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Klassiker Roman

Nathaniel Hawthorne – Der scharlachrote Buchstabe

Wintersonne

Ich habe die Schwäche, Leute, die nicht gerade besonders unangenehm sind, gewöhnlich ganz gut leiden zu können. Ich sehe zuerst immer die guten Seiten meines Gegenübers, wenn solche da sind, und beurteile den Menschen danach. Weil die meisten dieser alten Zollbeamten gute Seiten hatten und weil die väterliche und beschützende Stellung, die ich ihnen gegenüber einnahm, freundschaftlichen Regungen zuträglich war, mochte ich sie bald alle gern.

Hier haben wir wieder mal einen Autor, der im Plauderton erst seine eigene berufliche Lage schildert, um schließlich mit einer Geschichte aufzuwarten, die von Schmerzen und Sünde nur so trieft. Jahrelanges Leiden und Büßen ereilt den Sünder, dessen Sünde offenbar wird. Vergebung war damals nicht so das Hauptthema.

Einmal trat dieser merkwürdige, unheimliche Ausdruck in Pearls Augen, als Hester gerade, wie es Mütter gern tun, ihr eigenes Spiegelbild darin suchte. Plötzlich war es ihr – denn einsame Frauen, die ein Kummer drückt, werden oft von unerklärlichen Wahnvorstellungen heimgesucht –, als sehe sie in dem kleinen schwarzen Spiegel nicht ihr eigenes verkleinertes Abbild, sondern ein fremdes Gesicht.

Kurzgefasst: Die Sünderin Hester Prynne wird an den Pranger gestellt, sie hat ein Kind geboren, will nicht sagen von wem, ihr Mann ist verschollen. Für ihr Leben wird sie mit dem scharlachroten A gekennzeichnet, dass sie fortan immer an ihrer Brust zu tragen hat. In einer einsamen Hütte zieht sie das Kind auf, ein Mädchen, das ihr Ein und Alles ist. Erst nach vielen Jahren enthüllt der Autor die Vaterschaft, gerade als sich für die an der Sünde Beteiligten ein Ausweg zu bieten scheint, greift das Schicksal ein und vereitelt die Pläne der Liebenden.

Es wäre der Betrachtung und Untersuchung wert, ob Haß und Liebe nicht im Grunde dasselbe sind. Beide können sich nur bei einem hohen Grad von Vertrautheit und Herzenskenntnis voll entfalten; im Haß und in der Liebe ist ein jeder in seinem triebhaften und geistigen Leben auf den anderen angewiesen, und der leidenschaftlich Liebende wie der nicht weniger leidenschaftlich Hassende bleiben verzweifelt und elend zurück, wenn ihnen ihr Gegenüber entzogen wird.

Wikipedia nennt das Buch „eines der bedeutendsten Werke der amerikanischen Literatur“. Ich kann das nicht ganz nachvollziehen. Ich kann mir diese Geschichte sehr gut dramatisiert vorstellen, als Film oder als Musical, da es soviel Interpretationsspielraum zulässt. Die Gefahr durch den Arzt Chillingworth erschien mir beim Lesen der Geschichte nicht so plastisch, eine Bedrohung nicht greifbar. Eine Musicalfassung gibt es laut Wikipedia nicht, das wäre doch vielleicht mal ein spannendes Projekt für Frank Wildhorn und seine großen Balladen? Dann würde vielleicht auch ich die tieferen Töne dieser Geschichte verstehen.

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Roman

Matthias Sachau – Linksaufsteher

Gesteck

„Aber deswegen muss es doch nicht verkehrt sein. Also komm. Unsere Lage: drei Läden, immer noch keine Hose. Was würden Frauen jetzt tun?“ – „Prosecco trinken.“

Man kann über Unterhaltungsromane viel Schlechtes sagen, aber dieser ist in der Tat ein herausragendes Exemplar – oder ich befinde mich einfach genau in der Zielgruppe. Der männliche Protagonist stolpert von Komplikation zu Komplikation, um das Herz seiner Angebeteten zu gewinnen und dabei kommt ihm schließlich der Zufall zu Hilfe. Soweit so banal. Der Weg, den er dabei zu absolvieren hat, ist allerdings mit so vielen spaßigen Episoden gewürzt, dass man mit jeder Seite erneut ins Schmunzeln kommt.

Werbesprecher Oliver ist ein extremer Montagsmuffel und gerade an so einem Morgen kreuzt er den Weg einer Frau, die er erst beschimpft und anschließend nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Auf ihren Spuren lernt er nicht nur die Untiefen des Social Webs kennen. Seine verzweifelte Suche nach der perfekten Hose wird schließlich von französischen Schülern dokumentiert und landet so auf Youtube. Das ist aber nicht die letzte Heldentat Olivers, die es ins weltweite Web schafft.

Mir wird gerade ein bißchen schlecht, so als hätte ich zu lange ein Karrussel angestarrt.

Social Media-Guru Rüdiger plappert unverständliches Zeug, der erfundene iKoffer darf als ironisches Statement auf die Hardcore Apple Fanboys verstanden werden. Dieser Roman macht sich derart genüsslich über die Eigenheiten der Internetszene lustig, dass es sowohl für Eingeweihte als auch für Neulinge Spaß macht. Hardcore-Nerds werden über die übertriebenen Beschreibungen sicher den Kopf schütteln, aber die gehören ohnehin nicht zur Zielgruppe und finden sich vermutlich im wesentlich trockeneren Nerd Attack! (Rezension demnächst) wieder. Der Anspruch macht einen Vergleich der beiden Werke natürlich an und für sich unzulässig, aber die Leichtigkeit, mit der hier moderne Lebensformen auf die Schippe genommen werden, nimmt für sich ein und sorgt für einige Stunden Lesevergnügen..

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Roman

Erlend Loe – Die Tage müssen anders werden, die Nächte auch

Helsinki Lutheran Cathedral

Ich setze mich auf eine Bank und schaue mir die Liste genau an. Lange. Eine ehrliche Liste ist das. Ich bin zufrieden mit ihr. Vielleicht gibt es so ein Ding, vielleicht auch nicht. Nicht so wichtig. Wichtig ist die Liste. Die ist eine Entdeckung für mich. Sie ist wertvoll.

Dieses Buch wurde mir von einer nahestehenden Person als „absolutes Lieblingsbuch“ präsentiert, da gerät man natürlich in den Verdacht, eine positivere Wertung abzugeben. Allerdings wurde mir schnell klar, wieso die nahestehende Person sich in diesem Buch offenbar wiederfindet. Der Ich-Erzähler befindet sich in einer unzufriedenstellenden Situation, in der er sich nicht in der Lage sieht, weiterzuleben. Obwohl er keine gröberen Katastrophen erlebt hat, er hat Familie, Freunde, Studium und leidet keine Not, ist er mit seinem Leben unzufrieden und wünscht sich Veränderung. Und wer kann wohl von sich behaupten, dass er noch nie in dieser Situation war?

Auf einmal könnte ich die großen Zusammenhänge überblicken. Alles mögliche durchschauen. Schlüsse ziehen über die Welt und die Menschen. Ich wäre zu Selbstbeherrschung fähig und dazu, aus anderen das Beste herauszuholen, lauter so Zeug. Dann würde der Meister zu mir sagen, jetzt hätte er mir nichts mehr beizubringen, und dann würde er mir etwas schenken.

Er sucht nach dem Überblick, nach dem Wissen, wie das Leben funktioniert, nach einer Freundin. Zur Entspannung wirft er einen Ball gegen eine Wand oder hämmert auf einem Hämmerbrett. Was sich als entspannender erweist, als man sich vorstellen kann. Mich macht allein die Vorstellung von dem Hämmergeräusch irre. Von der Nutzlosigkeit dieser Tätigkeit ganz zu schweigen. Aber in manchen Situationen ist es wohl notwendig, sich mit Nutzlosem abzulenken, um sich nicht von der Größe des Universums erdrücken zu lassen.

Ein Brief an einen Autor, der sich mit dem Thema Zeit beschäftigt, bleibt unbeantwortet. Gerade berühmte Wissenschaftler haben keine Zeit (!), sich mit solchen Fragen zu beschäftigen geschweige denn Briefe zu beantworten. Anhand des Empire State Buildings, auf dessen Spitze die Zeit aufgrund der Erdrotation schneller (oder war es langsamer?) vergeht als unten, stellt der Protagonist schließlich fest, dass es eigentlich keine Zeit gibt. Aus irgendeinem Grund macht ihn diese Erkenntnis unheimlich glücklich und befreit ihn von allen Zwängen, denen er sich bisher ausgesetzt sah. Aber macht das überhaupt einen Unterschied?

Zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit habe ich das Gefühl, dass alles passieren darf. Heute bin ich aufgewacht und habe gedacht, alles darf passieren, die Dinge kommen einfach auf mich zu, und sie sind gut.

Auch ein weiteres Prinzip im Sinne der Selbstfindung kommt hier zur Anwendung: Die gewohnte Umgebung verlassen. Die Reise zu seinem Bruder nach New York eröffnet dem Protagonisten so manche neue Erkenntnisse. Reisen bildet nicht nur, es lässt einen die Welt schlicht aus anderen Perspektiven sehen. Und so kommt man manchmal auch darauf, was im Leben eigentlich wirklich wichtig ist.

Komisch, dass ich erst nach Amerika reisen musste, um darauf zu kommen.

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Roman

Caryl Phillips – Jener Tag im Winter

Smoke

Seit er in die Jahre kommt, fällt es ihm zunehmend schwerer, sei es größere Menschenmengen, sei es laute Musik, die jeden Versuch einer Unterhaltung vereitelt, zu ertragen. Merkwürdig, denkt er, diese erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Umweltreizen. Er trinkt einen Schluck Wein und stellt sein Glas dann wieder auf die hölzerne Tischplatte.

„Jener Tag im Winter“ erzählt eine weitläufige Familiengeschichte, so vielschichtig, wie sie üblicherweise in der Realität geschrieben wird, allerdings sehen wir sie selten in allen Facetten. Der Protagonist Keith ist der Sohn eines Einwanderers, sein Vater Earl kam aus der Karibik nach England, um zu arbeiten, hat sich aber nie wirklich einleben können. Keith selbst lebt von seiner Frau getrennt, der gemeinsame Sohn Laurie steckt kurz vor seinem Schulabschluss und scheint zunehmend in schlechte Gesellschaft zu geraten. Der Alptraum aller Eltern. Trotz dieser bereits sich abzeichnenden Krisensituation wird die Stimmung zunehmend emotionsloser. Der Protagonist Keith scheint sich von der grausamen Welt abzuwenden.

Ich bin erst 22, mit einer dünnen Jacke und so einem albernen Strohhut, und die Leute auf dem Schiff streiten sich, ob der Frühling schon da ist ober ob’s noch Winter ist, aber ich spür, wie mir eine solche Kälte durch die Knochen geht, dass mir egal ist, ob die mich runterschmeißen und mich da direkt totmachen gleich am ersten Tag, sodass mir England, noch bevor ich von dem verdammten Schiff steig, auf Seele und Körper eindrischt, dass ich gleich von vornherein weiß, was für ‘ne Sorte Land das ist.

Erst als Keiths Vater mit einem Herzanfall ins Spital eingeliefert werden muss erklärt sich schrittweise, warum dieser alte, mürrische Mann so ist, wie er ist. Wie so oft zeigen sich die persönlichen Hinter- und Beweggründe erst spät oder nie. Was in Schweine züchten in Nazareth offen ausgesprochen bzw. geschrieben wurde, erschließt sich hier auf einer deutlich tiefer liegenden Ebene.

Die Kurzbeschreibung „Das einfühlsame Psychogramm eines Menschen in der Krise“ ist meiner Meinung nach zu oberflächlich. Natürlich ist es aus Sicht von Keith eine Krise. Aber wer würde nicht in eine Krise geraten, würde er mit solchen Veränderungen in seinem Leben konfrontiert? Wer möchte, kann auch die Folgen sehen, die Migration auf das Familiengefüge haben kann. So wie Earl nie Fuß fassen konnte in England, scheint nun auch Keith entwurzelt zu sein ohne Chance auf einen ruhigen Platz in seinem Leben. Letztendlich weiß er nicht mehr, wohin er gehört. Oder hat er es je gewusst?

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Klassiker Roman

Jaroslav Hasek – Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk

Kirche Russland (c) Yarik Mishin/SXC

Die Hauptsache is, den Moment abpassen, wenn so ein hoher Herr vorübergeht. Wie zum Beispiel, wenn Sie sich noch an den Herrn Lucheni erinnern, der, was unsre selige Elisabeth mit der Feile erstochen hat. Er is mit ihr spazierengegangen. Dann traun Sie noch jemandem. Seit der Zeit geht keine Kaiserin mehr spazieren.

Ich bezweifle mal stark, dass es mir gelingt, über den Schwejk etwas zu schreiben, was nicht schon mal geschrieben wurde. Der tapfere Soldat, der vom Arzt zwar für „blöd“ aber trotzdem kriegstauglich erklärt wird, erzählt abwechselnd Geschichten und bringt sich selbst in welche. Damit bringt er nicht nur seine Vorgesetzten bei der Armee regelmäßig in Rage. Besonders leidgeplagt ist hier Oberleutnant Lukasch, dem Schwejk als „Putzfleck“ assistiert. Lukasch hat Schwejk im Kartenspiel vom Feldkuraten gewonnen. Obwohl Schwejk dem Oberleutnant treuherzigste Dienste leistet, geht er auf der Reise nach Budweis verloren und landet schließlich im Arrest.

Der Wachtmeister blickte Schwejk freundlich an, der ruhig und würdig sagte: „Und ich geh doch nach Budweis.“ Das war mehr als Galileis: „Und sie bewegt sich doch!“ Denn dieser muss dies offenbar sehr zornig gesagt haben.

So mancher originelle Geselle findet sich in dieser österreichischen Armee. Im Arrest lernt Schwejk den Einjährigfreiwilligen Marek kennen, der uns im letzten Buch als Geschichtsschreiber wieder begegnet, wo er epische Siegesgeschichten für alle Offiziersassistenten sowie deren Vorgesetzte entwirft. Ständig leidend ist der gefräßige Baloun, der seinem Offizier Teile der Menage entwendet und doch niemals satt wird. Sein natürlicher Gegenspieler ist damit der Koch Juradja, der Baloun ständig im Blick behalten muss, will er selbst die Verteilung der knappen Fleischstücke befehligen.

Er blickte dabei so sehnsüchtig auf die beiden Rucksäcke seines Oberleutnants wie ein von allen verlassenes Hündchen, das hungrig ist wie ein Wolf, vor der Tür eines Selcherladens sitzt und den Geruch kochenden Selchfleischs spürt.

Schwejks Kompanie erreicht die Front nie. Da Schwejk sogar aus der österreichischen Kriegsgefangenschaft (!) sogar mit nicht mal einem blauen Auge davonkommt, kann er sich leicht einen Weltkrieg herbeiwünschen.

„Das möcht nicht mal dafür stehn, Krieg zu führen“, sagte Schwejk nachdrücklich. „Wenn schon Krieg, so solls ein ordentlicher Krieg sein. Ich wer entschieden nicht früher von Frieden reden, solang wir nicht in Moskau und in Petersburg sind. Das steht doch nicht dafür, wenns schon einen Weltkrieg gibt, nur hinter den Grenzen herumzustänkern. …“

Es soll nicht verschwiegen werden, dass ich da jetzt doch relativ lange gebraucht hab, weil Schwejks ewige Geschichtenerzählerei letztendlich auch den Leser bei längerem Genuss mal nervt. Ich erinnere mich auch dunkel an eine Schultheateraufführung, als Lektüre ist es für jüngere Menschen keinesfalls geeignet. Als kleine Häppchen genossen können Schwejks Abenteuer jedoch zwischendurch durchaus erfreuen. Und es hinterlässt natürlich das zufriedenstellende Gefühl, ein Kulturgut genossen zu haben.

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Krimi Roman

Colin Cotterill – Totentanz für Dr. Siri

Sunset (c) Piotr Matlak/SXC

Allein der Umstand, dass er sich wie ein Rindvieh benommen hatte, bewahrte sie davor, in seine Arme zu sinken und zu flöten: „Ja, ja, Liebster. Nimm mich.“ Aber konnte nicht auch ein Widerling einen guten Ehemann abgeben? Und würde sie sich wirklich so sehr verbiegen müssen, um an der Seite dieses hohlen, hirn- und charakerlosen Ekels zu bestehen?

Auch der dritte Roman um Doktor Siri und seine wackeren Kollegen Dtui und Geung erfüllt die inzwischen hoch gesteckten Erwartungen. Der schrullige Doktor, in dessen Körper ein schamanischer Geist wohnt, deckt wiederum Mordfälle lückenlos auf. Auch ein kubanischer Priester der vermeintlich schwarzen Magie kann den Pathologen nicht in die Flucht schlagen. Krankenschwester Dtui fliegt in diesem Fall das Glück nur so zu, sie erhält nicht nur einen Heiratsantrag sondern auch die Zusage zum ersehnten Medizinstudium in Russland. Der arme Geung fällt einer Krise zum Opfer und wird aus dem Leichenschauhaus verschleppt, sein nicht klein zu kriegendes Pflichtbewustsein lässt ihn allerdings so manche Schwierigkeiten überwinden. Mehr kann ich nicht sagen, denn ich bin Fan und somit befangen. Hoffentlich ist Doktor Siri ein ähnlich langes Leben beschieden wie seinem italienischen Krimikollegen Brunetti.

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Roman

Amanda Stehrs – Schweine züchten in Nazareth

Pflanze Silhouette made with CAM+

Letzte Woche saß ich im Zug (ich lebe in Flugzeugen oder in Zügen, in denen ich neue Stücke schreibe, derentwegen ich wieder Flugzeuge und Züge nehmen muss). Da waren zwei ausgelassene Kinder, die sich ein Sandwich geteilt haben. Das jüngere Kind versuchte das Stück des Bruders aufzuessen, der mit seiner Gabel lauerte und so tat, als würde er nicht zögern, den anderen aufzuspießen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die beiden gelacht haben. David an seine Schwester Annabelle

Briefromane fand ich schon immer attraktiv. Es sind überschaubare Häppchen, man kann die Lektüre jederzeit unterbrechen. Hier schreibt sich eine zerrüttete Familie wild durcheinander Briefe und E-Mails. Daraus ergeben sich Geschehnisse, die jede einzelne Person in aller Deutlichkeit charakterisieren.

Wir haben noch nie wirklich miteinander reden können. Bei dir weiß ich nicht, wie das geht. Schon als du klein warst, hast du mir Angst eingejagt. Monique über ihre Tochter Annabelle

Es ist irgendwie seltsam, dass die Personen hier in den Briefen alles gerade heraus schreiben, was man normalerweise sorgfältig zwischen den Zeilen versteckt. Weil man einerseits hofft, dass der Empfänger sowieso blind versteht, was man denkt und fühlt und andererseits darauf wartet, dass der andere zuerst seine Gefühle offenbart.

Wenn das reale Leben seine Geschichte überholt, ist David verloren. Er setzt Geschichten oben drauf. Eine Sandburg bauen, um die Welle ungeschehen zu machen. Ohne daran zu denken, dass die nächste kommen wird. Annabelle über ihren Bruder David

Zeitweise wird es dann zu poetisch, um noch glaubwürdig zu sein. Wenn die Sandburgen in den Wellen aus der Feder des Schriftstellers kämen, würde man als Leser vermutlich überbordende Fantasie als Charaktereigenschaft identifizieren. Bei der flatterhaften Schwester, die verzweifelt nach Liebe sucht, scheint es mehr ein kitschiges Luftschloss zu sein.

Ich will frei sein, befreit von dir, von Papa und Annabelle. Ich nehme an, es ist nicht möglich. Ihr seid meine Gefangene und ich bin euer. Wir sind eine Familie. Eine Familie, die sich schreibt, die sich nicht berührt, die keine Kochgerüche in der Küche des anderen einatmet, aber dennoch eine Familie. David an seine sterbende Mutter

Vater Harry lebt entgegen der jüdischen Gesetze in Israel und züchtet dort Schweine. Er kann die Homosexualität seines Sohnes nicht akzeptieren und hat daher den Kontakt zu diesem abgebrochen. Tochter / Schwester Annabelle sucht nach einem Fixplatz in dieser Welt und bleibt letztlich ohne Mann an der Seite ihrer sterbenden Mutter zurück. Die sprachlose Mutter Monique, der die Zeit schließlich davonläuft. Leseempfehlung.

NOTE: Es hat sich wiederum eine neue Quelle erschlossen. Bei den Büchereien Wien kann man jetzt auch ebooks ausleihen. Das Angebot ist bis dato nicht überragend, aber auch nicht zu verachten, ich habe auf Anhieb drei (aktuelle) Bücher gefunden. Das hier besprochene war sofort verfügbar, ein weiteres habe ich vorbestellt und wenige Tage später bekommen. Die Jahreskarte kostet 22 Euro (Ermäßigungen natürlich für Schüler, Studenten und andere Begünstigte), für iPhone und iPad gibt es ein Ausleih-App, zum Lesen benötigt man dann den Bluefire Reader, der mit dem verwendeten Adobe DRM umgehen kann. Die Experience ist nicht zu bejubeln, aber auch nicht zu beweinen, das Umblättern im Bluefire Reader ist nicht ganz so soft wie bei Kindle App oder iBooks, aber ok. Im weiteren Sinne des Einsparens von Papier werde ich mich auch dieses Angebots weiter bedienen. Wenn ich dort nur drei Bücher im Jahr ausleihe (die ich sonst kaufen würde), hat sich der Jahresbeitrag schon gelohnt.

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Roman

Paulo Coelho – Der Sieger bleibt allein

Thirty Seconds to Mars, 26. November 2011, Stadthalle Wien

In der wirklichen Welt aber sind die Mächtigen gerade dabei, ihre E-Mails zu checken, sich darüber zu beklagen, dass die Partys hier in Cannes alle immer gleich sind, dass die Freundin ihres Konkurrenten kostbareren Schmuck getragen hat als ihre eigene und dass dessen Jacht viel prächtiger ist als ihre, und sie fragen sich, wie das nur möglich ist.

Es fällt mir einigermaßen schwer, zu präzisieren, warum dies kein typischer Coelho-Roman ist. Eine Bewertung, ob das nun gut oder schlecht ist, bleibt sowieso jedem selbst überlassen. Es scheinen die plakativen Botschaften zu fehlen. Wobei plakativ sowieso das falsche Wort sein dürfte, da Paulo Coelho seine Botschaften im Allgemeinen in Geschichten verpackt, aus denen sie dann wiederum als Diamanten herausstrahlen. Hier fehlt zwar nicht die Botschaft, jedoch ist sie weniger deutlich erkennbar, es besteht deutlich mehr Interpretationsspielraum.

Schauplatz ist das Filmfestival in Cannes, die Welt der Celebrities, der Schönen und Reichen. Mehrmals wird betont, dass die Filme unwichtig sind, dass es darum geht, zu sehen und gesehen zu werden sowie die richtigen Hände zu schütteln. Im Verlauf der Geschichte vermischen sich Gesellschaftsschichten: die „nicht mehr ganz junge“ (25) Schauspielerin Gabriela etwa, die von Casting zu Casting hetzt und hofft, in Cannes endlich das große Los gezogen zu haben. Das hat sie zwar nicht in dem Sinne, in dem sie sich das vorstellt, doch letztendlich liegen Verlieren und Gewinnen oft sehr nahe beisammen. Gabriela gehört zu denen, die es schaffen wollen, die sich abrackern, die trotz aller Enttäuschungen daran glauben, es schaffen zu können. Gleichzeitig weiß sie nichts über die wahre Welt der Schönen und Reichen. Geschäfte werden ganz nah unter der Oberfläche gemacht, der so begehrte rote Teppich ist eine unzureichende Tarnung für die Geldmengen, für Macht und Einfluss, um die es eigentlich geht.

Zur Gesellschaft derer, die es geschafft haben, gehören Ewa und Hamid, beide im Modebusiness erfolgreich, verheiratet und scheinbar ein Traumpaar. Ihnen auf den Fersen ist Ewas Exmann Igor, der als „Racheengel“ schließlich nicht nur das Schicksal dieses Dreiecksgespanns entscheidend beeinflusst. Ein ungewöhnlicher Blickwinkel ist wiederum ein bekanntes Merkmal der Coelho-Romane, dem der Autor auch hier treu bleibt. Mit seinen Betrachtungen zum Thema Burn-Out, dem Spannungsfeld Arbeit–Leben sowie der Frage, was für den Einzelnen wirklich wichtig ist, entspricht dieser Roman durchaus dem Zeitgeist. Die geruhsame Erzählweise, die selbst die spannenden Momente verlangsamt, spricht somit eine ganz eigene Sprache.

Er hatte begriffen, dass im Gegensatz zu dem, was die Menschen dachten, die totale Macht totale Versklavung bedeutete. Wer so weit kommt, will nie mehr zurück. Es gibt immer einen neuen Konkurrenten, der entweder überzeugt oder ausgeschaltet werden muss.

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Krimi Roman

Donna Leon – Nobilta

Venedig (c) robe68/SXC

Das altrömische Thema fand drinnen seine Fortsetzung, denn Patta saß im Profil und präsentierte seine wahrhaft römische Imperator-Nase. Als er den Kopf zu Brunetti umwandte, wich das Kaiserliche etwas eher Schweinsähnlichem, was daher kam, dass Pattas Augen mit der Zeit immer tiefer in dem ewig gebräunten Gesicht verschwanden.

Wie man auch meinen vorherigen Posts zu den Brunetti-Krimis entnehmen kann, fällt mir meistens nicht viel ein. Würde man das beschriebene Verbrechen nacherzählen, wäre der ganze Spaß verdorben. Wie so oft ergibt sich die Auflösung erst auf den letzten Seiten, während vorher Kapitel über Kapitel nichts zu passieren scheint. Es bleibt ein ums andere Mal nur dies zu sagen: wer diese Art von Krimis schätzt, wird daran nichts auszusetzen haben. Ich selbst zähle mich bedingt zu dieser Gruppe. Für mich ist ein Brunetti-Krimi eine willkommene Abwechslung, wo nicht allzuviel Denkarbeit nötig ist, denn das Tempo, indem Brunetti die Kriminalfälle löst, reicht im Allgemeinen aus, um den Leser gerade beim Thema zu halten, aber nicht zu sehr zu beschäftigen. So kann man auch mal eine Woche Pause machen und hat keine schlaflosen Nächte, weil man den Mörder noch nicht kennt. Schließlich entfaltet sich auch hier eine Ebene unter dem offensichtlichen Mord, Motive, die mit dem Opfer nur bedingt zu tun haben. Ein geschickt getarnter, manchmal etwas langatmig aufgedeckter Kriminalfall für Kommissar Brunetti.

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Roman

Erica Bauermeister – Das Liebesmenü

Paprika (c) chirnoaga/SXC

Sie steckte die Hülse auf ihren Stift und sah ihm in die Augen. „Eigentlich“, sagte sie, „wäre ich viel lieber ein Buch, glaube ich.“
Und als er nickte, als wäre dies die logischste Antwort der Welt, lächelte sie, und Carl begriff, dass es genauso für den Rest seines Lebens bleiben würde.

Was für ein perfektes Buch für kalte Tage. In Lillians Kochkurs treffen sich eine unterschiedliche Charaktere. Sie sind aus unterschiedlichen Motivationen hier. Stück für Stück wird die Vorgeschichte der Kochschüler entfaltet. Das Paar Carl und Helen, ihre Vergangenheit wird aus beiden Perspektiven geschildert. Wie sich beide voneinander entfernen und schließlich so fest zusammenhalten, dass sie nun gemeinsam im Kochkurs die Gedanken des anderen erraten. Antonia und Ian, die in ihren Jobs an Grenzen stoßen und nun im Kochkurs Abwechslung suchen und letztendlich mehr als das finden.

Danach hörte Tom auf zu sprechen. Es war, als hätten all die Gespräche, die schwierigen, als sie noch am Leben war, und die prosaischen nach ihrem Tod, alles aufgebraucht, was er jemals sagen wollte. Es war schlicht und ergreifend zu aufwendig, den Mund zu öffnen, darüber nachzudenken, was sein Gegenüber vielleicht hören wollte oder sollte. Sein Verstand arbeitete ununterbrochen, doch er hätte niemandem sagen können, womit er beschäftigt war.

Am meisten berührte mich die Geschichte von Tom. Seine Frau zeigte ihm die Welt der Lebensmittel und des Kochens, das gemeinsame Essen verband die beiden bis zum Schluss. Doch sie starb an Krebs, Tom begleitete sie bis zum Schluss. Gerade für ihn stellt der Kochkurs – ein Geschenk – eine Art Rückkehr ins Leben dar. Simple Pasta mit Tomatensauce ist oft wertvoller als Champagner und Kaviar.

„Wir sind alle nur Zutaten, Tom. Was zählt, ist die Anmut, mit der du die Mahlzeit zubereitest.“

Nach diesem Gleichnis wäre das Leben eines Menschen die Mahlzeit? Wenn ein Mensch eine Zutat ist, wie kann er dann gleichzeitig die Mahlzeit zubereiten? Jeder ist der Koch seines eigenen Lebens? Nicht alle Fragen werden beantwortet in diesem charmanten, warmherzigen Roman, der nicht nur die Freude am Kochen weckt sondern an kalten Winterabenden ein Gefühl der Wärme hinterlässt. Und Hoffnung, wenn man diese braucht.

NOTE: Dies war das erste Buch, das ich komplett auf dem Amazon Kindle gelesen hab. Aus heutiger Sicht hätte ich mir längst einen kaufen sollen, es ist ein wunderbares Lesegerät, die Leichtigkeit – das geringe Gewicht – erschrecken mich jedes Mal wieder. Allein die Tatsache, dass sich damit auch dicke Wälzer mühelos in der Schnellbahn lesen lassen, sollte dem Kindle und seinen Brüdern und Schwestern langfristig zum Durchbruch verhelfen. Nicht, dass ich nun sofort vollständig auf bedruckte Bäume verzichten wollte, aber in meinen Augen ist ein eBook-Reader und speziell der Amazon Kindle mehr als nur einen Blick Wert.