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English Jugend Roman

Tamara Ireland Stone – every last word

CN dieses Buch: Mobbing, OCD, Suizid
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Um jegliche Spoiler zu vermeiden, werde ich mich hier kurz halten. Die Protagonistin Sam(antha) steckt in der schwierigsten Situation, die sich ein Teenager auf der Highschool vorstellen kann: sie gehört zur Gruppe der populären Mädchen, lebt jedoch in ständiger Angst davor, dass diese herausfinden könnten, dass Sam eben nicht wie sie ist. Sam leidet an einer Zwangsstörung und kämpft ständig mit negativen Gedanken und Sorgen.

Neben der verletzlichen und trotzdem starken Protagonistin profitiert das Buch am meisten von der Poesie, die schließlich die Veränderung in Sams Leben herbeiführt. Worte, Gedanken, Reime, Musik. Dadurch findet Sam einen Weg, die negativen Gedanken aus ihrem Kopf zu bekommen bzw. in sinnvolle Bahnen zu lenken.

Für mich war dieses Buch in mancher Hinsicht eine Erinnerung an meine eigene Teenager-Zeit. An das verzweifelte Verlangen danach, gleichzeitig möglichst normal zu sein, aber eben doch etwas Besonderes und daher bewundernswert, kann ich mich noch lebhaft erinnern. Auch wenn ich den Begriff der Normalität schon seit Längerem hinterfrage und auch versuche, ihn aus meinem Alltagssprachgebrauch zu verbannen, wird diese Zeit immer prägend für mein weiteres Leben bleiben.

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Roman

Vicki Baum – Vor Rehen wird gewarnt

CN dieses Buch: Tod, Sterben, Krankheit, Feuer, Mordversuch
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[…] Übrigens ist niemand ganz normal, und was heißt das überhaupt: normal sein? Normalität ist ein willkürlicher Begriff, und wir wissen weniger davon als über die Entfernung zwischen den Planeten oder die Abweichung der Lichtstrahlen. Normalität lässt sich nicht abmessen, weil sie nichts Absolutes ist, sondern nur eine Konvention.

Gute Zitate über den (von mir verhassten) Begriff Normalität finden sich an den überraschendsten Stellen. In diesem Zitat sticht für mich hervor, dass Normalität nichts Absolutes ist. Was als normal verstanden wird, hat sich über die Zeit immer wieder verändert. Es geht hier nur darum, was als Mehrheitsmeinung oder Mehrheitshandlung in der Gesellschaft angesehen wird.

Davon lässt sich schon überleiten zu dem, was ich an diesem Roman so erstaunlich finde: Obwohl die Erstveröffentlichung bereits über 70 Jahre zurück liegt (1951), fühlt sich der Roman erstaunlich aktuell an. Obwohl es an Rollenklischees der beschriebenen Epoche nicht mangelt, werden diese nicht ausgeschlachtet, sondern auf einer subtilen Ebene zwischen den Zeilen in Frage gestellt. Schon allein die Hauptfigur Ann Ambros, die vor keiner hinterhältigen Aktion zurückscheut, um ihre persönlichen Ziele zu verfolgen, ist ein sehr spezieller Frauentyp, der mit den Konventionen (der sogenannten Normalität) der damaligen Zeit bricht. Neben ihr stechen auch andere Frauenfiguren deutlich heraus: Stieftochter Joy, die sich schließlich durch einen gewalttätigen Kraftakt aus ihrer verzweifelten Lage zu befreien versucht oder Pianistin Mausi, die ihr Leben der Kunst widmet und sich mit Ann verbündet, um ihrerseits ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Wieder mal ein Buch, das mir über einen Literatur-Geocache zugeflogen ist. (Ausnahmsweise erlaube ich mir hier, den auch zu verlinken, weil der Titel des Geocaches ohnehin schon den Titel des Buches verrät.) Das Final liegt innerhalb des Wiener Zentralfriedhofs, auf dessen Besuch ich mich schon seit Längerem wieder freue.


Blick in die Ausstellung Hot Questions. Cold Storage. Links eine rote Wand, auf der Texte und Bilder zu sehen sind, mittig sind die hinteren Bereiche der Ausstellung in Blautönen zu sehen, rechts ein orangefarbenes Regal mit verschiedenen Architekturmodellen in Glaskästen

Als wir letztens für die Ausstellung Serious Fun. Architektur und Spiele im Architekturzentrum Wien waren, haben wir uns dann auch noch die neue Schausammlung Hot Questions. Cold Storage. angesehen. Die farbliche Gestaltung und die inhaltliche Einteilung in sieben Fragen hat mich sehr an die Aufmachung der Foodprints-Ausstellung im Technischen Museum Wien erinnert. Vielleicht ist das gerade ein Trend in der Ausstellungslandschaft?

Ausstellungsraum, links eine Art Tunnel aus blauen und violetten Wänden, in die Wand ist eine Wasserinstallation mit sichtbaren Blasen eingebaut, rechts Blick in die hinteren Bereiche der Ausstellung

Die „heißen Fragen“ aus dem Titel der Ausstellung bewegen sich in den Bereichen „Wie entsteht Architektur?“, „Wie wollen wir leben?“ und „Wer macht Stadt?“. Diesen Fragen wird nicht „linear und enzyklopädisch, sondern fragmentarisch mit Lücken und Brüchen“ nachgegangen. Die Sammlung will damit Zukunftsszenarien in den Vordergrund rücken und anhand der Fülle von Wissensbeständen im Depot Lösungsansätze aufzeigen.

Erwartungsgemäß sind viele Architekturmodelle zu sehen. Ein großer Teil stellt Stadtarchitektur dar, also zB Gemeindebauten und Stadtteile, die bewusst umgestaltet wurden, um den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Gefallen haben mir aber auch die aus Lego gebauten Modelle von den Prachtbauten der Wiener Ringstraße (zB Parlament und Staatsoper). Besonderen Spaß hatte ich am Holzmodell einer Sommertheaterbühne, die dicht in einen Stadtteil hinein gebaut ist. Ich hatte sie sofort erkannt als die Bühne des Sommertheaters in Haag.

Besonders interessant fand ich auch den Vergleich von Bodenprofilen von Walter Fitz. In zwei nebeneinander stehenden Glaskästen kann versiegelter Stadtboden mit einem landwirtschaftlichen Bodenprofil verglichen werden, der Unterschied ist enorm. Diese Visualisierung des immer wieder in den Medien zu hörenden Begriffs Bodenversiegelung fand ich sehr einleuchtend. Ausstellungsdisplay in einer Nische mit halbkreisförmigem Fenster darüber, vor einem roten Vorhang ist ein Architekturmodell eines Wiener Gasometers und daneben ein Vergleich von Bodenprofilen zu sehenIm hinteren Bereich der Ausstellung wird von der Vergangenheit in die Zukunft geblickt. Mit einem Rückblick auf die durch das Jahr 1968 eingeleitete Umweltdebatte und die darauf basierend entstandenen Utopien wird übergeleitet zu Innovationen, die uns heute im Bezug auf die Klimakrise beschäftigen. Ein bewegtes Exponat stellt dabei das Objekt Splitterwerk von Mark Blaschitz, Edith Hemmrich und Josef Roschitz dar:

In vertikalen Sonnenkonversionslamellen aus Glas, die mit wässrigem Nährmedium gefüllt sind, entsteht in der SolarLeaf-Lamelle aus CO2 und Sonnenlicht Algen-Biomasse; gleichzeitig wird ein solarthermischer Effekt erzielt, da die Sonnenstrahlung das wässrige Medium erwärmt. Beide Energieträger werden über ein Kreislaufsystem in die Technikzentrale des Gebäudes geleitet und dort über einen Wärmetauscher bzw. einen Algenabscheider entnommen.

Projekt Splitterwerk, Sonnenkonversionslamellen aus Glas, darin eine grün gefärbte Flüssigkeit, in regelmäßigen Abständen steigen aus dem unteren Bereich Luftblasen nach oben aufEin hellblau gestalteter Bereich ganz hinten im Raum beschäftigt sich mit Architektur im Bildungsbereich. Die Anerkennung der Kindheit als autonomer Lebensabschnitt im ausgehenden 18. Jahrhundert erforderte die Entwicklung von spezifischen Räumen in Bautypologien wie Schulen, Kindergärten, Spielplätzen und Waisenhäusern. In architektonischen Veränderungen drückten sich auch soziale Öffnungsprozesse aus. Gerade in der Gestaltung von öffentlichen Gebäuden wie Schulen wurden immer wieder Innovationsschübe und gesellschaftliche Entwicklungen deutlich. Dies wird in mehreren Displays, die sich mit Schularchitektur beschäftigen, nachvollzogen.

Unten das Modell eines Schulgebäudes, darüber Schwarz-Weiß-Fotos von Schulgebäuden aus unterschiedlichen Epochen an einer hellblau gefärbten Wand

Das Fragmentarische der Ausstellung war mir bereits beim Durchgehen aufgefallen, meine Begleitung und ich waren uns jedoch beide nicht sicher, welche Funktion im Rahmen der Wissensvermittlung diese Ausstellung von einzelnen Aspekten ohne sichtbaren Zusammenhang erfüllen soll. Generell haben mir aber beide Ausstellungen im Architekturzentrum Wien trotz einiger Kritikpunkte gut gefallen. Den Sinn-Hintergrund des Objekts auf dem abschließenden Foto habe ich leider nicht notiert, der Grenzstein hat mir einfach gefallen.

Grenzstein auf einer Steinplattform mit der Aufschrift „Grenzzone – In Stein gemeißelt“

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English Roman

Nnedi Okorafor – Who Fears Death?

CN dieses Buch: Vergewaltigung, Völkermord, Sklaverei, Steinigung
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Says who? Says tradition. Oh, how our traditions limit and outcast those of us who aren’t normal.

Das Buch hab ich tatsächlich schon vor einigen Tagen fertig gelesen, konnte mich aber bisher nicht aufraffen, darüber zu schreiben. Die Geschichte ist schwierig und grausam und behandelt ein Thema, über das wir im Allgemeinen lieber nicht nachdenken würden.

The tinny smell of old wiring and dead motherboards was stronger up close. There were scattered keys from keyboards and pieces of thin plastic in the sand from broken screens and casings.

Dass es sich um eine dystopische Zukunftswelt handelt, wird lange nur angedeutet, das Fantastische (Menschen, die in der Lage sind, sich in Tiere zu verwandeln oder andere magische Fähigkeiten haben) überdeckt jedoch nicht die Ungerechtigkeit, mit der Menschen für Ereignisse bestraft und ausgegrenzt werden, die vor ihrer Geburt geschehen sind. Die Verzweiflung dieser von Geburt an gebrandmarkten und ausgestoßenen Menschen; das Unverständnis, mit dem diese als minderwertig angesehenen Kinder der Welt begegnen, wird deutlich spürbar.

To be something abnormal meant that you were to serve the normal. And if you refused, they hated you … and often the normal hated you even when you did serve them. 

Zu diesem Buch kann ich nur jenen raten, die sich tatsächlich in eine intensive Auseinandersetzung mit Unterdrückung, körperlicher Gewalt und dem Kampf gegen gesellschaftliche Normen, die diese Verhältnisse stützen, begeben wollen. Wer Parable of the Sower gut findet, wird auch hier nicht enttäuscht werden.

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Erfahrungsbericht Memoir

Kelly Grey Carlisle – We Are All Shipwrecks

Mostly I felt bad that she hadn’t had a dad, that people had lied to her, that she hadn’t been happy at home. That she hadn’t lived. Mostly I just wished I knew more about her.

Das Buch beginnt mit einer Enthüllung. Die Mutter der Autorin wurde ermordet, als die Autorin selbst gerade drei Wochen alt war. Diese Tragödie könnte nun im Zentrum dieser Familiengeschichte stehen. Selbstverständlich hat dieses Ereignis den Lebensverlauf der Autorin massiv beeinflusst und sie sucht auch immer wieder nach näheren Informationen, sowohl über den Tod ihrer Mutter (und was davor geschah), als auch über den biologischen Vater, den sie nie kennengelernt hat. Viel wichtiger sind jedoch die Menschen, die in ihrem Leben sind und ihre Entscheidungen prägen.

I didn’t know then what I know now: that there are almost as many “weird” families as there are normal families; that “normal” isn’t really normal; that we all have stories to tell about where we come from.

Durch die Kindheit und Jugend der Autorin zieht sich ein intensives Gefühl des Nicht-Dazu-Passens, des Nicht-Normal-Seins. Der frühe Tod der Mutter, der abwesende Vater, Aufwachsen mit den Großeltern auf einem Boot im Hafen, das „zweifelhafte“ Geschäft des Großvaters (er betreibt einen adult video store), Privatschule mit Schuluniformen – auf der High School wird das Gefühl schließlich übermächtig und erst als die Autorin aufs College geht (diesen Lebensabschnitt behandelt das Buch nicht), findet sie eine Art Frieden mit sich selbst und ihrer Herkunft.

Immer wieder betont der Großvater, dass die Herkunft so prägend ist dafür, was aus uns wird, was für ein Mensch wir sind. Die Autorin kommt schließlich zur Erkenntnis, dass das nur ein Teil der Wahrheit ist. Wer wir sind/werden, passiert auch, wenn wir unser Zuhause verlassen, es passiert unser ganzes Leben lang. Unsere Herkunft, unsere Familie bestimmt in hohem Maße die Chancen, mit denen wir ins Leben starten. Was wir daraus machen, liegt aber in unserer eigenen Hand.

You are turning into “who you are” your whole life.

 

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Roman

Sally Rooney – Normal People

Irgendwie hatte ich die beiden Bücher der Autorin verwechselt und dachte eigentlich, ich würde das andere lesen, was mich interessanterweise lange davon abgehalten hat, zu sehen, worum es in diesem Buch eigentlich geht. Mit dem Thema Normalität und was das eigentlich bedeutet, habe ich mich in diesem Jahr intensiv beschäftigt und aus dieser Richtung betrachtet, gibt das Buch unendlich viele Antworten auf diese Frage.

Die Geschichte beschreibt die Beziehung von Marianne und Connell, die sich ausgehend vom High-School-Alter über die Jahre hinweg stetig verändert. Zu Beginn wird Marianne als Außenseiterin beschrieben, eine Person, die sich nicht darum kümmert, was andere von ihr denken, die ihr eigenes Ding macht und ihre eigene Persönlichkeit lebt, während Connell beliebt ist, einen großen Freundeskreis hat und in allen Dingen dazugehört. Beim Wechsel aufs College verändert sich dieses Verhältnis, plötzlich ist Marianne beliebt und begehrt und Connell zweifelt an sich selbst und an seinen Lebensentscheidungen.

Im Verlauf des Buches blickt die Leser*in immer tiefer in die Persönlichkeit und die Hintergründe der beiden Protagonist*innen und irgendwann kam auch für mich der Moment, wo mir trotz der falschen Erwartungshaltung klar wurde, dass es darum geht, dass sich das, was wir unter Normalität verstehen, auf der Basis unserer eigenen Perspektive verändert. In der chaos-nahen Szene (dazu gehören der deutsche Chaos Computer Club CCC und der österreichische Chaos Computer Club Wien sowie alle chaosnahen Hackspaces und Vereine) wird oft davon gesprochen, dass wir uns auf Chaos-Veranstaltungen endlich unter normalen Leuten befinden. Mich hat das immer schon etwas befremdet, weil es dieses Gefühl des Nicht-Dazugehörens, was viele Menschen im Chaos offenbar in ihrem regulären Leben empfinden, einfach nur umkehrt und ausdrückt, dass nun alle anderen nicht dazugehören.

Beim Versuch, das Wort normal zu definieren, ohne dabei Wertungen vorzunehmen, bin ich bisher immer bei der Definition gelandet, dass das normal ist, was die Mehrheit tut oder als normal empfindet. Auf einer Chaos-Veranstaltung ist das dementsprechend nicht dasselbe wie auf einem Ärztekongress oder in einer vollbesetzten Straßenbahngarnitur.

Wenn wir aber unseren Standpunkt verändern, dann können wir auch definieren, was für uns selbst normal ist. Für mich ist es normal, täglich mit meinem Hund spazieren zu gehen, das tue ich an der Mehrheit aller Tage im Jahr (ausgenommen Urlaube, wo der Hund anderweitig betreut wird). Für mich ist es normal, mein Auto nur dann zu verwenden, wenn es notwendig ist, um Personen oder Dinge zu transportieren oder wenn es aus Zeit- oder Ortsgründen absolut nicht anders möglich ist. Für mich ist es normal, beim Einkaufen darauf zu achten, dass ich möglichst wenig Plastik einkaufe. Was wir also als normal empfinden, das können wir selbst bestimmen, das müssen wir uns nicht von der Mehrheitsbevölkerung vorschreiben lassen. Manchmal werden wir dafür Kommentare und vielleicht sogar Kritik einstecken müssen (darum wird es auch im übernächsten Post noch gehen). Aber immerhin können wir wissen, dass wir selbst über unser Verständnis von Normalität entscheiden.

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Essays Memoir

Alexander Chee – How to Write an Autobiographical Novel

There was something I wanted to feel, and I felt it only when I was writing.

Dieser Lithub-Artikel über normale Lebensgeschichten enthielt unter anderem diese Buchempfehlung. Das Wort normal wollte ich eigentlich nicht mehr verwenden, aber das englische Wort regular im Titel des Artikels ist wohl tatsächlich in dieser Bedeutung zu verstehen, wie aus dem ersten Absatz deutlich hervorgeht. Die Autorin Mary Laura Philpott war übrigens lange Mitarbeiterin von Parnassus und hat mit I miss you when I blink in diesem Jahr selbst ein Memoir-in-essays veröffentlicht. In unserer pluralistischen Gesellschaft verliert das Wort normal im Sinne von normal ist, was die Mehrheit macht ohnehin zunehmend seine Bedeutung. Ein von der gesellschaftlich geprägten Normalitätsvorstellung abweichendes Leben zu führen, wird jedoch immer noch hauptsächlich negativ gesehen. Alternativ hatte ich in letzter Zeit das Wort gewöhnlich ausprobiert, es hat jedoch den Nachteil, dass es dem Gewöhnlichen einen negativen Beigeschmack verleiht.

You succeed, you celebrate, you stop writing. You don’t succeed, you despair, you stop writing. Just keep writing. Don’t let your success or failure stop you. Just keep writing.

Alexander Chee beschreibt in seinem Memoir-in-essays natürlich nicht nur, wie er einen autobiographischen Roman geschrieben hat. Das Schreiben dieses Romans war für ihn die Aufarbeitung eines Kindheitstraumas, ein Missbrauch durch einen Chorleiter. Schonungslos mit sich selbst erzählt der Autor, wie tief er die eigene Scham jahrelang in sich vergraben hatte und wie sich ihm durch das Schreiben und eine Therapie schließlich eine Art Ausweg aus einer dunklen Ecke seiner Erinnerungen eröffnete.

I was really only broken, moving through the landscape as if I were not, and taking all my pride in believing I was passing as whole.

Nebenbei beschreibt er die Entwicklung der Schwulenszene in New York und setzt politische Akzente mit Episoden aus seiner Zeit in einer Bewegung, die sich gegen die Diskriminierung von AIDS-Kranken eingesetzt hat. Er erzählt aus seiner Lehrtätigkeit und reflektiert dabei tiefgreifend, wie er seinen Schüler*innen zu vermitteln versucht, dass Schreiben eben nicht sinnlos ist, dass es einerseits die Schreibenden selbst verändert und andererseits auch bei den Leser*innen eine Veränderung bewirken kann. Er schreibt über das Zustandekommen von Beziehungen, was Beziehungen ausmacht („you each allow yourself new identities with each other“) und wie es uns gelingen kann, trotz aller negativen Entwicklungen nicht den Mut zu verlieren und weiterzuschreiben.

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English Roman

David Levithan – Someday

What I’m learning is that the heart has the capacity to love so many people. I used to think I had to give that capacity to just one person, and never hold back any love for myself. But how wrong I was.

Nach Every day und Another day, in dem der Autor die Geschichte des Kennenlernens von Rhiannon und A aus beider Perspektive beschreibt, folgt mit Someday eine Fortsetzung, die überraschenderweise noch mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet.

Am Ende der beiden vorhergehenden Bücher hat A sich entschlossen, den Kontakt zu Rhiannon abzubrechen. Natürlich können sie einander nicht vergessen und nehmen schließlich den Kontakt wieder auf. Beide erkennen, dass ihre Beziehung zu Beginn darunter gelitten hat, dass sie sich nicht in gewöhnliche Beziehungskonzepte pressen lässt. Wenn die bekannten Beziehungsmuster nicht zu passen scheinen, kann eine Beziehung nicht erfolgreich sein, das denken sowohl A als auch Rhiannon. In diesem Buch definieren Rhiannon und A ihre Beziehung neu: Sie muss nicht exklusiv sein. Sie muss nicht den gängigen Vorstellungen einer lebenslangen Beziehung entsprechen. Sie muss nicht einer klassischen Beziehungsentwicklungslinie (mir fällt leider wirklich keine bessere deutsche Version für relationship escalator ein) folgen. All diese Ansprüche haben eine Beziehung zuvor verhindert. In dieser Fortsetzung konzentrieren sich beide darauf, was sie einander geben können, was sie zusammen haben können und daraus entsteht etwas völlig Neues. Das Sprengen von gesellschaftlichen Vorstellungen und Rahmenbedingungen und Schaffen von Räumen für eigene Ideen abseits der gängigen Normalitätsfolien schafft Möglichkeiten, die zuvor undenkbar waren. Diese ermutigenden Botschaften zwischen den Zeilen sind eine der besonderen Leistungen des Autors.

But if it becomes normal for us – that’s good. That’s all we can ask for.

Zumindest so spannend wie der Beziehungsaspekt war für mich die Tatsache, dass nun auch andere Personen wie A zu Wort kommen. Dadurch wird die Perspektive auf die Frage, was eine Person ausmacht, erneut erweitert. Die körperwandernden Personen beschreiben ähnliche aber zugleich vollkommen unterschiedliche Erfahrungen. Worauf es ankommt, ist wie die Person mit einer Situation umgeht. Täglich treffen wir Entscheidungen, die sich nicht nur auf uns selbst, sondern auch auf andere Personen auswirken. Ob wir dabei hauptsächlich auf unseren eigenen Vorteil schauen oder auf das Wohl anderer Menschen oder sogar auf das große Ganze – das macht in meinen Augen einen wesentlichen Aspekt der Persönlichkeit aus.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch kurz das Konzept Body neutrality erwähnen, das sich im weitesten Sinn auch im Text verorten lässt. Bei diesem Gegenkonzept zu Body positivity geht es nicht darum, den eigenen Körper um jeden Preis schön zu finden, sondern darum, dass es auf den Körper nicht so ankommt: der Mensch im Körper ist wichtiger als wie der Körper aussieht. Das Hadern mit dem eigenen Körper lässt sich im Allgemeinen nicht von einem Tag auf den anderen (und vielleicht überhaupt nie) vollständig ablegen. Aber der Gedanke, sich von der Doppelbelastung, den eigenen Körper perfektionieren und gleichzeitig den unperfekten Körper lieben zu müssen, verabschieden zu können, kann nicht oft genug geteilt werden.

But the whole point of love is to write your own version of normal.

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Roman

Jeanette Winterson – Why Be Happy When You Could Be Normal?

It’s like reading a book with the first few pages missing. It’s like arriving after curtain up. The feeling that something is missing never, ever leaves you – and it can’t, and it shouldn’t, because something is missing.

Spontankauf bei Books & Bagels in Berlin vor etwas weniger als einem Jahr. Pro Tipp: Zuerst die Bücher kaufen. Wir haben Kaffee getrunken und einen ausgezeichneten Bagel gegessen und dann habe ich so viele Bücher gekauft, dass mir ein Gratis-Getränk angeboten wurde.

Die Autorin reflektiert in diesem Werk über verschiedene Aspekte ihrer eigenen Lebensgeschichte. Das obige Zitat bezieht sich auf ihre Adoption. Ihre Kindheit war geprägt von dem Wissen, dass ihre Mutter nicht ihre biologische Mutter ist. Dem Wissen, dass sie anders ist und der Überzeugung, von ihrer biologischen Mutter nicht gewollt worden zu sein. Dieses Thema zieht sich durch das komplette Buch. Es verweist auf das fundamentale Bedürfnis des Menschen nach Gesellschaft, nach dem Gefühl, nicht nur gebraucht sondern auch gewollt zu werden, genau so wie der jeweilige Mensch bereits ist und nicht irgendwie anders.

When I was born I became the visible corner of a folded map. The map has more than one route. More than one destination. The map that is the unfolding self is not exactly leading anywhere. The arrow that says YOU ARE HERE is your first coordinate. There is a lot that you can’t change when you are a kid. But you can pack for the journey …

Ein großer Teil des Buches befasst sich mit dem Aufwachsen als Jugendliche in einer nordenglischen Kleinstadt, die wenig Raum für Individualität bietet. Das Gefühl, anders zu sein, nicht dazu zu passen, anderes zu wollen, als nur sich einzuordnen in den Alltagstrott aus Arbeit, Kirche, Küche, zieht sich durch viele Entwicklungsjahre. Das titelgebende Konzept der Normalität wird hinterfragt und auf den Kopf gestellt. Die von der Autorin beschriebene Familienkonstellation ist keinesfalls als normal (im Sinne von in der Gesellschaft weit verbreitet) zu betrachten. Für Jeanettes Adoptivmutter (im Buch distanziert als Mrs. Winterson bezeichnet) stellt jedoch ihr eigenes Normalitätsideal ein unüberwindbares Bollwerk dar, das von der ausbrechenden Adoptivtochter schließlich ins Wanken gebracht wird. Ihre Erwartungen werden enttäuscht.

Books, for me, are a home. Books don’t make a home – they are one, in the sense that just as you do with a door, you open a book, and you go inside. Inside there is a different kind of time and a different kind of space.

Im dritten Teil des Buches lernt die Autorin schließlich ihre Familie kennen. Sie hat sich durch schlimme Lebensphasen gekämpft (und beschreibt diese auch eindrücklich) und ihre eigene Beziehungsfähigkeit hinterfragt und analysiert. Sie beschönigt den Prozess nicht, ihre biologische Familie entspricht nicht ihren Erwartungen.

Das Konzept der Normalität basiert auf Erwartungen, die gesellschaftlich geprägt sind. Auch die Erwartungen, die jeder von uns sich vermeintlich selbst ausdenkt, sind gesellschaftlich geprägt und von Werten durchdrungen, die wir von unseren Bezugspersonen in verschiedenen Lebensphasen übernommen und (hoffentlich) reflektiert haben. Normal zu sein im Sinne von in die Gesellschaft integriert, nicht auffallend, in einem gängigen Lebensmuster lebend kann für viele Menschen der richtige Weg sein. Normal und glücklich zu sein kann genauso funktionieren. Wenn jedoch die Erwartung, normal sein zu müssen oder zu wollen, dem eigenen Glück im Wege steht, dann sollte jede und jeder Einzelne die Normalität lieber über Bord werfen und alternative Wege ausprobieren.

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Roman

Katherine Dunn – Geek Love

Jeder Versuch, diese Geschichte in kürzere Worte zu fassen, als exakt die Worte, die das Buch lang ist, muss unweigerlich scheitern. Mehr Einleitung sollte es hier nicht brauchen.

Das Buch erzählt auf zwei Zeitebenen die Geschichte der Familie Binewski, die als [Zirkus|Karneval|Freak Show] durch die USA reist. Die Eltern Al und Lil – beide als Normalos geboren. Die Kinder – jedes auf seine eigene Art besonders, im Sinne von nicht der Norm entsprechend. Die Vorzeichen sind hier umgekehrt: Besonders zu sein bedeutet herausragend, Normalsterbliche werden bedauert, die Binewski-Kinder haben kaum Kontakt zu Menschen außerhalb ihrer kleinen Welt.

Daraus resultiert auch ein besonderes Moralverständnis. Die Binewski-Kinder wetteifern um die Gunst des Publikums und der Eltern. Sie haben nur einander und das Publikum. Arturo, der älteste Bruder – geboren ohne Arme und Beine und als Aqua Boy berühmt geworden – entwickelt sich Stück für Stück zum Diktator, der seine Geschwister tyrannisiert und seinen eigenen Kult gründet. Eine Religion für Menschen, die so sein wollen wie er. Also ohne Arme und Beine. Abhängig von der Hilfe anderer.

Eines der Elemente, das diesen Roman gleichzeitig so furchterregend und spannend macht, ist die Leichtigkeit, mit der schlimmste Körperverletzungen als normal beschrieben und nicht hinterfragt werden. Experimente an menschlichen Körpern gehören zum Alltag. Der Familienzusammenhalt steht über allem. Bis zu dem Tag, als das Maß voll ist und der jüngste Bruder explodiert …

Ein besonderes Buch, mehr kann ich nicht sagen. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich auf diese schräge Welt einlassen konnte. Es ist notwendig, aber gleichzeitig schwierig und schmerzhaft, die vermeintliche Normalität hinter sich zu lassen und die veränderten Gesetze einer anderen Gesellschaft zu akzeptieren. Normalität ist immer das, was der Einzelne kennt. Normalität ist das Gegenteil des Unbekannten.

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Memoir

Ariel Levy – The Rules Do Not Apply

Every so often, I like to break up my stack of fiction and throw in a memoir by a real person reflecting on real life — preferably by a fantastic, unflinching writer, which Ariel Levy is.

Parnassus-Empfehlung

Seit ich im Rahmen der letzten Reading Challenge das Genre Memoir entdeckt habe, interessieren mich echte Lebensgeschichten beinahe mehr als erfundene. Es hat vielleicht mit einer Suche nach Vorbildern zu tun, nach Menschen, die in irgendeiner Form aus der Normalität herausfallen, trotzdem etwas aus ihrem Leben machen und dann darüber berichten. Die gesellschaftlichen Normen haben sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert (Risikogesellschaft). Natürlich gibt es noch das vorherrschende Bild der normalen Familie, auf immer mehr Menschen trifft es jedoch nicht mehr zu. Neue Lebensformen entwickeln sich täglich und vermutlich orientiert sich jeder Mensch bis zu einem gewissen Grad an den Vorbildern anderer. Es braucht also auch Vorbilder für nicht mehrheitsfähige Lebensformen.

Daring to think that the rules do not apply is the mark of a visionary. It’s also a symptom of narcissism.

Dass es bei solchen echten Lebensgeschichten kein Happy End gibt, kann gleichzeitig eine gute wie auch eine schlechte Sache sein. Bei diesem Buch hatte ich das untrügliche Gefühl, dass es nur ein Lebensabschnitt war, der hier beschrieben wird und dass die Autorin noch viel mehr vor sich hat, als sie beschreibt. Ein Gefühl, dass sich bei keiner Autobiografie – oder eben amerikanisch Memoir – vermeiden lässt. Erst wenn die Person tatsächlich tot wäre, ließe sich ein ganzes Leben beschreiben, dann kann die Person aber nicht mehr selbst davon erzählen. Catch-22.

We want intimacy and autonomy, safety and stimulation, reassurance and novelty, coziness and thrills. But we can’t have it all.

Die Autorin beschreibt ihr Leben bis zu einem großen Einschnitt, durch den alles, was sie sich aufgebaut hatte, mit einem Schlag vernichtet wird. Sie erzählt selbst von den (vermutlich) schlimmsten Momenten ihres Lebens in einer Klarheit, einer Art emotionalen Distanz, die dem Geschehen scheinbar die Schwere nimmt. Das zeugt entweder von einer intensiven therapeutischen Auseinandersetzung mit den Ereignissen oder von großem literarischen Können. Oder beidem.

And it had certainly never crossed my mind that my reaction – my suffering – was mine: something I had come up with, not something I needed to blame on anyone else.