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Roman

Ilija Trojanow – Eistau

Sie wünscht sich, dass wir einfach nur sind, ich suche nach einer Befreiung in einem wahrhaftigeren Schweigen.

Der Protagonist Zeno verzweifelt am Sterben eines Gletschers. In Rückblenden wird parallel zum Geschehen der Jetzt-Zeit auf einem Antarktis-Kreuzfahrtschiff der Verfall seiner Beziehungen geschildert. Zwischen den aus Zenos Sicht erzählten Kapiteln finden sich kurze Sammlungen von Funksprüchen (?), vage aneinandergereihte Satzfragmente, die ein Geschehen andeuten, das sich zeitlich erst nach der aktuellen Kreuzfahrt abspielt.

Zenos verzweifelte Konfrontation mit einem chilenischen Soldaten, der sich inmitten einer Pinguingruppe eine Zigarette anzündet, seine Abneigung gegenüber den Touristen, seine Sehnsucht nach einem tieferen Alleinsein; all diese einzelnen Situationen sind Haarrisse, die schließlich zu einem Zusammenbruch führen müssen. Unvermeidlich wie das Sterben des Gletschers.

Der Augenblick, in dem Kunst zu Wahrheit wird. Die Vorstellung läßt mich nicht los. Auch das leichtfertig Dahingesagte kann ernst genommen werden. Es beginnt als Haarriss, setzt sich als Sprung fest, endet als zersplittertes Glas.

Das (vorläufige) Ende der Isolation

Die Ausgangsbeschränkungen sind (vorerst) aufgehoben, Treffen in kleinerem Kreis wieder erlaubt.

Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit dem bewussteren Wahrnehmen von Gefühlen und Stimmungen. Wenn ich mich gestresst oder genervt fühle, versuche ich, zu ergründen, was genau dieses Gefühl gerade bedeutet, es zu benennen und es anzunehmen. Dabei wurde mir heute klar, dass wir Gefühle und die Situationen, in denen sie entstehen, in der Reflexion mit etwas Abstand meistens anders interpretieren, als sie sich zu dem Zeitpunkt angefühlt haben (das klingt wie eine Binsenweisheit, ist aber in meinen Augen ein Phänomen, das im Alltag nicht so bewusst ist).

Jetzt, wo die Isolation etwas gelockert ist, wird mir klar, dass ich es eigentlich ganz angenehm gefunden habe, mal eine Zeitlang nirgendwo sein zu müssen und Zeit zur Verfügung zu haben, die ich nach meinen eigenen Regeln gestalten kann. Es ist bei Weitem nicht so, dass ich diese Zeit oder die damit verbundene Gestaltungsfreiheit besonders sinnvoll genutzt hätte. Wie ich am 12. April schrieb, ist es mir kaum gelungen, mit der Zeit etwas Sinnvolles anzufangen.

Möglichst schnelle Rückkehr zur Normalität ist nicht zwingend der richtige Weg. Es wäre wünschenswert, wenn wir aus dieser Erfahrung etwas lernen und für die Zukunft mitnehmen könnten. Was das konkret sein könnte, hat sich mir bisher leider nicht enthüllt.

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Roman

Ashley Shelby – South Pole Station

Who needed a mirror when the only thing reflected was loss after loss?

Die Protagonistin Cooper kämpft mit dem Selbstmord ihres Bruders und ihrem Leben allgemein. Sie bewirbt sich für ein Kunststipendium für einen Aufenthalt auf der Wissenschaftsstation am Südpol. Dort findet sie ein interessantes Soziotop aus Ingenieuren, Wissenschaftlern und anderen Künstlern vor. Es entspinnt sich eine Entwicklung auf unterschiedlichen Ebenen, in Rückblenden werden auch die Geschichten erzählt, die andere Bewohner auf die Forschungsstation gebracht haben. Darin enthüllen sich die verschiedenen Motive, die Menschen haben können, um sich für ein Leben in einer derart unwirtlichen Umgebung zu entscheiden.

Der Roman ist deshalb so spannend, weil es der Autorin gelungen ist, nicht nur auf die emotionalen Entwicklungen zu fokussieren, sondern auch zu erklären, warum viele gesellschaftliche Prozesse so funktionieren, wie sie es tun. Ein Klimawandel-Skeptiker kommt ebenfalls auf die Forschungsstation und wird von allen „ernsthaften“ Wissenschaftlern gemobbt. In seiner Vorgeschichte werden dann auch die politischen Hintergründe aufgedeckt, die ihn zu dem gemacht haben, was er geworden ist: ein Wissenschaftler, der sich kaufen lässt, weil ihm keine andere Wahl mehr geblieben ist.

Die Autorin erklärt auch viele Bezüge, die nicht auf der Hand liegen, ohne dabei überheblich zu wirken. Ein Wissenschaftler beschreibt Kunst als einfach: man müsse nur ein Subjekt präsentieren und dann ein Statement dazu machen. Viele selbst ernannte Künstler handhaben das vermutlich tatsächlich so und die Frage bleibt offen, woran sich dann „echte“ Kunst überhaupt noch erkennen lässt. Sie untersucht aber auch die Motive eines weiteren Forschers, der sich auf eine Theorie konzentriert, die von seinen Kollegen angezweifelt wird, jedoch auf wissenschaftliche Art und nicht auf der persönlichen Ebene, auf der dem Klimawandelskeptiker begegnet wird. Hier lässt sich auch der Unterschied zwischen Glauben und Wissen analysieren. So lange eine wissenschaftliche Theorie unbewiesen ist (also entweder bewiesen oder widerlegt), stellt sie kein Wissen dar. Kann sie deshalb wie eine religiöse Glaubensfrage behandelt werden?

„I don’t believe it“, he said. „That’s not how science works. But I find it compelling enough to devote my life to it.

Nachtrag: Eine aktuelle Podcast-Folge zum Thema Klimawandel hat Tim Pritlove beim Forschergeist veröffentlicht.

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Roman

Ilija Trojanow – Eistau

Unvermutet flammt die Sonne hinter einem diesigen Vorhang auf, ein Parameter der Endlichkeit. Das Leuchten hält einige Wellenschläge an, bevor es wieder verschwindet und der Sturm im Zwielicht weitertobt.

Der gealterte Gletscherforscher Zeno muss mit ansehen, wie das Eis von der Erde verschwindet. Er brütet über den Verfehlungen der Menschen und erkennt in den schwindenden Gletschern seine eigene Sterblichkeit.

Das bist du, Zeno, mit Fallgeschwindigkeit stürzt du ins Nichts, auf der Kreidezeichnung des nächsten Augenblicks bist du schon nicht mehr zu sehen.

Ein Notruf als Kunstprojekt, eine Frau, die von einem Pinguin gebissen wird und dadurch eine schlimme Infektion erleidet … alles erscheint Zeno als Beweis für die Dummheit und Ignoranz seiner Mitmenschen. Ich bin es müde, Mensch zu sein. Nach einem peinlichen Zusammenstoß mit einem Soldaten kann er die Gesellschaft seiner Mitreisenden nicht mehr ertragen.

Mich hatte das Eis-Thema an ein Buch erinnert, das ich vor Jahren gelesen habe (dank dem Blog kann ich nun nachvollziehen, dass es bereits 2007 war): Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Doch fühlte ich mich damals trotz der anderen Zeitebene deutlich mehr verbunden mit den Protagonisten. Trojanows unaufgeregte Sprache nimmt den emotionalen Dramen des Wissenschaftlers Zeno die Intensität, ich fühlte mich stets unbetroffen von seinen Aufregungen, obwohl ich selbst nicht verstehen kann, wie achtlos viele Menschen mit der Umwelt umgehen. Tatsächlich erscheint Zeno, der im Sinne der Umwelt kompromisslos handelt, als verrückter Professor, der gegen Windmühlen kämpft und dabei schließlich den Verstand verliert.

Endlich allein. Auf ruhiger See und nicht auf einer Woge der Geschichte, allein auf einem Kreuzfahrtschiff, das sich mit einem Joystick lenken lässt, als sei die Fahrt durch die Eisinseln längst nur noch ein Computerspiel.