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Roman

John Irving – Lasst die Bären los

Für einen Moment lang schaltete ich den leisen Leerlauf, lauschte mit ihnen und hielt wie sie Ausschau nach dem einen hochbegabten Tier, das jede Sekunde auftauchen könnte – nachdem es den bestmöglichen Hinderniskurs gelaufen war. Nach dem einen hervorragenden Gibbon vielleicht, der im Handstandüberschlag das Krankenhausgelände durchqueren würde – umringt von Krankenschwestern, von den Balkons mit Rollstühlen bombardiert; schließlich in Gummiatemschläuche verstrickt und mit einem Stethoskop erdrosselt. Eine Gefangennahme, die sich das komplette Krankenhauspersonal und die Patienten als stolzen Verdienst anrechnen würden.

John Irvings erster Roman zeigt bereits alle seine Fähigkeiten in der überzeugenden Charakterisierung seiner Protagonisten. Meiner Ausgabe des Romans ist ein Interview mit dem Autor nachgestellt, in dem er unter anderem davon spricht, dass er die Obsessionen seiner Charaktere kennen muss. Wer eine Obsession hat, die er nicht kontrollieren kann, bricht aus der Norm aus und wird dadurch interessant. Diese Aussage scheint mir einer längeren Betrachtung wert, da steckt doch ein tieferer Sinn dahinter, der über die Erfindung von Romanfiguren hinausgeht.

Wie so oft steckt dahinter der Begriff „normal“ und die Frage, was ist überhaupt normal und kann überhaupt irgendetwas oder irgendjemand normal sein? Ist eine Mode automatisch normal, wenn sie von einer größeren Menge an Personen angenommen wird? Wie groß muss diese Menge sein? Welche Obsession treibt den an sich normalen Menschen aus seiner Normalität heraus? Wann wird eine Obsession so stark, dass der Mensch sie nicht mehr kontrollieren kann?

Der Roman erzählt von den Studenten Siggi und (Hannes) Graff. Siggi ist voller Energie und wirrer Ideen und überredet Graff zu einem Trip mit dem Motorrad. Graff ist ein eher stiller Typ, ein Mitläufer, der etwas ziellos durchs Leben stolpert und sich vom temperamentvollen Siggi mitreißen lässt. Siggi erfindet den Plan, die Tiere im Tiergarten Schönbrunn zu befreien. Graff nimmt ihn nicht ernst, doch nachdem Siggi bei einem Unfall ums Leben kommt, kann Graff an nichts anderes mehr denken, als Siggis verrückten Plan in die Tat umzusetzen. Bei der sich entfaltenden Katastrophe spielt der Asiatische Kragenbär eine wesentliche Rolle.

Zwischen Siggis Plänen (Zoowache) erfahren wir seine Familiengeschichte. Dafür recherchierte sich John Irving tief in die jugoslawische Geschichte vor und während des zweiten Weltkriegs, um die Geschichte von Siggis Vater und dessen Reise nach Wien zu erklären. Siggis Familiengeschichte zeigt deutlich die Verzweiflung, die Ausweglosigkeit er Kriegsjahre, die sich wiederum auf die Gefangenschaft der Tiere im Tiergarten reflektieren lässt.

Zwischen den Zeilen darf Siggi auch noch einige Lebensweisheiten von sich geben, die sein sprunghaftes Wesen konterkarieren. Ecken und Kanten. Obsessionen. Ein von einem Amerikaner geschriebener und trotzdem zutiefst österreichischer Roman.

Die Zahlen ergeben eine bestimmte Summe, ganz egal, wie man sie addiert.

Reading Challenge: A book written by someone under 30
(zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buchs 1968 war John Irving, 1942 geboren, 26 Jahre alt)