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Josef Haslinger – Opernball

CN: Terrorismus, Mord, Gewalt, sexuelle Gewalt, Ermordung von Angehörigen, Suizid, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Holocaust, Konzentrationslager, Krieg, graphische Beschreibungen von Kriegsverbrechen, Rassismus


Zu diesem Buch hat mich wiederum ein Literatur-Geocache geführt. Allerdings hab ich nach den ersten 100 Seiten dann mit Sicherheit feststellen können, dass ich zwar den richtigen Autor hatte, aber das falsche Buch. Da war ich dann aber schon mittendrin in der Geschichte …

Die Content Notice von oben möchte ich nochmal ergänzen: Einige Passagen in diesem Buch haben mich sehr mitgenommen. Das passiert mir nicht oft, ich habe in meinem Arbeitsalltag auch hin und wieder mit medizinischen Fotos aus dem realen Leben zu tun und kann mir diese mit leichtem Ekel ansehen und dann wieder vergessen. Bei sehr gewalttätigen Szenen in Filmen oder Serien schaue ich lieber weg, tatsächlich sind aber die Begleitgeräusche meistens schlimmer als die Bilder. Bei Büchern hatte ich das in meiner Erinnerung nur äußerst selten, das Einzige, das mir jetzt spontan einfällt, ist A Clockwork Orange. Ganz so schlimm war es in diesem Buch nicht, aber in einigen Szenen werden sehr bildhaft Gewalttaten beschrieben, das will sich vielleicht nicht jede Leser:in zumuten.

Da das Buch schon mit den sterbenden Menschen in der Oper beginnt, ist es kein Spoiler, zu verraten, worum es in dem Buch geht: Der Opernball, ein traditionelles Wiener Ereignis mit vielen internationalen Gästen, wird Ziel eines Terrorismusanschlags mit Giftgas. Erzählt wird das Buch aus der Sicht eines Journalisten, der bei diesem Anschlag aus dem außerhalb der Oper stehenden Regiewagen hilflos zusehen muss, wie sein Sohn als Kameramann in der Oper hinter der Kamera stirbt. Seine persönliche Betroffenheit führt zum Versuch, die Hintergründe des Anschlags aufzuklären. Seine Perspektive wechselt sich ab mit der eines Polizisten, der die gewaltvollen Demonstrationen rund um die Oper vor und während des Opernballs schildert, und der des einzigen Terroristen, der den Anschlag überlebt hat. Alle diese Perspektiven enthalten grausame Details.

Der Journalist erzählt von der Vergangenheit seines Vaters, der bei der Befreiuung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen dabei war und Fotos vom unaussprechlichen Leid hütet, das er damals erlebt hat. In seiner Arbeit als Kriegsberichterstatter wurde der Journalist selbst Zeuge von unfasslicher Grausamkeit. Erschreckend dabei ist außerdem, wie kühl er von diesen Erlebnissen berichtet, wie er mehr an seine Geschichte und an die Bilder denkt, als an die Menschen, die die Opfer dieser Grausamkeit sind.

Der Polizist erzählt von den Aggressionen, die Polizisten (von Polizist:innen ist nur in Nebensätzen und abwertend die Rede) während Demonstrationseinsätzen empfinden und wie sich die Einsatzkräfte gegenseitig aufstacheln, um im Chaos nicht die Nerven zu verlieren. Dabei werden die Demonstrierenden entmenschlicht, um das gewaltvolle Vorgehen gegen sie zu rechtfertigen.

Der Terrorist (im Buch genannt: der Ingenieur) erzählt, wie es zu dem Anschlag kam. Wie sich die Gruppe bildete, wie aus zuerst harmlosen Saufgelagen Gewalttaten gegen Ausländer:innen werden, wie ein Brandanschlag geplant und durchgeführt wird. Dabei ist deutlich zu verfolgen, wie der Ingenieur, der zwar schon zu Beginn eine deutlich menschenfeindliche Einstellung zur Schau trägt, radikalisiert wird, wie er sich dem Sektenführer unterwirft, wie dessen religiöses Gehabe keinen Widerspruch duldet und sich der Ingenieur als der Auserwählte fühlt, der den anderen Mitgliedern der Gruppe vorgezogen wird.

Der Roman ist im Jahr 1995 erschienen, das ist aber (abgesehen von der Abwesenheit von Smartphones) kaum spürbar. All dieser Hass ist in unserer Gesellschaft heute genau so präsent wie damals. Gerade deshalb ist dieses Buch vielleicht aktueller, als ich es mir wünschen würde.

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Roman

Vicki Baum – Vor Rehen wird gewarnt

CN dieses Buch: Tod, Sterben, Krankheit, Feuer, Mordversuch
CN dieser Post: –


[…] Übrigens ist niemand ganz normal, und was heißt das überhaupt: normal sein? Normalität ist ein willkürlicher Begriff, und wir wissen weniger davon als über die Entfernung zwischen den Planeten oder die Abweichung der Lichtstrahlen. Normalität lässt sich nicht abmessen, weil sie nichts Absolutes ist, sondern nur eine Konvention.

Gute Zitate über den (von mir verhassten) Begriff Normalität finden sich an den überraschendsten Stellen. In diesem Zitat sticht für mich hervor, dass Normalität nichts Absolutes ist. Was als normal verstanden wird, hat sich über die Zeit immer wieder verändert. Es geht hier nur darum, was als Mehrheitsmeinung oder Mehrheitshandlung in der Gesellschaft angesehen wird.

Davon lässt sich schon überleiten zu dem, was ich an diesem Roman so erstaunlich finde: Obwohl die Erstveröffentlichung bereits über 70 Jahre zurück liegt (1951), fühlt sich der Roman erstaunlich aktuell an. Obwohl es an Rollenklischees der beschriebenen Epoche nicht mangelt, werden diese nicht ausgeschlachtet, sondern auf einer subtilen Ebene zwischen den Zeilen in Frage gestellt. Schon allein die Hauptfigur Ann Ambros, die vor keiner hinterhältigen Aktion zurückscheut, um ihre persönlichen Ziele zu verfolgen, ist ein sehr spezieller Frauentyp, der mit den Konventionen (der sogenannten Normalität) der damaligen Zeit bricht. Neben ihr stechen auch andere Frauenfiguren deutlich heraus: Stieftochter Joy, die sich schließlich durch einen gewalttätigen Kraftakt aus ihrer verzweifelten Lage zu befreien versucht oder Pianistin Mausi, die ihr Leben der Kunst widmet und sich mit Ann verbündet, um ihrerseits ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Wieder mal ein Buch, das mir über einen Literatur-Geocache zugeflogen ist. (Ausnahmsweise erlaube ich mir hier, den auch zu verlinken, weil der Titel des Geocaches ohnehin schon den Titel des Buches verrät.) Das Final liegt innerhalb des Wiener Zentralfriedhofs, auf dessen Besuch ich mich schon seit Längerem wieder freue.


Blick in die Ausstellung Hot Questions. Cold Storage. Links eine rote Wand, auf der Texte und Bilder zu sehen sind, mittig sind die hinteren Bereiche der Ausstellung in Blautönen zu sehen, rechts ein orangefarbenes Regal mit verschiedenen Architekturmodellen in Glaskästen

Als wir letztens für die Ausstellung Serious Fun. Architektur und Spiele im Architekturzentrum Wien waren, haben wir uns dann auch noch die neue Schausammlung Hot Questions. Cold Storage. angesehen. Die farbliche Gestaltung und die inhaltliche Einteilung in sieben Fragen hat mich sehr an die Aufmachung der Foodprints-Ausstellung im Technischen Museum Wien erinnert. Vielleicht ist das gerade ein Trend in der Ausstellungslandschaft?

Ausstellungsraum, links eine Art Tunnel aus blauen und violetten Wänden, in die Wand ist eine Wasserinstallation mit sichtbaren Blasen eingebaut, rechts Blick in die hinteren Bereiche der Ausstellung

Die „heißen Fragen“ aus dem Titel der Ausstellung bewegen sich in den Bereichen „Wie entsteht Architektur?“, „Wie wollen wir leben?“ und „Wer macht Stadt?“. Diesen Fragen wird nicht „linear und enzyklopädisch, sondern fragmentarisch mit Lücken und Brüchen“ nachgegangen. Die Sammlung will damit Zukunftsszenarien in den Vordergrund rücken und anhand der Fülle von Wissensbeständen im Depot Lösungsansätze aufzeigen.

Erwartungsgemäß sind viele Architekturmodelle zu sehen. Ein großer Teil stellt Stadtarchitektur dar, also zB Gemeindebauten und Stadtteile, die bewusst umgestaltet wurden, um den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Gefallen haben mir aber auch die aus Lego gebauten Modelle von den Prachtbauten der Wiener Ringstraße (zB Parlament und Staatsoper). Besonderen Spaß hatte ich am Holzmodell einer Sommertheaterbühne, die dicht in einen Stadtteil hinein gebaut ist. Ich hatte sie sofort erkannt als die Bühne des Sommertheaters in Haag.

Besonders interessant fand ich auch den Vergleich von Bodenprofilen von Walter Fitz. In zwei nebeneinander stehenden Glaskästen kann versiegelter Stadtboden mit einem landwirtschaftlichen Bodenprofil verglichen werden, der Unterschied ist enorm. Diese Visualisierung des immer wieder in den Medien zu hörenden Begriffs Bodenversiegelung fand ich sehr einleuchtend. Ausstellungsdisplay in einer Nische mit halbkreisförmigem Fenster darüber, vor einem roten Vorhang ist ein Architekturmodell eines Wiener Gasometers und daneben ein Vergleich von Bodenprofilen zu sehenIm hinteren Bereich der Ausstellung wird von der Vergangenheit in die Zukunft geblickt. Mit einem Rückblick auf die durch das Jahr 1968 eingeleitete Umweltdebatte und die darauf basierend entstandenen Utopien wird übergeleitet zu Innovationen, die uns heute im Bezug auf die Klimakrise beschäftigen. Ein bewegtes Exponat stellt dabei das Objekt Splitterwerk von Mark Blaschitz, Edith Hemmrich und Josef Roschitz dar:

In vertikalen Sonnenkonversionslamellen aus Glas, die mit wässrigem Nährmedium gefüllt sind, entsteht in der SolarLeaf-Lamelle aus CO2 und Sonnenlicht Algen-Biomasse; gleichzeitig wird ein solarthermischer Effekt erzielt, da die Sonnenstrahlung das wässrige Medium erwärmt. Beide Energieträger werden über ein Kreislaufsystem in die Technikzentrale des Gebäudes geleitet und dort über einen Wärmetauscher bzw. einen Algenabscheider entnommen.

Projekt Splitterwerk, Sonnenkonversionslamellen aus Glas, darin eine grün gefärbte Flüssigkeit, in regelmäßigen Abständen steigen aus dem unteren Bereich Luftblasen nach oben aufEin hellblau gestalteter Bereich ganz hinten im Raum beschäftigt sich mit Architektur im Bildungsbereich. Die Anerkennung der Kindheit als autonomer Lebensabschnitt im ausgehenden 18. Jahrhundert erforderte die Entwicklung von spezifischen Räumen in Bautypologien wie Schulen, Kindergärten, Spielplätzen und Waisenhäusern. In architektonischen Veränderungen drückten sich auch soziale Öffnungsprozesse aus. Gerade in der Gestaltung von öffentlichen Gebäuden wie Schulen wurden immer wieder Innovationsschübe und gesellschaftliche Entwicklungen deutlich. Dies wird in mehreren Displays, die sich mit Schularchitektur beschäftigen, nachvollzogen.

Unten das Modell eines Schulgebäudes, darüber Schwarz-Weiß-Fotos von Schulgebäuden aus unterschiedlichen Epochen an einer hellblau gefärbten Wand

Das Fragmentarische der Ausstellung war mir bereits beim Durchgehen aufgefallen, meine Begleitung und ich waren uns jedoch beide nicht sicher, welche Funktion im Rahmen der Wissensvermittlung diese Ausstellung von einzelnen Aspekten ohne sichtbaren Zusammenhang erfüllen soll. Generell haben mir aber beide Ausstellungen im Architekturzentrum Wien trotz einiger Kritikpunkte gut gefallen. Den Sinn-Hintergrund des Objekts auf dem abschließenden Foto habe ich leider nicht notiert, der Grenzstein hat mir einfach gefallen.

Grenzstein auf einer Steinplattform mit der Aufschrift „Grenzzone – In Stein gemeißelt“

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Roman

Marjana Gaponenko – Wer ist Martha?

Mit einem verzückten Lächeln schaut Lewadski durch das Opernglas auf die Bühne und sieht – nichts. Er schaut viel weiter, er schaut in seine eigene Freude hinein.

Zu Anfang des Buches erhält der Protagonist Lewadski ein Todesurteil: Krebs. Der Professor der Ornithologie verweigert sich dem Rat des Arztes und bricht stattdessen nach Wien auf, um seine letzte Zeit auf Erden zu genießen. Seine Erlebnisse gleiten zusehends ins Illusionäre ab, immer absurder werden die Gespräche, die der menschenscheue Lewadski mit anderen Menschen im Hotel in Wien führt. Für mich gab es einen Knackpunkt, an dem ich plötzlich sicher war, dass es sich hier um Träume oder Visionen handelt und ab diesem Punkt fragte ich mich dann, ob Lewadski überhaupt nach Wien gefahren ist oder ob schon von Anfang an die Diagnose seinen Geist verwirrt hat. Antworten darauf gibt der Roman keine. Vieles bleibt der Vorstellungskraft der Leser*in überlassen. 

Es war der Zauber des Abschieds, ein Versprechen, das sich fern von dieser Welt erfüllen wollte.

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Sachbuch

Martin Geck – Wenn der Buckelwal in die Oper geht

Man kann solche und ähnliche Gags nicht ständig wiederholen; doch Haydn liebt es, sie als sein Markenzeichen immer wieder einmal anzubringen: Sie sind Ausdruck eines Humors, von dem noch der Romantiker Jean Paul schwärmte. Dieser lebte in einer Zeit, als unkonventionelle Anfänge bereits das A und O aller Literatur waren. Ein Dichter tut sich damit freilich auch leichter als ein Komponist.

Wenn ein Professor der Musikwissenschaft sich hinsetzt, um ein Buch zu schreiben, erwartet man zweifellos eine trockene Abhandlung über Musiktheorie oder die langgezogene Biographie eines Komponisten. Martin Geck hat zwar auch eine Mozart-Biographie verfasst, wenn er diese aber in dem gleichen liebevoll ironischen Ton verfasst hat, wie seine „Variationen über die Wunder klassischer Musik“, kann es sich dabei nur um ein ausgesprochen amüsantes Werk handeln.

Viele professionelle Musikkritiker machen es freilich nicht besser: Während man anlässlich einer Kunstausstellung über die Bilder berichtet, interessieren an einer Opernpremiere vor allem Sänger und Regiekonzept.

Dabei balanciert Geck stets zwischen der Bewunderung der unterschiedlichen Techniken der Komponisten sowie der ironischen Betrachtung deren Eigenheiten. Dabei vergisst er jedoch nicht auf pointierte Analysen der behandelten Genres (exemplarisch sei hier die Variation „Nachtwandlerinnen der Liebe – Boudoir und Bordell in der Oper“ genannt). Dass es ihm gleichzeitig auch noch gelingt, die Musikkritiker und deren lückenhafte Analyse der Werke auf die Schippe zu nehmen, ohne dabei vom Weg abzukommen, gleicht einem Drahtseilakt.

Wenngleich das alles mit einem Kulturbetrieb zusammenhängt, der sich auf Weiteres nicht verändern lässt, schreibe ich unbeirrt dagegen an – und dies in der Überzeugung, dass mehr von Musik hat, wer sie nicht nur selbst macht oder hört, sondern sich mit ihr auch gedanklich auseinandersetzt.

Aber über all der Kritik, die Geck sowohl Komponisten als auch allen anderen an musikalischen Werken Beteiligten angedeihen lässt, bleibt das alles beherrschende Gefühl stets die Liebe zur Musik, wie aus dem letzten Zitat deutlich hervorgeht. In der letzten Variation bezeichnet er die Musik unter anderem als Sprache der Engel und führt aus, was sie aus Menschen machen kann, wenn man ihr nicht nur mit offenem Ohr, sondern auch mit offenem Herzen lauscht. Und so ist dieses Werk auch nicht nur für Musiktheoretiker zu empfehlen, sondern jedem, der sich an der intelligenten Auseinandersetzung mit Musik ebenso erfreuen kann wie an der Musik selbst.