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Sachbuch

Dava Sobel, William J. H. Andrewes – Längengrad

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Die Feststellung der Geokoordinaten, an denen wir uns gerade befinden, ist heutzutage in unseren Smartphones verbaut. Wir verwenden sie selbstverständlich bei jeder Adressanfrage an unser Telefon und bei jeder Planung einer Fortbewegung. Unser Smartphone kennt anhand von GPS-Koordinaten (und WLAN-Identifier) die Orte, an denen wir uns häufig aufhalten und kann uns an Aufgaben erinnern, die nur an einem bestimmten Ort ausgeführt werden können (Georeminder).

Die Geokoordinaten und ihre Bestimmung haben eine wechselhafte Geschichte hinter sich. In diesem reichlich illustrierten Band erzählen die Autor:innen die Entwicklung der Seenavigation, die von Astronomen und Uhrmachern (ja, allesamt männlich) gleichermaßen geprägt wurde.

  • Galileo Galilei (1564–1642) entdeckte 1610 drei Jupitermonde, die er später zur Bestimmung des Längenunterschieds zwischen zwei Orten zu benutzen versuchte. Diese Methode der Monddistanzen wurde von vielen Wissenschaftlern verfeinert und sollte noch einige Jahrhunderte die Navigation entscheidend prägen.
  • Gemma Frisius (1508–1555) erdachte 1530 als Erster, dass eine ausreichend genaue mechanische Uhr zur Längengradbestimmung genutzt werden konnte. Bis zur Entwicklung dieser „ausreichend genauen Uhren“ vergingen jedoch noch Jahrhunderte.
  • Der zentrale Charakter der Geschichte der Lösung des Längengradproblems ist jedoch der Uhrmacher John Harrison (1693–1776). Harrison baute Zeit seines Lebens vier Schiffsuhren (H-1 bis H-4 genannt), die auf See die Zeit wesentlich genauer anzeigten als alle bisher bekannten Zeitmesser. Diese Genauigkeit erreichte er zum Beispiel durch die Erfindung des Rostpendels, das verhinderte, dass Temperaturschwankungen die Länge des Pendelstabs einer Pendeluhr verändern (und damit die Messung der Uhrzeit beeinflussen). Er verwendete für sein Rostpendel Stahl- und Messingstäbe, die unterschiedlich auf sich verändernde Temperaturen reagieren und damit die Veränderung der Länge des Pendels ausgleichen können. Das Rostpendel ist übrigens nach dem Grillrost benannt, dem es mit seinen parallel angeordneten Stäben ähnelt. John Harrison widmete sein Leben der Lösung des Längengradproblems und wurde dabei bis ins hohe Alter von den Mitgliedern der Längenkomission schikaniert. Den 1714 ausgelobten Preis für die Lösung bekam er nie zugesprochen.
  • John Hadley (1682–1744) leistete einen wesentlichen Beitrag zur Messung der Monddistanz sowie der Messung der Höhe der Sonne, des Mondes oder eines Sterns über dem Horizont auf See. Der von ihm erfundene Spiegelquadrant erleichterte wesentlich die Bestimmung von Distanzen auf See. Der Hadley’sche Quadrant bildete den Vorläufer des Sextanten, wie er heute noch zur Seenavigation verwendet werden kann.

Aus dem Quadranten entwickelte sich rasch ein noch genaueres Gerät, der Sextant, der mit einem Teleskop und einer größeren Meßskala ausgestattet war. Diese Verbesserungen erlaubten es, die sich ständig wandelnden Entfernungen zwischen Mond und Sonne beziehungsweise Mond und Sternen nach Einbruch der Dunkelheit exakt zu bestimmen.

Die Erstausgabe dieses Buchs erschien bereits 1998, wie mir im letzten Kapitel auffiel, wo erstmals der Begriff GPS verwendet wird. Dort heißt es noch, dass aus Sicherheitsgründen die Genauigkeit der Positionsbestimmung auf 100 Meter beschränkt würde. Diese künstliche Ungenauigkeit wurde am 2. Mai 2000 (in der Geocaching-Community auch bekannt als Blue Switch Day) abgeschaltet. Dadurch erlebte GPS einen Aufschwung in der Nutzung für Fahrzeugnavigation und in weiterer Folge auch in der Verbreitung GPS-basierter Spiele wie Geocaching.

Hervorheben möchte ich auch noch diese Anekdote:

In der Folge wurde der Ausdruck »den Längengrad finden« zum Synonym für ein aussichtsloses Unterfangen. »Die Länge« war ein so populäres Gesprächsthema und eine so beliebte Pointe von Witzen, daß der Begriff sogar in die zeitgenössische Literatur einging. In Gullivers Reisen beispielsweise soll der gute Kapitän Lemuel Gulliver erzählen, wie er sich das Leben als unsterblicher Struldbrug vorstellt. Er antwortet, er würde mit Vergnügen die Wiederkehr der Kometen beobachten, würde verfolgen, wie aus großen Flüssen seichte Bäche werden, und er würde »die Entdeckung des Längengrades, des Perpetuum mobile, der Universalmedizin und viele andere bedeutende Entdeckungen erleben, die zur größten Vollkommenheit gelangt sind«.

Im Buch wird immer wieder erwähnt, welche Stücke der damaligen Zeit im National Maritime Museum bzw. im Royal Observatory in London zu sehen sind (etwa die von John Harrison konstruierten Uhren H-1 bis H-4). Nach der Lektüre dieses mitreißend aufbereiteten Buchs wäre es natürlich noch mehr Freude, die Artefakte aus dieser Zeit tatsächlich im Museum sehen zu können.

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Roman

Colleen Hoover – It Ends With Us

CN dieses Buch: häusliche Gewalt, Beziehungsgewalt, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Suizid, Tod, versuchte Vergewaltigung
CN dieser Post: häusliche Gewalt, Beziehungsgewalt


Da wollte ich also auch mal wissen, was es mit dem BookTok-Phänomen Colleen Hoover so auf sich hat. Die Autorin schreibt bereits seit 2011, jedoch wurde sie erst richtig populär durch die BookTok-Community auf der Kurzvideo-Plattform TikTok. Dadurch landete ihr bereits 2016 veröffentlichtes Buch It Ends With Us im Jänner 2022 auf der Bestsellerliste der New York Times.

Where are all the people who wonder why the men are even abusive? Isn’t that where the only blame should be placed?

Es ist mir etwas unangenehm, aber ich muss meine eigenen Vorurteile reflektieren. Ich hatte (unbewusst?) angenommen, ein auf TikTok populärer Roman müsste zwangsläufig oberflächlich und klischeehaft sein. Diese Annahme erwies sich als völlig falsch. Das Buch beschäftigt sich mit dem schwierigen Thema Beziehungsgewalt und erklärt die Sicht der Betroffenen, die zumeist mit Unverständnis konfrontiert werden („warum verlässt sie ihn denn nicht?“). Darauf nimmt auch unmittelbar das obige Zitat Bezug: Gefragt wird im Allgemeinen danach, warum sich die Frau das gefallen lässt, und nicht warum die Männer überhaupt gewalttätig sind. (Die Rollenverteilungen zwischen Täter und Opfer sind in den meisten vielen Fällen wie im Buch beschrieben, es soll natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass es Beziehungsgewalt auch in Beziehungen zwischen Menschen anderer Gender geben kann. Von ihren eigenen Erfahrungen erzählt etwa Carmen Maria Machado in ihrem Memoir In The Dreamhouse, das ich noch nicht gelesen habe.)

Colleen Hoover lässt ihre Protagonistin Lily Beziehungsgewalt in zwei unterschiedlichen Konstellationen erleben. Zuerst erlebt sie als Jugendliche, wie ihr Vater ihre Mutter misshandelt. In ihrer eigenen Beziehung ist sie glücklich bis zu dem Tag, als ein scheinbar nebensächlicher Moment die gewaltvolle Seite ihres Partners zum Vorschein bringt. Sie beschreibt im Detail die Zweifel, das Nicht-wahrhaben-wollen, das Nicht-glauben-können, dass dieser Übergriff tatsächlich passiert sein kann. Dass der geliebte Mensch so etwas tun würde. In gewissem Sinne beantwortet sie damit die Fragen, die sonst an die Opfer von Beziehungsgewalt gestellt werden:

Just because someone hurts you doesn’t mean you can simply stop loving them. It’s not a person’s actions that hurt the most. It’s the love. If there was no love attached to the action, the pain would be a little easier to bear.

Letztes Jahr ist die Fortsetzung It Starts With Us erschienen. Obwohl ich It Ends With Us ziemlich gut geschrieben fand, setzen jetzt andere meiner Vorurteile ein. Ich denke an Just One Day, das ich ganz toll fand und die Fortsetzung Just One Year, die meine Erwartungen leider nicht erfüllt hat. Aber vielleicht kommt der richtige Moment, um wieder in dieses Universum einzutauchen.

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Roman

Martin Prinz – Der Räuber

CN dieses Buch: Mord
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Ein Räuber sitzt umzingelt auf einem Berg. Noch ist ihm sein Platz, der finstere Wald, eine Insel. Kalt ist es in der Nacht und sternenklar. Die Straßen füllen sich langsam mit Transportern und Mannschaftswagen. Es ist eine Art von Krieg. […] Der Räuber lächelt, wenn er seinen Verfolgern aus der Finsternis zusieht. Ein Räuber kämpft immer an der Seite des Mondes. Er sitzt da und lächelt. Das ist auch Krieg. Jetzt sind wieder die anderen am Zug.

Fürs Erste reicht’s mir dann mit den Literatur-Geocaches. Dieses kurze Werk lässt sich zwar flüssig lesen, die Flucht des zum Mörder gewordenen Bankräubers Rettenbacher und seine Gedanken auf dieser Flucht ließen mich jedoch kalt. Das (Davon-)Laufen als Metapher für die Flüchtigkeit der Welt? Die Flucht als Spiel, bei dem sich der einsame Räuber immer wieder im Vorteil gegenüber den Hundertschaften der Polizei sieht, die ihn verfolgen? Hat bei mir nicht gezündet.

Er durfte nicht immer allein deshalb durch die Welt hetzen, damit sie im Stillstehen nicht zusammenbrach. Er wollte ihr zumindest manchmal ganz unbewegt zusehen, wie sie sich vor ihm in ängstlicher Hektik abmühte.

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Roman Science Fiction

skalabyrinth – Wenn es nicht passiert

CN dieses Buch/dieser Post:
Erwähnung von Gefühlen wie Anxiety, Overload und Meltdown

Mehr Informationen zum Inhalt dieses Buchs findet ihr in diesem Thread von skalabyrinth auf Mastodon, über den ich dieses Buch entdeckt habe.


Ich bin gewohnt, durch meine pure Existenz zu verwirren.

In letzter Zeit habe ich mich aufgrund von unterschiedlichen persönlichen Begegnungen etwas mehr mit dem Thema Autismus und den unterschiedlichen Erfahrungen betroffener Menschen befasst. Die Kombination der Themen, die in diesem Buch behandelt werden, fand ich daher sehr interessant. Und nach dem Lesen kann ich nicht sagen, was mir am meisten die Augen geöffnet hat (weil alles so augenöffnend war):

  • Zentrales Thema in diesem Buch ist die Repräsentation von autistischen Personen mit Autismus, den unterschiedlichen Formen, die Autismus annehmen kann, den Erfahrungen, die betroffene autistische Menschen machen und mit welchen Unterstützungen sie in ihrem Leben besser zurecht kommen können. Für mich sind durch diese Beschreibungen manche Begegnungen, die ich in der Vergangenheit hatte, klarer geworden. Ich habe das Gefühl, dass es mein Verständnis von dem Alltagserleben von autistischen Menschen mit Autismus erweitert hat. Ich konnte auch Parallelen zu Situationen erkennen, wo ich selbst die Person war, der ein anderer Umgang, ein anderes Verständnis, eine andere soziale Normalität geholfen hätte, mit der Situation besser umzugehen:
    • Sehr intensiv fühle ich den Wunsch, in einer Welt zu leben, wo Menschen so miteinander umgehen wie in diesem Buch. Es wird darauf geachtet, wie es anderen Personen geht, es werden einfache Unterstützungsleistungen angeboten, es wird klar kommuniziert. Es wird Verständnis geübt, wenn Menschen das Bedürfnis haben, sich mal zurückzuziehen bzw. eine Pause brauchen auch in bzw. speziell von sozialen Situationen.
    • Eine Art Höhepunkt des Buchs ist der Besuch eines Festivals durch eine Person, für die solche Situationen besonders schwierig sind. Dies wird ermöglicht durch Teams, die es Menschen, die mit sozialen Situationen oder großen Menschenmengen Schwierigkeiten haben, ermöglichen, trotzdem an Veranstaltungen teilzunehmen. In einer Form, von der ich nicht beurteilen kann, wie sehr sie der im Buch beschriebenen Betreuung entspricht, gibt es das bereits bei den Veranstaltungen des Chaos Computer Clubs (CCC) durch das Team c3auti.

Viele Leute kommunizierten nach bestimmten Regeln, die für ihn nicht erfassbar waren, weshalb er es durch so etwas wie Vorsichtsverhalten ausglich, bestimmtes Kopieren, Nachahmen von Verhaltensmustern, die für ihn nicht viel Sinn ergaben, aber ohne die es regelmäßig zu Missverständniskatastrophen kam.

    • Das Thema „klare Kommunikation“ ist so wichtig, dass ich es erneut erwähnen will. Immer wieder wird auch das Thema Subtext erwähnt, eine Form der unterschwelligen Kommunikation, die von vielen neurodivergenten Menschen nicht verstanden werden kann. Durch die klare Kommunikation von eigenen Bedürfnissen und Grenzen können alle Beziehungen profitieren, nicht nur jene, die neurodivergente Personen einschließen.
  • Die Einteilung von Büchern in (fiktive?) Genres, die irgendwelche Menschen in der Buchindustrie erfinden, damit sie Bücher an bestimmte Personengruppen vermarkten können, ist mir seit Langem unangenehm. Ich hatte lange gedacht, ich würde diesen Blog Post einleiten mit einer Beschreibung davon, wie dieses Buch meine persönlichen Genre-Grenzen erweitert hat und bin jetzt erst darauf gekommen, dass ich diese Genres und die darauf beruhenden Grenzen ja gar nicht leiden kann. Also weg damit.
  • Über die unterschiedlichen Formen von Asexualität wusste ich bisher überhaupt nichts. Eine Übersicht (in englischer Sprache inkl. Abkürzungen und Flaggen) habe ich bei asexuals.net gefunden.
  • Weiters möchte ich aus diesem Buch gern die Bezeichung Herzwesen in meinen Alltagssprachgebrauch übernehmen. Immer wieder kommt im Gespräch die Frage auf, wie wir die wichtigen Menschen in unserem Leben bezeichnen: Im Englischen und genderneutral funktioniert partner meiner Meinung nach ganz gut. Im Deutschen wird darin immer gleich das Geschlecht mitkommuniziert bzw. impliziert (Partner:in). Ähnliches gilt für andere deutsche Formen von Beziehungsbeschreibungen wie Lebensgefährt:in. Die Bezeichnung Herzwesen umgeht einerseits das ganze Genderthema und beinhaltet außerdem keine Definition der Art der Beziehung bzw. was die Beziehung alles beinhaltet oder nicht beinhaltet.

Außerdem hat mich dieses Buch dazu inspiriert, auch mal außerhalb meiner üblichen und etablierten Quellen für meine Literaturauswahl nachzuschauen. Auf Mastodon habe ich inzwischen zwei Bücher in meinen Bookmarks, die ich mir näher anschauen möchte. Ziel: pro Monat ein Buch aus einer alternativen Quelle (zB Self-Publishing) und/oder mit einem Thema, das im Mainstream zu wenig Platz findet.

EDIT (9. März 2023): Ich wurde darauf hingewiesen, dass sich die Mehrheit der autistischen Menschen für Identity First ausspricht, „also nicht Menschen mit Autismus, sondern Autist*innen oder autistische Menschen“. Daher habe ich im Text oben die entsprechenden Korrekturen vorgenommen.

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English Krimi Roman

Louise Penny – Kingdom of the Blind

CN dieses Buch: Mord, Prostitution, Drogenmissbrauch, Holocaust, Fentanyl, Opioide, Antisemitismus, Pogrom
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The wealthy have a way of justifying things. They live in distorted reality. If everyone at the club’s doing it, it must be okay.

Jedes Mal, wenn mich die Lust auf Three Pines packt, passiert dasselbe: Ich denke mir, ich könnte das ja zwischen den anderen Büchern lesen. Und dann lese ich nur noch das, bis ich das Buch zu Ende gelesen habe. Mehr muss ich eigentlich nicht sagen, weil wer Three Pines kennt, die*der weiß eh, wovon ich rede.

Für mich als gebürtige Österreicherin natürlich lustig: es wird unter anderem erwähnt, dass die Österreicher:innen nahezu so effizient wären, wie die Deutschen. Jedoch sind Österreicher:innen wohl international nicht für ihren Humor bekannt. Schade, dass die wienerische Morbidität nicht zur Sprache kam.

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Roman

Mikko Rimminen – Der Tag der roten Nase

CN dieses Buch: Alkoholmissbrauch, Verletzung der Nase, Unfalltod eines Jugendlichen, Trauer
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Protagonistin Irma verschreibst sich selbst eine Zwangskur gegen ihre Einsamkeit und soziale Unsicherheit. Als vermeintliche Marktforscherin klingelt sie an fremden Türen, um in Kommunikation mit anderen Menschen zu kommen. Der Text lässt die Leser:innen direkt in ihren Kopf schauen und die Panik fühlen, die in ihr aufsteigt, ihr die Zunge lähmt und gerade in schwierigen Situationen alles (scheinbar) noch schlimmer macht. Der Großteil davon spielt sich allerdings tatsächlich nur in ihrem Kopf ab. Als Leser:in wusste ich aber bis zum Schluss nicht, dass sie sich all die negativen Reaktionen ihrer Mitmenschen eigentlich nur einbildet bzw. selbst vormacht. Tatsächlich wiederholt sich hauptsächlich die Frage „Ist mit Ihnen alles okay?“. Mehr Gedanken über ihr oft schräges Verhalten machen sich die meisten Menschen gar nicht. Eine schöne Erinnerung daran, dass wir uns über unsere persönlichen Eigenheiten nicht so viele Gedanken machen sollten. Alle anderen machen sich nämlich auch nur Gedanken über ihre eigenen Eigenheiten und nicht über unsere.


Letzten Samstag verschleppte ich den Fotografen zur Ausstellung Unseen Places im KunstHausWien (nur noch bis 19. Februar 2023). In dieser Retrospektive werden verschiedene Projekte des Fotografen Gregor Sailer gezeigt. Er beschäftigt sich schon seit Längerem mit „Architekturen, die auf politische, militärische oder wirtschaftliche Aspekte der Gegenwart verweisen“ (alles unter Anführungszeichen sind Zitate aus dem Ausstellungstext). Dafür begibt er sich an Orte, die normalerweise nicht zugänglich sind und nimmt dafür große Strapazen und immensen Aufwand in Kauf. In einem Ausstellungstisch sind auch Dokumente und Tagebuchaufzeichnungen zu sehen, die einen Einblick erlauben in die Schwierigkeiten, die mit diesen Projekten verbunden sind/waren.

Gleich neben dem Eingang und der einleitenden Erklärung der Retrospektive beginnt die Ausstellung mit dem Projekt The Potemkin Village (2015–2017). „In sieben Ländern fotografierte [Gregor Sailer] Scheinarchitekturen, Kulissenbauten und illusionistische Modelldörfer“, darunter zB rudimentäre Stadtstrukturen für militärische Übungszwecke. Diese Bilder fand ich gleichzeitig verstörend und interessant, weil sie eine halbfertige Welt zeigen. Die Architekturen sind jedoch nicht halb zerstört, wie es vielleicht in einem Kriegsgebiet wäre, sondern einfach nur halb gebaut oder überhaupt nur als Kulissen aufgestellt. Auf den detailreichen Fotos eines amerikanischen Militärübungsplatzes ist etwa ein arabisch beschriftetes Lebensmittelgeschäft, eine Moschee oder ein Brunnen zu sehen. Die vollkommene Menschenleere verleiht den Bildern eine Unwirklichkeit, ich konnte mir vorstellen, dass die Menschen hier aufgrund einer Katastrophe alle verschwunden sind. Es wirkt teilweise wie der Schauplatz eines Science-Fiction-Romans.

Blick in den Ausstellungsraum, links eine Collage aus 4x5 Bildern aus der Serie The Potemkin Village, hinten ein wandfüllender Blick in einen U-Bahn-Schacht aus der Reihe Subspace

Das Projekt Closed Cities (2009–2012) ermöglicht Einblicke in spektakuläre Orte:

  • Mirny, Jakutien, Russland. „Stadt am Rande eines gigantischen Tagebaulochs, sämtliche Gebäude auf Pfählen im Permafrost errichtet“. Das beeindruckende Foto zeigt einen verschneiten Krater, in dem nach Diamanten geschürft wird. Am Horizont dahinter ist schemenhaft durch den Nebel die Stadt zu erkennen.
  • Die Flüchtlingsstädte Dakhla, Escuela 27 Febrero, Rabouni und Smara, West-Sahara. Etwa 200.000 Menschen leben in dieser „lebensfeindlichsten Region der Sahara“. Ohne Hilfe von außen wären diese Städte nicht überlebensfähig. Die Bilder zeigen die Leere der Wüste, ein einsames Fußballtor unter der sengenden Sonne.
  • Chuquicamata, Atacama, Chile. Größte Tagebaumine der Welt. 2008 wurden 35.000 Einwohner:innen wegen „untragbarer Lebensbedingungen“ zwangsumgesiedelt. „Die Stadt verschwindet unter Abräumhalden. Umliegende Landschaft auf Jahrzehnte verseucht aufgrund jahrelanger Entsorgung hochgiftiger Abwässer direkt in die Wüste.“ Für die Arbeiter:innen wurde zB. ein Stadion errichtet, das leer im heißen Wüstenstand glüht.
  • Ras Laffan, Katar, Mittlerer Osten. Etwa 100.000 Einwohner (ausschließlich Männer) arbeiten in dieser Siedlung am größten Gasfeld der Erde (persischer Golf). Die Bilder zeigen gespenstische rot beleuchtete Konstruktionen aus Rohren und Tanks. Ein optisch harter Kontrast zu den oben beschriebenen Orten und Bildern, die sich durch Helligkeit und Weite auszeichnen.
  • Nordelta, Argentinien. Einen wahren Kontrastpunkt zu den obigen Örtlichkeiten bildet die Gated Town Nordelta in Argentinien im Norden von Buenos Aires. Hier leben reiche Menschen in einer künstlich geschaffenen Umgebung.

Verlassene Orte sind jedoch nicht nur in entlegenen Gegenden zu finden. Auch Österreich hat so manchen Lost Place zu entdecken. Im Projekt The Box (2014–2015) fotografierte Gregor Sailer in einem Stollen eines ehemaligen Bergwerks in Schwaz (Tirol). Im Zweiten Weltkrieg wurde hier von Zwangsarbeiter:innen das weltweit erste Kampfflugzeug mit Stahltriebwerkstechnologie produziert. „Die so genannte Messerschmitthalle liegt heute ohne jegliche Infrastruktur in absoluter Dunkelheit.“ Um hier überhaupt fotografieren zu können, musste ein spezielles Beleuchtungskonzept entwickelt werden. Das Ergebnis sind großformatige, dunkle Schwarz-Weiß-Fotos, die in ihrer kalten, harten Klarheit erahnen lassen, welchen unmenschlichen Bedingungen die Zwangsarbeiter:innen damals ausgesetzt gewesen sein müssen.

Blick in den Ausstellungsraum, die Wände sind blau verkleidet, darauf sind helle Bilder zu sehen, zentral im Raum steht eine einzelne Bank auf dem Holzboden

Das aktuellste Projekt ist The Polar Silkroad (2017–2022). Aus dieser Serie stammt auch das Titelfoto der Ausstellung, das mich auf dem Plakat in seinen Bann gezogen hat. Es zeigt eine militärische Station der Norwegian Armed Forces, Andøya, Norway. Das Gebäude verschwindet beinahe im Nebel, links davon ist ein Berggipfel zu erahnen. Zentraler Blickfang ist eine Art runder Spiegel in der Mitte des Bildes, die gelbliche Färbung sticht aus dem ansonsten weiß-grau-blau (je nach Entwicklung und Lichteinfall, das Bild in der Ausstellung ist deutlich weißer als das auf dem Plakat) gehaltenen Bild deutlich heraus.

Auch ein zweites Bild aus dieser Serie hat mich sehr beeindruckt. Es zeigt die Royal-Air-Force-Basis in Fylingdales in Großbritannien. Im Vordergrund ist von Rauhreif bedecktes Gras zu sehen, dahinter erscheint ein beleuchteter Zaun aus dem Nebel, der das Bild prägt. Erst bei längerer Betrachtung werden die Kanten des Gebäudes im Nebel erkennbar. Ein scheinbar langweiliges Bild, das aber viel in sich birgt. Dieses Bild ist auf der Webseite leider nicht enthalten, daher kann ich es nicht extra verlinken.

Bilder aus den einzelnen Projekten sind auf der Webseite von Gregor Sailer zu sehen, ich habe sie jeweils beim Projekttitel extra verlinkt.

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Krimi Roman

Günter Brödl – Platzangst

CN dieses Buch: Alkoholmissbrauch, Spielsucht, Prostitution, Mord, Pornografie, BDSM, Snuff-Videos
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Wieder mal durch einen Literatur-Geocache auf dieses Buch gekommen, das sich als unterhaltsamer Krimi mit Schauplatz Wien und der Kunstfigur Dr. Kurt Ostbahn als Protagonist auszeichnet. Mir sind ja langsam die Krimireihen, wo irgendwelche Menschen, die eigentlich nicht beruflich mit Verbrechen zu tun haben, in einen Kriminalfall nach dem anderen stolpern zumeist suspekt. Da ich hier aber gleich den dritten Teil zur Hand hatte, in dem noch dazu auch der bereits zwangspensionierte Kriminalinspektor aus den ersten beiden Bänden selbst auf eigene Faust ermittelt, hat es sich hier irgendwie ganz natürlich angefühlt. Der vom Pech gejagte Ostbahn-Kurti will eigentlich nur ein Badezimmer in seiner Wohnung einbauen lassen, die dafür engagierten Handwerker finden jedoch bei einem anderen Auftrag eine Leiche und ziehen ihn mit hinein, worauf eins das andere gibt. Gezahlt wird noch in Schilling, die Schauplätze in Wien sind ausführlich und liebevoll beschrieben und charakterisiert und so manches Wiener Original taucht im Verlauf der Geschichte auf. Perfekt für alle, die Krimis (mit Wien-Bezug) mögen. 

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Graphic Novel

Koren Shadmi – Love Addict

CN dieses Buch: häusliche Gewalt (Werfen und Zerstören von Gegenständen), sexuelle Handlungen (grafisch dargestellt), Alkohol- und Drogenmissbrauch, Sexismus, Fat Shaming
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Leider lässt mich meine Dokumentation erneut im Stich, ich kann nicht nachvollziehen, auf welchem Weg diese Graphic Novel auf meiner Liste gelandet ist. Jedenfalls landete ich heute nach meinem Besuch im Theatermuseum (siehe Bericht weiter unten) in der Bücherei-Zweigstelle Schwendermarkt. Nach der schnellen vor-Ort-Lösung eines (satirischen) Literatur-Geocaches konnte ich das Buch aus der Bookmarkliste in der Büchereien-App, das ich mir vorgemerkt hatte, nicht finden und nahm mir noch Zeit, in meine Tabelle zu schauen, in der ich interessante Bücher verzeichne. Da fand ich dann dieses Werk, das in dieser Zweigstelle auch verfügbar war. Das andere Buch konnte ich dann mit Unterstützung des Personals auch ausfindig machen (Pro-Tip: die Krimis haben oft ein Extra-Regal und sind nicht bei den Romanen einsortiert).

Die Graphic Novel befasst sich mit den Risiken und Nebenwirkungen des Online Datings. Protagonist K. lässt sich nach einer gescheiterten Beziehung von seinem Mitbewohner zu einem Account auf einer Online-Dating-Plattform überreden. Nach ein paar enttäuschenden Dates (Klischees wie zB die Frau ist hasserfüllt und betrunken, die Frau sieht ganz anders aus als auf dem Foto, die Frau ist sehr kapitalistisch orientiert und sehr unsympathisch) scheint sich das Schicksal zu wenden. K. gewinnt Selbstvertrauen durch einige positive Dating-Erfahrungen und rutscht in eine Abhängigkeit ab, die dazu führt, dass er ständig neue Frauen kennenlernen will, sie zunehmend miteinander verwechselt und er schließlich mit einem Filmriss im Zimmer einer rothaarigen Unbekannten mit Postern der Musicals Cats, Wicked und Rent an den Wänden aufwacht (diese Seite hat mir persönlich gut gefallen).

Die Geschichte nimmt einen erwartbaren Lauf, K. erkennt schließlich, dass ein weiterer schöner Körper im Bett ihn nicht glücklich macht. Sexismus lässt sich in den vielen Zeichnungen nackter Frauen sicher sehen, die meisten Frauen werden eindimensional und stereotypisch dargestellt. Irgendwie blieb bei mir ein etwas schaler Geschmack zurück, auch wenn die Moral von dieser Geschichte natürlich von Anfang an offensichtlich ist.


Theatermuseum mit dem bunten Plakat zur Ausstellung Austropop, dahinter der Kirchturm der Augustinerkirche

Im Theatermuseum ist aktell und noch bis 4. September 2023 die Sonderausstellung Austropop zu sehen. Den Untertitel Von Mozart bis Falco finde ich gelinde gesagt irreführend, denn diese Formulierung suggeriert, dass mit dem Tod von Falco vor nunmehr fast 25 Jahren der Austropop (s)ein Ende gefunden hätte. Natürlich sind gerade diese beiden Protagonisten der österreichischen Musikszene international bekannt und eignen sich daher als Zugpferde für die Ausstellung. Aber zum Glück beschränkt sich die Ausstellung nicht nur auf diese beiden Persönlichkeiten, sondern versucht, die Entwicklung des Austropop nachzuzeichnen und jeder Epoche ihre eigene Bedeutung zukommen zu lassen.

mehrere Schallplatten-Cover auf einem Pop-Art-Wand-Hintergrund mit sich überlappenden Kreisen in rot-orange-Farbtönen

Einen eigenen Raum nehmen auch die in Wien uraufgeführten Musicalproduktionen ein, die teilweise auch direkte Austropop-Verbindungen aufweisen. Dazu zählen etwa die Musicals Mozart! und Schikaneder, deren Hauptfiguren direkt der Austropopgeschichte entstammen. Die Musicals Ich war noch niemals in New York und I am from Austria hingegen erzählen eine erfundene Geschichte untermalt mit der Musik bekannter Austropopgrößen wie Udo Jürgens und Rainhard Fendrich. Neben Szenenfotos aus den Musicals sind auch Programmhefte, Kostümzeichnungen sowie Kostüme ausgestellt.

5 Kostümzeichnungen aus dem Musical Elisabeth, darüber zwei Plakate der japanischen Produktionen von Elisabeth und Mozart

Neben dieser Sonderausstellung gibt es auch eine kleinere Dokumentation zu Richard Teschner (1879–1948) zu sehen. Im Figurentheater sah er „die Möglichkeit der Überwindung herkömmlicher (theatralischer) Ausdrucksformen“ (Zitat aus der Ausstellung). Mit der Entdeckung javanischer Stabpuppen fand er schließlich einen Weg, seine Vorstellungen von Theater und Poesie umzusetzen. Dies führte er zuerst in einer Guckkastenbühne namens „Der Goldene Schrein“ aus. Aufgrund der beengten Platzverhältnisse entwickelte Teschner in weiterer Form seinen „Figurenspiegel“, „auf dem ab 1932 hinter einer kreisförmigen, konkaven Glasscheibe gespielt wird. Hier sollte er alle ihm zur Verfügung stehenden Techniken (Projektionen von chemischen Prozessen, Lichteffekte, Rückprojektionen, Verfeinerung der Technik der Figuren etc.) noch einmal exzessiv erweitern“ (Zitat aus der Ausstellung). Die hinter Glas ausgestellten Stabpuppen sind leider sehr schwer zu fotografieren, auf der Webseite des Theatermuseums zu dieser Austellung gibt es jedoch einige schöne Aufnahmen zu sehen.

Goldener Schrein, Guckkastenbühne für Stabpuppen mit halb geschlossenen Türen und reichlich goldener Verzierung

Im zweiten Stock fand ich dann noch eine kleine Ausstellung mit dem Namen Spielräume, die sich mit verschiedenen Bühnenformen befasst. Modelle illustrieren einen Vergleich der verschiedenen Bühnenformen und ihrer Eigenschaften. Die Simultanbühne wird etwa heute bei den Musicalaufführungen auf der Felsenbühne Staatz eingesetzt. Die breite Bühne weist verschiedene Schauplätze auf, die ohne Umbauten direkt nacheinander in den Szenen bespielt werden können. Ein Modell der Bühne des Alten Hofburgtheaters (das Gebäude wurde Ende des 19. Jahrhunderts abgerissen) zeigt eindrucksvoll das Konzept der Guckkastenbühne und der vielen Maschinerien, die innerhalb dieses Bühnenraums zum Einsatz kamen.

Obwohl ich mir wirklich viel Zeit gelassen habe, habe ich nur knapp 90 Minuten gebraucht, um alle Räume zu durchwandern, Fotos zu machen, Texte zu lesen und die gesammelten Informationen auf mich wirken zu lassen. Das Theatermuseum ist also eines jener Museen, die sich auch als kurze Museumsaktivität zwischendurch einschieben lassen.

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Märchen Spanish

Hans Christian Andersen – El pequeño Claus y el gran Claus

CN dieses Buch: Mord, Gewalt an Menschen und Tieren, Suizidgedanken
CN dieser Post: Gewalt


Ehrlich, ich hatte so dermaßen vergessen, wie grausam und brutal diese klassischen Märchen sind. Das erste Mal musste ich so richtig schnauben bei der Szene, wo sich der kleine Klaus denkt, dass die Großmutter zum Glück schon tot war, als der große Klaus eigentlich den kleinen Klaus erschlagen wollte, und stattdessen auf die bereits verstorbene Oma unter der Bettdecke einprügelt. Wenig später lässt der kleine Klaus an seiner statt einen alten Kuhhirten in den Fluss werfen, weil dieser alte Mann sowieso lieber sterben würde. Und die Moral von der Geschichte? Der große Klaus ist dumm und böse und der kleine Klaus ist gewitzt und böse. Jedenfalls sehr böse das alles. Und in spanischer Sprache. Wofür ich erstaunlich viele Wörter nachschauen musste. Also dafür, dass es ein Märchen ist. Für Kinder? Siehe oben.

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Krimi Roman Thriller

Bernhard Aichner – Totenrausch

CN dieses Buch: Mord, Prostitution, Folter, Brandmal, Gewalt, Pornografie, Masturbation, Drogenmissbrauch, Vergewaltigung, Kindesentführung
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In meinem Post zum vorherigen Roman der Blum-Reihe (Totenhaus) sah ich einen neuen Aspekt in der Persönlichkeit der Protagonistin Blum. Aus dem zentralen Motiv Rache war Notwehr geworden. So geht es auch in diesem dritten Teil weiter. Auf der Flucht gerät Blum in ein Abhängigkeitsverhältnis mit einem Rotlichtmagnaten und das kann natürlich nicht gut ausgehen. Der Roman spart nicht an brutalen Details und lässt Blum auch ordentlich leiden. Prägend ist wiederum ihr Mutterinstinkt. Als der Rotlichtboss ihre Kinder entführt, sieht Blum endgültig rot.

Ansonsten behält Bernhard Aichner seinen Schreibstil und das rasende Tempo der Geschichte bei. Der Schauplatz ist Hamburg, könnte aber genauso gut in jeder anderen größeren Stadt sein. Aber natürlich passt die Reeperbahn gut als Kulisse für die Verbindungen ins Rotlichtmilieu als Kontrast zum beschaulichen Leben in Blankenese. Wer die ersten beiden Teile gelesen hat, weiß, was sie/er zu erwarten hat.