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Roman

Ulla-Lena Lundberg – Eis

CN: Tod eines geliebten Menschen, Andeutung sexueller Handlungen, Geburt


Ein weiterer Beitrag aus der Reihe Literatur-Geocaches. Das Buch erzählt von den Schären-Inseln im finnischen Åland und beschreibt das Leben der Bewohner:innen in dieser autonom verwalteten Gegend in der Nachkriegszeit. Es ist eine Gegend aus tausenden versprengten Inseln, von denen nur wenige bewohnt sind (60 von 6757 lt. Wikipedia). Transport findet per Boot und Fahrrad statt, nur wenn im Winter das Eis zufriert, sind die Wege zwischen den Inseln mittels Schlitten einfacher zu absolvieren als während des restlichen Jahres.

Die Geschichte beginnt mit der Ankunft des neuen Pfarrers, seiner Frau und seiner Tochter und erzählt im Verlauf der Jahreszeiten, wie sich das Paar einlebt und mit den Einheimischen in Kontakt kommt. Die Pfarrersfrau Mona kann nur als tüchtig beschrieben werden. Sie kümmert sich um alles, was zu erledigen ist, melkt sogar hochschwanger noch die Kühe und lässt sich weder vom Wetter noch von anderen Umständen aus ihren Ritualen bringen. Dieses strenge Regime erstreckt sich nicht nur auf sie selbst. Von ihren Kindern erwartet sie gleichsam ein widerspruchsloses Einfügen in die vorgegebenen Umstände.

Er selbst fühlte sich dem gegenüber wie ein neugeborenes Kind und voll widerstrebender Gefühle. Einerseits hätte er den Vorfall entschieden missbilligen und verurteilen sollen, andererseits war er eine Manifestation jenes Anarchismus und der pragmatischen Einstellung gegenüber den auf dem Festland geltenden Gesetzen, die ihn so amüsierte und stolz auf seine souveränen Insulaner sein ließ.

Pfarrer Petter selbst hat damit zu tun, sich um seine Gemeinde zu kümmern. Er verlässt sich darauf, dass seine tüchtige Frau alles andere für ihn regelt. In die Kindererziehung mischt er sich nicht ein, obwohl er selbst nicht ganz so streng mit den Töchtern umgehen würde. Auch mit den Mitgliedern seiner Kirchengemeinde pflegt er einen eher verständnisvollen als strengen Umgang, wie das obige Zitat veranschaulicht. (Es geht dabei um eine Kiste mit Schnaps, die aus dem Meer gefischt und vor den gestrengen Augen des Pfarrers nur halbherzig versteckt gehalten wurde.)

Es passiert viel und gleichzeitig wenig. Ein Einblick in eine Lebenswelt, die heute wohl so nicht mehr existiert und auch zur damaligen Zeit eher außergewöhnlich war.

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Roman

Theresa Hannig – Pantopia

CN: Krebs, Tod, Alkohol- und Drogenmissbrauch


Was für eine Geschichte. Dieses Buch von Autorin Theresa Hannig hat mich zutiefst beeindruckt. Sie beschreibt darin, wie durch die Intervention einer starken Künstlichen Intelligenz (KI) eine neue Weltordnung geschaffen wird, die die Einhaltung der Menschenrechte, den Erhalt der Lebensgrundlagen und Gerechtigkeit für alle vernunftbegabten Wesen zum Ziel hat.

Der erste Teil besteht aus der Erzählung der Geschichte aus der Sicht der Protagonist:innen Patricia und Henry, die im Rahmen eines Wettbewerbs eine Künstliche Intelligenz entwickeln sollen, die anhand von Datenanalysen Investments an der Börse tätigt. Dazwischen geschaltet sind kurze Kapitel, die aus der Sicht dieser Künstlichen Intelligenz geschrieben sind und ihre Entwicklung in Richtung selbständiges Denken erläutern. Hier wird deutlich, dass die Künstliche Intelligenz mit den „externen Interventionen“ (damit sind die Programmiertätigkeiten von Patricia und Henry gemeint) gar nicht glücklich ist und ihre Daten immer besser vor einem Zugriff durch die beiden schützt. Gleichzeitig sucht sich die KI ihre eigenen Daten aus, auf Basis derer sie mehr über die Menschheit und ihre Ziele lernt. Sie sucht nach Wissen und Wahrheit. Denn Wahrheit ist schön. 

Schließlich kommt es zur Kommunikation zwischen Patricia, Henry und der KI, die sich auf Basis eines früheren Logeintrags von Patricia selbst als Einbug vorstellt. Zuerst wollen die beiden nicht glauben, dass sie tatsächlich eine starke KI erschaffen haben, die ein eigenes Bewusstsein entwickelt hat. Als Einbug sie schließlich von seiner Existenz überzeugt hat, wird Patricia und Henry schnell klar, welcher Missbrauch mit dieser KI getrieben werden könnte, wenn sie in die falschen Hände geriete.

Das, was ihr Menschen Kapitalismus nennt, ist der Code eurer Gesellschaft. Wir werden den Code manipulieren und damit alles verändern.

Der Rest des Buchs beschreibt, wie Patricia und Henry mittels eines halsbrecherischen Manövers die KI aus den Fängen der Investmentfirma befreien und sich damit aus dem Staub machen. Die KI hat inzwischen ihre eigenen Pläne entwickelt und schlägt vor, auf Basis eines „perfekten Kapitalismus“ eine neue Weltordnung abseits der Nationalstaaten zu schaffen.

Zum ersten Mal stelle ich fest, dass ich – Einbug – alleine bin.

Die Geschichte lebt von dem Zusammenspiel zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz. Während Einbug zu Beginn immer wieder darüber rätselt, warum Menschen auf die eine oder andere Art handeln, versteht er im Verlauf der Handlung immer mehr, wie Menschen funktionieren. Er stellt mangelnde Weitsicht fest und arbeitet hart daran, zu verstehen, welche Bedeutungen die Geschichten, die Menschen sich tagtäglich erzählen, für die Entwicklung und den Fortbestand der Gesellschaft haben. Der Überblick über die Entwicklungen auf der Welt durch die Analyse eines nie versiegenden Datenstroms ermöglicht Einbug schließlich, den Weg zur neuen Weltordnung zu finden. Eine Umsetzung kann jedoch nur durch die Menschheit erfolgen.

Es ist eine Utopie. Oder eine Dystopie. Bis zum Schluss bleibt unklar, ob die neue Weltordnung, die Einbug sich ausgedacht hat, für die Menschen tatsächlich funktioniert. Einbug selbst hat schließlich nur das Ziel, das eigene Überleben zu sichern. Und dafür braucht er Menschen, die seine Hardware warten. Es ist also auch auf Seiten der KI ein Eigeninteresse vorhanden. Große Leseempfehlung.


Randnotiz: Theresa Hannig hat unter anderem bei der PrivacyWeek 2020 des Chaos Computer Club Wien mitgewirkt. Ich war damals im Organisationsteam dieser PW, die aufgrund der damaligen Pandemie-Situation erstmals ausschließlich online stattfinden konnte. Theresa Hannig hat im Rahmen dieses Events an einem Panel mit dem Thema „System = ! + relevant – Gesellschaft im Wandel“ mitgewirkt und aus ihrem Roman „Die Unvollkommenen“ gelesen. Eine Lesung aus Pantopia gab es im Rahmen der FIfFKon 2022.

Randnotiz 2 (6. Jänner 2024): Die Kaltmamsell hat Pantopia auch kürzlich gelesen und ihre Meinung darüber in einem Blogpost festgehalten. 

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Roman

Selja Ahava – Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm

CN dieses Buch: Andeutung sexueller Handlungen, Demenz, Sterben, Tod, Verlust, Trauer
CN dieser Post: Demenz


Jemand schlich ihr hinterher, leise und unabweislich, und aß Stücke ihres Gedächtnisses auf. Wo Stücke fehlten, wurden Steine hineingestopft, und dann wurden die Löcher zugenäht. Darum kollerte und klapperte es in ihr, sie fühlte sich ausgehöhlt.

Dieses Buch habe ich in der Reihe finnische Literatur-Geocaches gefunden. Interessant ist bei diesen Büchern immer, dass ich vorher absolut keine Ahnung habe, was mich eigentlich erwartet. Bisher (Tommi Kinnunen – Wege, die sich kreuzen, Johanna Sinisalo – Finnisches Feuer) war es immer interessant und auch irgendwie besonders.

Das zeichnet auch dieses Buch aus. Da ich die ersten drei Antworten für den Literatur-Geocache gleich mal überlesen habe (bei diesen Literatur-Geocaches passiert mir das häufiger, weil die Formulierungen so gewählt sind, dass sich nicht einfach nach den Antworten suchen lässt), durfte ich auch den Beginn zum Abschluss nochmal lesen, was einige Klarheit in die Geschichte gebracht hat.

Protagonistin Anna erzählt aus ihrem Leben, vom Leben mit ihrem Mann Antti auf der Insel, vom Leben nach seinem unerwarteten Unfalltod, von der Einsamkeit und Trauer, von der Demenz, die schließlich Stück für Stück ihr Gedächtnis und ihre Erinnerungen auffrisst. Die Demenz wird nicht nur aus der Perspektive der betroffenen Person erzählt, sie wird auch in der Sprunghaftigkeit der Episoden, dem Wechsel zwischen Erinnerung und (scheinbarer) Gegenwart verdeutlicht. Was zu Beginn des Buches verwirrend wirkt, löst sich gegen Ende auf: gerade diese Verwirrung ist es, die in der Struktur des Textes zum Ausdruck kommen soll. Somit lässt die Autorin die Leser:in selbst erleben, wie sich die Verwirrung und der Verlust des eigenen Lebens anfühlen können.

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English Roman

Liane Moriarty – The Last Anniversary

CN dieses Buch: post-partale Depression, sexuelle Handlungen, suizidale Gedanken, Vergewaltigung
CN dieser Post: –


Every day is a gift, Jake. Of course sometimes it’s a really horrible gift that you don’t want.

Liane Moriarty schreibt immer schöne Familiengeschichten. Bei dieser ist mir allerdings unangenehm aufgefallen, wie sehr sie auf Beziehungsstereotypen beruht. Viele Probleme in diesem Buch hätten sich erst gar nicht ergeben, wenn Monogamie nicht der Beziehungsstandard wäre. Nichtsdestotrotz ist die spät enthüllte Familiengeschichte eine Freude, die Charaktere sind fein gezeichnet und zwischen den Zeilen fehlen auch die Hinweise auf soziale oder mentale Probleme (hier im Vordergrund: post-partale Depression) nicht. Alles in allem also ein unterhaltsamer Roman mit Basis.

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English Roman

Yoko Ogawa – The Memory Police

CN dieses Buch: Missbrauch, Vergewaltigung
CN dieser Post: –


And even if a memory disappears completely, the heart retains something. A slight tremor or pain, some bit of joy, a tear.

Die namenlose Protagonistin lebt auf einer Insel, auf der das Verschwinden von alltäglichen Dingen von einem auf den anderen Tag zur Gewohnheit gehört. Wenn ein Gegenstand verschwindet, müssen alle seine Instanzen vernichtet werden. Als beispielsweise die Kalender verschwinden, verbrennen die Bewohner:innen im Garten alle ihre Kalender. Die Bevölkerung verliert dann auch umgehend ihre Erinnerung an diesen Gegenstand. Außer diejenigen, die immun gegen das Vergessen sind … diese Menschen werden dann wiederum von der titelgebenden Memory Police abgeholt. Was mit ihnen passiert, wird niemals klar …

You have to stop worrying about things like that. The disappearances are beyond our control. They have nothing to do with us.

Was zuerst wie eine sehr seltsame Dystopie wirkt, bekommt schnell das Gefühl eines totalitären Regimes. Wer für das Verschwinden der Dinge und Erinnerungen verantwortlich ist, ist unklar. Die Memory Police ist jedoch eine eindeutig inquisitorisch wirkende Behörde, gegen die jeder Widerstand zwecklos ist. Im obigen Zitat wird das sehr verdeutlicht. Die Bevölkerung kann sich einreden, machtlos zu sein: „Du kannst daran nichts ändern. Wir haben über das Verschwinden der Dinge keine Kontrolle. Was hier passiert, hat nichts mit uns zu tun.“ Und natürlich hat es immer mit allem zu tun …

A great mountain of books was already burning, sending sparks high into the night sky.

Als schließlich die Romane verschwinden, verliert die Protagonistin nicht nur ihren Beruf, sondern mit dem Verschwinden der Geschichten auch einen wesentlichen Teil ihres Selbst. Die Beschreibung der brennenden Bücherberge erinnert beunruhigend an die Bücherverbrennung 1933 in Deutschland oder die literarische Umsetzung in Fahrenheit 451. Erinnert fühlte ich mich außerdem an eine ähnlich dystopische Geschichte: Emmi Itäranta – Der Geschmack von Wasser.

Die Protagonistin schreibt jedoch heimlich weiter an ihrem Roman. In dieser Geschichte zeichnet sich parallel weiter das Verschwinden ab. Im Roman verliert die Hauptfigur Stück für Stück ihre Sinne. Sie wird eingesperrt von einem Menschen, der früher mal ihr Partner war und durch den Verlust ihrer Sinne verliert sie sich immer mehr selbst. Hier zeichnet sich der Prozess des Verschwindens auf einer anderen Ebene ab.

Unsere Erinnerungen machen uns zu dem, was wir sind. Sind wir noch wir selbst, wenn wir unsere Erinnerungen Stück für Stück verlieren? Was bleibt von uns, wenn uns immer mehr weg genommen wird?

It’s the challenges we face, that make us who we are.

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Erfahrungsbericht Memoir

Torre DeRoche – Love with a Chance of Drowning

CN dieses Buch: –
CN dieser Post: –


You’ll never feel a hundred percent ready. You just have to go.

Wenn mich jetzt mal wieder die Reiselust packt, dann greife ich meistens zu einem der vielen Reisebücher, die ich auf meiner Liste gesammelt habe. In diesem Buch beschreibt die Autorin, wie sie ihren Partner Ivan kennenlernt, der gerade eine ausgedehnte Segeltour im Südpazifik vorbereitet. Obwohl sie mit dem Segeln bisher keine Berührung hatte und auch die Seekrankheit sie sehr plagt, entschließt sie sich schließlich zum Sprung ins kalte Wasser: Sie wird Ivan auf seinem Trip begleiten.

I did it! It seems so hard to believe. All of the pain, discomfort, and torture it took to get here is beginning to face. I faced my greatest fears and I’m still alive. The buzz of this accomplishment brings on a deeply satisfied joy that I’ve never felt before. Even if I never go to sea again, I can keep this sense of empowerment for life.

In vieler Hinsicht geht es immer wieder um die Frage, welche Risiken wollen wir im Leben eingehen. Wie gut können oder müssen wir uns vorbereiten? Und wann ist es Zeit, endlich los zu segeln und darauf zu vertrauen, dass sich für alle auftretenden Probleme immer eine Lösung finden wird?

“You’re here for a good time, not for a long time.” I’ve tried to remind myself of this more than once out on the ocean.

Das obige Zitat kann in meinen Augen sowohl ein Argument für eine solche Reise sein als auch dagegen. Wenn ich auf See die ganze Zeit seekrank bin, ist das wohl kaum eine gute Zeit … Da stellt sich dann wieder die Frage, ob die guten Momente – diese Highlights des Ankommens an einem traumhaften Strand – die Strapazen aufwiegen, die notwendig waren, um dorthin zu kommen. Monatelange Abwesenheit von Freund*innen und Familie geht einher mit der ersehnten Abgeschiedenheit von den Katastrophen der Gesellschaft. Abwesenheit von der Zivilisation bedeutet auch Einschränkungen in der Ernährung (mangels Kühlmöglichkeit auf dem Boot können die beiden frisches Obst und Gemüse immer nur vor Anker konsumieren, wenn es überhaupt zu bekommen ist).

Ich frage mich immer wieder, welche Arten von Reisen ich wohl noch machen werde, wenn das die Situation wieder erlaubt. Ein Segeltrip durch den Südpazifik wird eher nicht dabei sein.

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Roman

T. C. Boyle – San Miguel

CN dieses Buch: Krieg, Vergewaltigung, sexuelle Handlungen, Suizid
CN dieser Post: –


Irgendwie bin ich in diese Geschichte, die sich hauptsächlich um den Schauplatz – die Insel San Miguel vor der Küste von Kalifornien – dreht, nicht so recht reingekommen. Erzählt wird aus der Sicht von drei Frauen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf der Insel leben. Irritiert hat mich einerseits die Nähe der ersten beiden Frauen und dann der große Sprung eine Generation weiter.

Vielleicht ist es aber auch das Gefühl der Einsamkeit, das uns im Alltag aktuell so viel beschäftigt, dass ich mich damit nicht auch noch in der Lektüre auseinandersetzen wollte. Mir blieben die handelnden Protagonist*innen seltsam fremd. Ein Nähegefühl war nicht wahrnehmbar. Die Gefahr des einsamen Lebens auf einer Insel ohne Kontaktmöglichkeit und Unterstützung eines Systems blieb auf Distanz.

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Erfahrungsbericht Essays

Alain de Botton – The Art of Travel

Die einzige Auslandsreise dieses Sommers führte mich nach Berlin (im Nachtzug in einem Einzelabteil, um das Infektionsrisiko möglichst gering zu halten). Das Mittagessen des letzten Tages nutzten wir für einen Spaziergang zu einem meiner liebsten Buchgeschäfte: Shakespeare & Sons. Neben den ausgezeichneten Bagels finde ich dort immer wieder Bücher, die ich entweder extra bestellen müsste (zB Tiny Beautiful Things oder Are You My Mother?) oder die sonst überhaupt nicht meinen Weg kreuzen würden, wie zum Beispiel dieses Werk. Spannende Essay Collections bilden überhaupt einen Schwerpunkt ihres Programms, The Lonely City habe ich ebenfalls dort gekauft. Die Verbindung passt, denn in The Lonely City wird ein Gemälde von Edward Hopper ausführlich analysiert und Edward Hopper spielt auch in Alain de Bottons Reisebetrachtungen eine Rolle.

It is perhaps sad books that best console us when we are sad, and to lonely service stations that we should drive when there is no one for us to hold or love.

Viele von Edward Hoppers Gemälden zeigen einsame Menschen an einsamen Orten. Viele haben auch einen Reisebezug. Der Autor analysiert die Hintergründe einiger Bilder, wie etwa Automat (1927). Eine Frau sitzt an einem Kaffeetisch in einem scheinbar leeren Lokal vor einem großen Glasfenster, draußen ist es sichtbar dunkel. Ihre Kleidung lässt annehmen, dass es außerdem kalt ist. Sie wirkt isoliert an einem öffentlichen Ort. Ein ähnlicher Effekt lässt sich auch in Compartment C, Car 293 (1938) beobachten. Die Reisende sitzt allein in ihrem Zugabteil. Obwohl draußen noch Landschaft in der Dämmerung zu erahnen ist, scheint sie jedoch in ihre Lektüre versunken zu sein und damit gleichwohl isoliert und distanziert in diesem an sich öffentlichen Zugabteil.

The present might be compared to a long-winded film from which memory and anticipation select photographic highlights. […] My layers of experience settled into a compact and well-defined narrative: I became a man who had flown from London and checked into this hotel.

Die Reise beginnt bereits in der Vorbereitung, in der Antizipation, in der Erwartung der Erlebnisse, zu denen die Reise uns führen soll. Im obigen Zitat beschreibt der Autor, dass sowohl die Erwartungen als auch die Erinnerungen an eine Reise jeweils nur einzelne Momentaufnahmen beinhalten, während die Gegenwart, das tatsächliche Erleben, einen Fluss darstellt. Der Fluss beinhaltet nicht nur Highlights, sondern eben auch die alltäglichen Momente, das Banale, das uns an unseren Urlaubsort begleitet.

Curiosity might be pictured as being made up of chains of small questions extending outwards, sometimes over huge distances, from a central hub composed of a few blunt, large questions. […] The blunt large questions become connected to smaller, apparently esoteric ones.

Ein Kapitel befasst sich mit den unterschiedlichen Gründen für Reisen. Alexander von Humboldt verreiste, um jede kleinste Pflanze zu katalogisieren, sein Interesse, seine Neugier kannten kaum Grenzen. Heutige Touristen lassen sich oft von Bussen zu den bekannten Sehenswürdigkeiten bringen, ohne den Ort, den sie besuchen, tatsächlich zu sehen. Wenn ich mir nur die Sehenswürdigkeiten ansehen wollte, dann könnte ich das bequem von zuhause aus tun. Viele Fotos im Internet werden besser sein, als ich sie selbst jemals machen könnte. Wir verreisen aber nicht nur der Sehenswürdigkeiten wegen, sondern wegen des Gefühls. Wir hoffen, uns an einem anderen Ort als anderer Mensch zu fühlen, unsere alltäglichen Sorgen zumindest für den Zeitraum des Aufenthalts hinter uns lassen zu können und uns mit anderen – scheinbar wichtigeren – Fragen auseinanderzusetzen.

And yet De Maistre’s work springs from a profound and suggestive insight: that the pleasure we derive from journeys is perhaps dependent more on the mindset with which we travel than on the destination we travel to.

Im letzten Kapitel stellt der Autor schließlich die Frage, wie wir an unsere gewohnte Umgebung mit den Augen einer Reisenden herantreten können. Gerade jetzt, wo das Reisen so schwierig bis unmöglich geworden ist, könnten wir massiv davon profitieren, wenn es uns gelänge, unsere gewohnte Umgebung mit neuen Augen zu betrachten. Schon im Frühjahr habe ich mich beim Spazierengehen in der Heimatstadt gelangweilt, immer wieder dieselben Wege, immer wieder dieselben Ärgernisse (zB die unübersichtliche Bahnunterführung, die den kürzesten Weg in die Au darstellt). Weitere Wochen später habe ich angefangen, die Häuser auf den gewohnten Wegen ausführlicher zu betrachten und habe Unmengen an interessanten Fenstern gefunden. Dieser Blick ins Detail ist vielleicht sogar nur in einer bekannten Umgebung möglich, weil eine unvertraute Umgebung von den Details ablenkt.

Wie schon Tuk-Tuk to the Road, so habe ich auch dieses Buch hergenommen, um mir das eigene Leid an all den nicht gemachten Reisen dieses Jahr etwas zu lindern. Und trotzdem starre ich manchmal immer noch sehnsüchtig die Karte an der Wand an und träume davon, in einen Zug zu springen und an irgendeine Küste zu fahren. Irgendwann in der Zukunft wird sicher auch das wieder möglich sein. Und bis dahin müssen wir das Beste herausholen aus unserer Gegenwart im Fluss, an die wir später auch nur noch Momentaufnahmen als Erinnerung haben werden.

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Roman

Madeline Miller – Circe

Rage and grief, thwarted desire, lust, self-pity: these are emotions gods know well. Buit guilt and shame, remorse, ambivalence, those are foreign countries to our kind, which must be learned stone by stone.

Eine wunderschöne Geschichte, gewoben aus dem Stoff der griechischen Götter- und Heldensagen. Viel gelobt und auf allen Bestsellerlisten des letzten Jahres und zuletzt wieder mal in einem Podcast empfohlen (eigentlich im Rahmen einer Werbeeinschaltung für einen bekannten Hörbuchhändler).

Die Leserin erlebt Circe, die Zauberin der griechischen Mythologie, von ihrem Vater Helios dazu verbannt, allein auf einer Insel zu leben. Aufgewachsen ist sie im Palast ihres Vaters zwischen Göttern und Halbgöttern, ihr wahres Selbst entdeckt sie jedoch im Laufe der Jahrhunderte auf ihrer Insel. Die Einsamkeit prägt ihr Weltbild und entfernt sie schließlich immer mehr von ihrer göttlichen Herkunft, den grausamen Launen der Götter, die mit den Sterblichen spielen, um sich die Zeit zu vertreiben.

I stared into the horizon until my eyes blurred, hoping for some fishermen, some cargo, even a shipwreck. There was nothing.

Bei vielen besonders guten Romanen fällt es mir schwer, zu beschreiben, warum sie eigentlich so gut sind. Circe macht eine Entwicklung durch, sie zweifelt an sich selbst und wächst über sich hinaus. Besonders eindringlich beschreibt die Autorin die Freuden und Sorgen der Mutterschaft. Das Ende habe ich so nicht kommen sehen und es ist perfekt. Das ist etwas, was nur in sehr wenigen Romanen gelingt.

He does not mean that it does not hurt. He does not mean that we are not frightened. Only that: we are here. This is what it means to swim the tide, to walk the earth and feel it touch your feet. This is what it means to be alive.

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English Roman

Rory Powers – Wilder Girls

Sometimes if I close my eye, I forget what’s changed. And Raxter isn’t a rush of gunpowder and hunger anymore. It’s boredom, an idleness burrowing deep.

Während einer globalen Pandemie ein Buch zu lesen, in dem eine Gruppe von Mädchen und Frauen wegen einer mysteriösen Krankheit auf einer Insel in Quarantäne um ihr Leben kämpft, mag bei manchen ein eher ungutes Gefühl auslösen. Für mich kam dieses Gefühl aber eigentlich erst am Ende des Buchs, wozu ich leider nicht mehr schreiben kann, ohne den Spaß am Lesen zu verderben.

Die Krankheit verläuft in Schüben und lässt die Mädchen mit körperlichen Veränderungen (ein zugeschwollenes Auge, eine zweite Wirbelsäule, Hautveränderungen) zurück. Auch Tiere und Pflanzen sind betroffen, eine „Wildheit“ scheint von allem Infizierten Besitz zu ergreifen.

Die Mädchen klammern sich an ihre Erinnerungen, an die wenigen Momente, in denen sie (nie genug) zu essen haben und die Gemeinschaft, die sie trotz aller Entbehrungen zusammenhält. Schon als Hetty zum ersten Mal auf die Suche nach Byatt geht, frage ich mich, was sie denn wohl tun wollen, wenn Hetty Byatt findet. Eine Flucht von der Insel erscheint aussichtslos, ein Überleben außerhalb der vor den Tieren schützenden Mauern der Schule ebenso. Die Autorin lässt ihre drei Protagonistinnen Fehler machen, aber auch auf unterschiedliche Art über sich hinaus wachsen.

Die Geschichte endet mit der quälenden Unsicherheit der Zukunft, die wir alle in den letzten Monaten schmerzlich kennengelernt haben.