Seit Jahren kann Felix Hoffman nicht mehr schlafen. Seine Nächte verbringt er mit Spinoza und Fressattacken.

Mit Hoffmans Geschichte ist das Leben zweier weiterer Männer verknüpft. Freddie Mancini, ein übergewichtiger Amerikaner auf Europaurlaub, beobachtet durch Zufall die Entführung eines amerikanischen Agenten und wird dadurch zum Ziel des amerikanischen Geheimdienstes. Als ihn nach vielen gemeinsamen Ehejahren seine Frau verlässt, verlangt er eine überraschende Gegenleistung für seine Dienste fürs Vaterland. Sein Gegenüber ist der Agent John Marks. Er hatte vor Jahren eine Affäre mit Hoffmans Frau Marian und trauert ihr noch immer hinterher. So schließt sich ein fantastisches Dreieck an Verbindungen, das sich dem Leser erst nach und nach erschließt und so von Seite zu Seite die Geschichte verwickelter werden lässt.

Beinahe mit Genuss beschreibt Leon de Winter die Einzelheiten der Ess- und Verdauungsstörungen von Hoffman und Mancini. Mancini wird in Prag überfallen, als er spätnachts nach Essen sucht. Seine Gier und sein schwacher Körper machen ihn zum leichten Opfer sowohl für die Räuber als später auch für den gewitzten Agenten John Marks. Hoffman selbst gleicht die Leere in seinem Leben mit seinem nächtlichen Ritual aus. Der Tod seiner Tochter Esther – sie starb im Kindesalter an Leukämie – hat die Familie auseinander gerissen. Ihre Schwester Miriam kommt Jahre später um – drogensüchtig und prostituiert. Felix und seine Frau Marian sind über die Jahre zusammen geblieben, haben jedoch keinerlei Gemeinsamkeiten mehr. Sie wahren die Fassade, um den lukrativen Botschafterposten nicht zu gefährden.

Er tauchte ab unter den Platz und nahm auf einem blitzsauberen Bahnsteig die U-Bahn zum Praterstern, jenseits des Donaukanals, und wartete dort ein paar Minuten, bis sich die Tore zum Volksprater öffneten.

Es gelingt mir in diesem Fall nicht, die Genialität der Geschichte zu erläutern, ohne zuviel zu verraten. Die Lektüre lohnt sich in jedem Fall, auch wenn es zeitweise erschreckend scheint, was der menschliche Geist ertragen kann (oder manchmal auch nicht). Es entfaltet sich nicht nur ein Zeitdokument des Aufbruchs zur Zeit des Mauerfalls sondern auch ein Psychogramm, das eindrucksvoll schildert, wie Tragödien Menschen und ihre persönlichen Lebensumstände verändern.