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Erfahrungsbericht Sachbuch

Oliver Sacks – Zeit des Erwachens

Wir müssen sogar noch weiter gehen: Wenn nämlich unsere Patienten Erlebnissen unterworfen sind, die so eigentümlich sind wie die Bewegungen ihrer Träger – und wir haben Grund, dies anzunehmen –, dann benötigen sie viel Hilfe, eine sorgfältige und geduldige Zusammenarbeit, um das beinahe Unsagbare sagen und das beinahe nicht Vermittelbare mitteilen zu können. Wir müssen Mutentdecker sein im unwirtlichen Reich des vom Parkinsonismus Befallen-Seins, in diesem Land jenseits der Grenzen der normalen Erfahrung.

Dieses Buch wurde mir vom lieben Freund A. geschenkt (er hat ausgemistet und mich gefragt, ob ich Interesse hätte). Warum ich es haben wollte, weiß ich ganz ehrlich nicht mehr. Schon bei der Einleitung kamen mir heftigste Bedenken. Aber wegen des kürzlich erlittenen Fehlschlags (#nonmention) wollte ich nicht gleich das Buch ins Korn werfen.

Der Neurologe Oliver Sacks arbeitete zuerst am Mount Zion Hospital in San Francisco. Kurz nach der Übernahme der Professur für Neurologie am Albert Einstein College of Medicine in New York entdeckte er in einem Hospital für chronisch Kranke eine Gruppe von Postenzephalitikern, deren Krankheitsverlauf und Therapiegeschichte schließlich die Grundlage für dieses Buch bildeten. Es folgen ein paar Grundlagen, die ich mir selbst erst aneignen musste (es ist immer wieder faszinierend, was man über eine Krankheit zu wissen glaubt, obwohl man eigentlich gar nichts weiß).

Der Begriff Parkinson-Syndrom ist ein Überbegriff für Erkrankungen mit den Leitsymptomen Rigor (Muskelstarre), Bradykinese (verlangsamte Bewegungen) bis zu Akinesie (Bewegungslosigkeit), Tremor (Muskelzittern) und posturale Instabilität (Haltungsinstabilität). Bekannt ist im Allgemeinen Morbus Parkinson als idiopathische Erkrankung (ohne bekannte genetische oder äußere Auslöser). Es gibt jedoch auch andere Formen des Parkinson-Syndroms, die etwa durch andere Krankheiten ausgelöst werden können (sekundäre Syndrome) oder im Rahmen anderer neurodegenerativer Erkrankungen (atypische Syndrome) auftreten.

Ein Spezialfall ist hier die Encephalitis lethargica, an der die meisten von Oliver Sacks Patienten erkrankt waren. Es handelt sich hierbei um eine Gehirnentzündung, die Krankheit trat zwischen 1917 und 1927 epidemisch auf, danach sind nur noch Einzelfälle dokumentiert. Während der akuten Krankheitsphase leiden die Patienten an Lethargie und unkontrollierbaren Schlafanfällen. Die Folgeerkrankungen ähneln oft den Parkinson-Symptomen und wurden daher auch in dieses Gebiet eingeordnet.

Lediglich ein Bereich – und nur dieser – blieb gewöhnlich von der gewaltigen Krankheit verschont: die „höheren geistigen Fähigkeiten“ wie Intelligenz, Vorstellungskraft, Urteilsfähigkeit und Humor. So konnten die Patienten, selbst in extremen Grenzsituationen, ihren Zustand bei völliger geistiger Klarheit erleben; sie behielten die Fähigkeit, sich zu erinnern, Vergleiche anzustellen, zu differenzieren und Zeugnis über ihr einzigartiges Schicksal abzulegen.

Oliver Sacks dokumentierte nun in seinem Buch die Behandlung der Patienten mit L-Dopa, einer Vorstufe des Neurotransmitters Dopamin (heutzutage oft das Glückshormon genannt). Das Parkinson-Syndrom ist unter anderem durch einen Mangel an Dopamin gekennzeichnet, wie der Pharmakologe Oleh Hornykiewicz in Wien und der Neurologe André Barbeau in Montreal im Jahre 1960 feststellten. Anfang 1967 berichtetet George Cotzias schließlich über Behandlungserfolge bei Parkinson-Patienten durch L-Dopa. Zwei Jahre später war der Preis für das neue „Wundermedikament“ gefallen, sodass Oliver Sacks es auch an seinen Patienten in Mount Carmel anwenden konnte.

Jeder beschriebene Patient ist an sich einer Erwähnung wert, die Lebens- und Fallgeschichten sind sehr unterschiedlich. Es gelingt Oliver Sacks auf ganz erstaunliche Art, jeden Patienten als Persönlichkeit zu betrachten und auch abzubilden. Auch die Reaktionen der Patienten auf das neue Medikament und die Veränderungen, die es in ihrem Leben auslöste, sind sehr verschieden. Gerade in den abschließenden ergänzenden Kapiteln, die der Autor erst für die später veröffentlichten Ausgaben hinzufügte, zeigt sich, wie unterschiedlich die Patienten auch auf die Langzeitanwendung von L-Dopa reagierten.

In den abschließenden Reflexionen erläutert Oliver Sacks auch die Zusammenhänge zwischen Erwachen und Heimsuchung, die alle Patienten in der einen oder anderen Form erlebten. Mich erinnerte der untenstehende Absatz daran, dass Dopamin als Glückshormon bezeichnet wird und Glück und Zufriedenheit viel zu oft gleich gesetzt werden. Diese Erkenntnisse sollten uns auch klar machen, dass durch Medikamente auch keine immerwährende Glückseligkeit erreicht werden kann. Der Mensch und sein Gehirn sind komplexer als nur die Summe ihrer Einzelteile und der chemischen Reaktionen dazwischen.

Erwachen zeichnet sich durch vollständige Befriedigung aus, durch völlige Erfüllung der Bedürfnisse des Organismus. Zu diesem Zeitpunkt sagt der Patient: „Ich habe, was ich brauche, ich brauche nichts mehr, ich habe genug, alles ist gut.“ … „Es geht mir gut“ bedeutet immer „Es ist genug“ – bedeutet Befriedigung, Zufriedenheit, Erfüllung, Erleichterung. … Aber leider, leider dauert dieses Glück des „genug“ niemals an. Nach einer gewissen Zeit geht es verloren und von da an gibt es nie mehr eine zutreffende Dosierung, das „Genug“ wird durch Zuwenig und Zuviel ersetzt, der Patient kann nicht mehr im Gleichgewicht gehalten werden.

In einem weiteren Kapitel vergleicht Dr. Sacks den Zustand des Parkinsonismus mit der Chaostheorie. Die über die Jahrzehnte entstandenen technischen Möglichkeiten wie zum Beispiel genaue EEG-Aufzeichnungen der Gehirnströme bildeten die Basis für einen neuen Blick auf die Krankheit und die Wirkungen des verabreichten Medikaments. In manchen Ticks der Patienten erkannte Dr. Sacks auch eine fraktale Dimension und verweist in diesem Zusammenhang auf Mandelbrot.

Das Chaos, das zunächst allem Verständnis zu trotzen schien und das dem Intellekt die völlige Niederlage androhte, zieht uns nun an und stellt eine neue Herausforderung dar. Anfangs empfanden wir das Chaos als den Feind der Vernunft, nun dient es als Grundlage einer neuen Rationalität, einer neuen Vernunft.

Die vielen unterschiedlichen Perspektiven, die man beim Lesen des Buches von der Krankheit und dem Umgang damit kennenlernt, sind zum großen Teil der Vielseitigkeit und dem ganzheitlichen medizinischen Ansatz von Oliver Sacks zu verdanken. Trotz des hohen Informationsgehalts bleibt das Buch auch für einen Nichtmediziner verständlich. Beim Lesen lernt man nicht nur die Krankheit kennen, sondern auch die Patienten und vor allem den Autor und Forscher, der die Krankheit untersuchte und die Patienten auf ihrer Lebensreise begleitete.

Buzzfeed: ein berührender Artikel von Bill Hayes, Lebensgefährte von Oliver Sacks, über ihre Beziehung und das Leben an sich

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Roman

Thomas Glavinic – Das größere Wunder

„Ich glaube, man ist schon jemand“, sagte Jonas. „Jeder ist jemand, und besser als das kann er nicht werden. Er kann nichts anderes werden, und wenn er es doch wird, ist er nicht glücklich.“

Thomas Glavinic lässt seinen Helden Jonas (den wir bereits aus früheren Romanen kennen) den Mount Everest besteigen. Die Romane haben nur bedingte Verbindungen miteinander. Das mag zuerst verwirren, macht aber möglich, dass man die Romane in keiner bestimmten Reihenfolge lesen muss. Ja, man muss sie gar nicht alle lesen. Wer nur eines lesen möchte, sollte dieses nehmen. Und braucht hier nicht weiterzulesen, sondern lieber gleich zum Buch greifen.

Das ist kein heroischer Berg, so wie es keine heroische Art zu sterben ist, da oben für alle Zeit festzufrieren. Hier werden keine Heldensagen geschrieben, jedenfalls nicht von euch.

Auf zwei Erzählebenen verfolgen wir Jonas Weg auf den Mount Everest. Wir erleben Jonas im Basislager des Berges, wo sich sein Körper nur schwer an die Wetterverhältnisse anpasst. Die Höhe macht ihm zu schaffen. Gleichzeitig erleben wir den jungen Jonas, der von seiner alkoholkranken Mutter verlassen wird. Der sich für seinen von Geburt an behinderten Bruder Mike verantwortlich fühlt. Der sich durchs Leben schlägt und Stück für Stück etwas übers Leben lernt.

Manche Dinge findet man nicht, wenn man sie sucht, so schlau und kühn man es auch anstellen mag, denn manche Dinge kommen zu einem, wenn man gar nicht danach verlangt.

Sehr subtil gibt der Autor Jonas Stück für Stück die Möglichkeiten, das Leben zu begreifen. Oder Teile davon. In Das größere Wunder sind die Erkenntnisse wesentlich präsenter und wesentlich existentialistischer. In Die Arbeit der Nacht dauerte es lange, bis der allein gelassene Jonas erkennt, dass ihn das Alleinsein Stück für Stück in den Wahnsinn treibt. Der Leser kann das nicht begreifen, denn niemand hat je so eine große Einsamkeit erlebt. Hier sehen wir Jonas auf einen gefährlichen Berg klettern und verstehen schnell, dass er auf der Suche ist. Sein ganzes Leben war er auf der Suche. Er schwankt zwischen der Sehnsucht nach dem Un-Sinn, dieser Wunsch nach Heimkehr in die Zwecklosigkeit und seinem Wunsch, das Chaos zu beherrschen. Glavinic lässt Jonas nach einem Sinn für sein Leben suchen. Gleich mehrmals betont er, dass ein Leben nur dann Wert hat, wenn man es einem höheren Sinn widmet.

Es waren diese Tage, in denen er vieles begriff. Er würde nie ein erfülltes Leben führen können, wenn er nicht versuchte, es einer Sache zu widmen, die größer war als er.

Ein Leben ist nur dann geschützt, wenn es einer Sache gewidmet ist, die größer ist als der Mensch, der es lebt und der Sache dient.

Der Autor scheut nicht davor zurück, auch ganz banale Motive zu verwenden. Und doch passen sie irgendwie in die Dunkelheit und die Kälte, in denen Jonas schließlich alleine auf dem Berg herumirrt. Man fragt sich, wie das passieren konnte. Wie konnten die Bergführer Jonas gehen lassen, obwohl sie mit seinem sicheren Tod rechnen mussten, wenn er sich zu spät zum Gipfel aufmacht, um noch bei Tageslicht zurückkehren zu können?

Es war bereits hell, was ihn überraschte. Als er auf die Uhr schaute, stellte er fest, dass sie stehengebeblieben war.

Das Ende überrascht. Doch je länger ich darüber nachdenke, umso mehr wird mir klar, dass Thomas Glavinic Recht hat. Nicht anders hätte er demonstrieren können, dass es um diesen Berg nicht geht. Der Berg ist ein Symbol für die größere Sache, für das Wichtigere im Leben, für das größere Wunder. Würde man das Buch nochmal lesen (könnte ich mir durchaus vorstellen), würde man bestimmt noch viele andere Lesemöglichkeiten finden, die die Metapher bereits vorbereiten. Dieses Buch ist voll mit Erkenntnissen und kleinen Andeutungen über Lebensweisheiten, ohne sie plakativ auszuwalzen. Eine absolute Empfehlung.

Jeder Mensch beurteilt sich selbst nach seiner größten Leistung, und zwar so, als hätte es die Tiefen davor und danach nie gegeben, weißt du das? Ich spreche da auch und gerade von moralischen Leistungen. Wir guten Menschen, wir.