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Roman

Rasha Khayat – Weil wir längst woanders sind

Und dann werde ich runtergehen zu den anderen und meine Schwester, so wie sie war, für immer verlieren.

Die Autorin beschreibt in diesem Buch den Versuch, „Worte und Bilder zu finden für das Gefühl der Fremdheit im außen“. Wie auch ihre Protagonist*innen Basil und Layla hat sie ihre Kindheit zum Teil in Saudi-Arabien und in Deutschland erlebt. In einem persönlichen Essay, der der Geschichte angeschlossen ist, beschreibt sie, wie sich durch Anpassung, die oft geforderte Integration in die neue Kultur gleichzeitig eine Entfernung zur Familie auftut.

Und gleichzeitig, das merkte ich aber erst sehr viel später, entfernte es mich immer weiter von der Familie, mit der ich dieses Gefühl der Fremdheit teilte, die Sehnsucht nach Zurückgelassenem, nach Petersilie und frischem Koriander.

Basil reist aus seinem Lebensmittelpunkt Hamburg nach Jeddah in Saudi-Arabien zur Hochzeit seiner Schwester Layla. Stück für Stück wird die Geschichte der Familie enthüllt: der Vater Tarek, der von seiner Familie für ein Medizinstudium nach Deutschland geschickt wird und dort schließlich ein deutsches Mädchen heiratet, Barbara. Wie die Kinder zuerst innerhalb der arabischen Großfamilie in Jeddah aufwachsen und den Urlaub bei den deutschen Großeltern verbringen. Worauf dann aber die Entwurzelung folgt, als die Eltern permanent in Deutschland bleiben, damit Tarek seine Ausbildung weiter fortsetzen kann.

Während Basil sich bei der Rückkehr in den familiären Hafen unwohl und fremd fühlt, scheint es für Layla umgekehrt zu sein. Sie hat sich in der deutschen Kultur niemals wirklich willkommen gefühlt und kehrt nun zur Familientradition zurück.

Alles ist immer schwer und zerrissen, immer nur soll man Ecken und Enden von sich abschleifen, soll still sein oder zurückhaltend oder seine Liebe nicht zeigen.

Die Geschichte zeigt sehr deutlich, dass das Aufwachsen in zwei verschiedenen Kulturen für Kinder gleichzeitig bereichernd und anstrengend sein kann. Das Gefühl das Dazugehörens (belonging) kann durch Migration nachhaltig beschädigt werden. Im neuen Land wird Anpassung verlangt und jeder Schritt der Anpassung kann aber zur Entfremdung von der eigenen Kultur und Familie führen. Es ist eine Gratwanderung, die von Migrant*innen unterschiedlich bewältigt wird.

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English Erfahrungsbericht

Antonia Bolingbroke-Kent – Tuk-Tuk to the Road

We know that one day we will return to North West China and will then have the time and the energy to spend a full day exploring the caves and their Buddhist art.

Als ich Antonia Bolingbroke-Kent im FM4-Interview-Podcast über ihre Reise per Tuk-Tuk erzählen hörte, wollte ich mehr darüber wissen und setzte mir das genannte Buch auf die Leseliste. Am Anfang dieser Pandemie dachte ich mir dann, wenn ich selbst nicht reisen kann, kann ich wenigstens übers Reisen lesen. Tatsächlich waren es dann drei Etappen, in denen ich die Tuk-Tuk-Reise von Thailand nach Brighton, die im Herbst 2006 stattgefunden hat, verfolgte.

Suicide may seem like a selfish choice, but suicidal people are not cowards and to judge someone’s actions when you don’t know their feelings is wrong.

Wer (wie ich) nur einen Reisebericht erwartet, wird positiv und negativ überrascht. Auf der positiven Seite beinhaltet das Buch auch sehr viele Informationen darüber, wie so eine Reise mit dem Ziel, Spenden für einen guten Zweck (in diesem Fall die Mental-Health-Organisation Mind) zu sammeln, überhaupt organisiert werden kann. Ohne Sponsoren und ausführliche Unterstützung wäre so eine Reise kaum machbar. Auf der negativen Seite ist das Buch wenig mehr als eine Sammlung der Blog Posts, die die beiden Tuk-Tuker Ants und Jo während ihrer Reise verfasst haben.

Auf der einen Seite ist diese Reise natürlich ein unvorstellbares Abenteuer. Auf der anderen Seite kann ich mir selbst nicht vorstellen, dermaßen nur auf der Durchreise zu sein und kaum Zeit zu haben, um die durchfahrenen Regionen auch tatsächlich zu erleben. Ich würde mehr sehen wollen, nicht nur vorbeifahren. Dies zeigt sich besonders deutlich auf den letzten Stationen der Reise, als die beiden in der letzten Woche von Krakow in Polen über Prag, Köln und Brüssel nach Brighton reisen. Jede einzelne dieser Städte hätte einen Aufenthalt von zumindest mehreren Tagen verdient und auf jede Gegend, die sie davor durchfahren haben, trifft das vermutlich in ähnlichem wenn nicht sogar größerem Ausmaß zu.

Eine gewisse Extrovertiertheit gehört ohne Zweifel auch dazu, weshalb ich mir sicher bin, so eine Reise selbst niemals machen zu wollen. Aber es war trotzdem eine interessante Lektüre.

We never event meant to go to Yekaterinburg, let alone stay there for four days, but as Ivan, quoting Voltaire said: ,Everything happens for a reason.’

Echt jetzt, Voltaire war das?

 

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Erfahrungsbericht Memoir

Sue Monk Kidd und Ann Kidd Taylor – Granatapfeljahre

Was mich zum wichtigsten Grund dafür bringt, warum es der reine Wahnsinn wäre, wenn ich eine Schriftstellerkarriere anstreben würde: Es erfordert viel zu viel Selbstvertrauen.

Wenn ich schon selbst nicht verreisen kann, dann kann ich wenigstens einen Reisebericht lesen, dachte ich mir. Die Reisen sind aber in diesem Buch eigentlich nur der rote Faden für die Entwicklung der beiden Autor*innen und ihrer Beziehung zueinander. Sie sind Mutter und Tochter.

Die Jüngere kämpft mit einer Ablehnung, die ihr den Lebensweg verstellt, den sie sich als Erfüllung ihrer Träume vorgestellt hat. Die Ältere hadert mit dem Übergang in eine neue Lebensphase, die Menopause macht ihr nicht nur körperlich zu schaffen, sondern lässt sie auch seelisch ihre Lebensentscheidungen hinterfragen. Auf ihrer spirituellen Suche befassen sie sich mit der griechischen Sage von Demeter und Persephone, der Jungfrau von Orleans und der Gottesmutter Maria, hauptsächlich in Gestalt der Schwarzen Madonnen, die berühmteste ist im französischen Rocamadour zu finden.

Die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Mythen und den Rollen, die Frauen in ihrem Lebensverlauf spielen (können), hilft schließlich beiden, sich über ihren weiteren Lebensweg klar zu werden. Der spirituelle Zugang mag nicht allen Leser*innen gefallen (mir war es streckenweise auch zu viel innere Einkehr), für mich war es aber ein interessanter Zugang, das Reisen nicht nur um des Reisens willen zu betrachten, sondern auch als „Reise zu sich selbst“.

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Novelle

Gayle Forman – Just One Night

Sickness leading to healing. The truth and its opposite again.

2017 hatte ich mir eine Fortsetzung zu Just one day und Just one year gewünscht. Jetzt habe ich sie zufällig gefunden. Die Freude währte leider nur kurz, denn wie der Titel es schon andeutet, wird nur die nächste Nacht nach dem Wiedersehen von Willem und Allyson erzählt. Nicht mal eine Stunde war ich damit beschäftigt, zu erfahren, wie die beiden das Glück feiern, das sie zusammengeführt hat, nachdem sie sich über ein Jahr lang vergeblich gesucht haben.

Es ist eine Fortsetzung, die passt, aber doch zu wenig. Dabei kam mir der Gedanke, dass das einer der Gründe ist, warum mir A Little Life so gut gefallen hat. Es erfordert Mut und Aufwand, einen kompletten Lebensweg zu beschreiben und nicht nur den Anfang einer Begegnung, die ein oder mehrere Leben verändert.

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Erfahrungsbericht

Cait Flanders – The Year of Less

Each time I craved it, I had to stand in the moment, pay attention to what had triggered the craving, and change my reaction.

Die Autorin beschreibt in diesem Buch nicht nur ihre Entscheidung, ein Jahr lang nicht einzukaufen (Lebensmittel und andere Notwendigkeiten ausgenommen), sondern vor allem wie sie ihre eigenen Gewohnheiten (habits) in der Zeit davor und danach verändert hat. Sie erzählt schonungslos von ihrem Alkoholismus (zu Beginn des shopping bans war sie bereits 17 Monate trocken) und den anderen Verdrängungsmechanismen, die darauf folgten. Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir uns davon ablenken können, uns mit den schwierigen Dingen in unserem Leben auseinanderzusetzen. Unser Einkaufsverhalten ist eines davon. Die Autorin beschreibt anschaulich, wie sie sich selbst vorgekaukelt hat, durch den Kauf von einem bestimmten Artikel eine andere Person werden zu können. Oder eine bessere Version von ihrem bisherigen Selbst. Dies lenkt uns aber nur davon ab, uns zu fragen, welche Leere wir damit eigentlich ausfüllen wollen.

The real thing to celebrate was that I had felt things and I kept living.

Der radikale Verzicht auf das Einkaufen führte bei der Autorin zu einer intensiven Auseinandersetzung mit ihren eigenen Bedürfnissen. Den Einkaufsverzicht kombinierte sie mit einem gründlichen Hinterfragen aller bereits gesammelten Habseligkeiten, worauf dann das Loswerden von mehr als der Hälfte dieser Habseligkeiten folgte.

Mir selbst ist bei meinem kürzlichen Anlauf, in meiner Wohnung etwas aufzuräumen und auszumisten, erst so richtig bewusst geworden, wie viele Dinge ich besitze, die ich tatsächlich schon ewig nicht mehr verwendet habe. Für mich besteht die Schwierigkeit darin, nicht zu wissen, was mit den Dingen geschehen soll. Ein Beispiel: Über die Jahre haben sich Unmengen an Kabeln angesammelt, manche sind inzwischen überholt, manche waren irgendwo dabei, manche wurden nie benutzt. Sie wegzuwerfen bringt sie zwar aus meiner Wohnung weg, macht sie aber gleichzeitig zu Müll. Dinge, die für andere Menschen noch nützlich sein können, sind vergleichsweise einfach. Zwei Gegenstände konnte ich bereits erfolgreich  verkaufen. Aber es gibt so viele Dinge, die zumindest oberflächlich nicht mehr (sinnvoll) zu gebrauchen sind: Das schriftbasierte Gesellschaftskartenspiel, das auf der alten Rechtschreibung (vor 1996!) beruht. Die Kompaktkamera, deren Akku kaputt gegangen ist (ohne einen neuen Akku zu kaufen, ist unklar, ob die Kamera überhaupt noch funktioniert, der Kauf eines neuen Akkus könnte daher völlig sinnlos sein). Ein Dämpfeinsatz, über dessen Erwerb ich tatsächlich lange sinniert hatte, aber weil er eben nur einen mittleren einstelligen Eurobetrag kostete (genau weiß ich das nicht mehr), habe ich ihn dann doch gekauft (und in den letzten vier Jahren vielleicht zwei Mal benutzt).

Während des Lesens dieses Buches habe ich auch versucht, meine eigenen Mechanismen zu hinterfragen. Mein Einkaufsverhalten habe ich in den letzten Jahren ohnehin Stück für Stück geändert, ich kaufe kaum noch Kleidung, weniger als fünf Bücher pro Jahr, bei allem, was nicht Verbrauchsmaterial ist, denke ich ewig darüber nach, ob ich das wirklich brauche. Meine Schwierigkeit besteht eher darin, dass ich mich schwer von Dingen trennen kann, wenn diese durch Entfernung zu Müll würden und dadurch, dass sie bei mir bleiben, noch eine Chance auf Nützlichkeit haben. Die Kehrseite ist ja auch: Wenn ich jetzt diese Dose mit den übrig gebliebenen Schrauben entsorge und nächstes Monat dann eine Schraube brauche, muss ich dann wieder Schrauben kaufen.

Das Hinterfragen des eigenen Konsumverhaltens kann in meinen Augen nur positive Effekte zeigen. Wir haben schon so viel und wollen immer noch mehr. Dank der ständig neuen Bedürfnisse, die die Werbetreibenden in uns zu wecken versuchen, werden wir auch niemals genug haben können. Es muss nicht gleich ein shopping ban sein, aber ein kurzes Innehalten vor einem Einkauf kann uns in manchen Situationen vielleicht schon bewusst machen, dass wir bereits genug haben.

It wasn’t much, but it was enough.
It was enough. I had enough.
I was enough.

Randnotiz: Bei Büchern, die ich nicht in der Bücherei bekommen kann, frage ich mich im Allgemeinen vor dem Kauf, ob ich sie jetzt sofort lesen möchte. Meistens ist das nicht der Fall und ich verschiebe den Kauf auf später. Kürzlich ist es mir tatsächlich passiert, dass ich ein Buch gefunden habe, das ich sofort lesen wollte. Die Kaufmöglichkeiten dieses englischsprachigen Buchs beschränkten sich für meinen europäischen Standort auf Amazon und Kobo. Im Gespräch mit einer befreundeten Autorin habe ich anschließend versucht, herauszufinden, bei welcher Kaufoption der höchste Anteil vom Kaufpreis bei der Autor*in landet. Leider ist das für die Käufer*innen im Einzelfall nicht so einfach herauszufinden. Die kurze Antwort für eBooks lautet: Alles außer Amazon.

Randnotiz 2: Im selben Zusammenhang habe ich mich gefragt, ob es sinnvoller ist, ein eBook zu kaufen oder ein gedrucktes Buch. Das gedruckte Buch kann ich weitergeben; wenn ich es nicht behalten will, muss ich es sogar loswerden; es ist ein Gegenstand, der zu Müll werden kann. Ein eBook hingegen verbraucht keinen physischen Platz; ich kann es aber auch nicht weiterreichen an Menschen, die daran auch noch Freude haben könnten. Es mag übertrieben erscheinen, sich über ein einzelnes Buch solche Gedanken zu machen, aber genau das macht das Hinterfragen der eigenen Gewohnheiten aus.

Randnotiz 3: Ich habe das Buch, das ich sofort lesen wollte, (noch) nicht gekauft.

[EDIT: 24. November 2019] Randnotiz 4: Mir ist aufgefallen, dass ich eigentlich auch darüber schreiben wollte, wie die Autorin mit den Reaktionen ihres Umfelds auf die Veränderung ihres Konsumverhaltens umgegangen ist. Sie beschreibt, dass viele Bekannte ihr eigenes Konsumverhalten ihr gegenüber rechtfertigten oder dass Menschen das Gefühl hatten, mit ihr nun nicht mehr über Einkäufe oder damit in Zusammenhang stehende Themen sprechen zu können. Sie schreibt, dass sie aufgrund ihrer Entscheidung, keinen Alkohol mehr zu trinken, aus gesellschaftlichen Situationen ausgeschlossen wurde. Sie beschreibt Unverständnis und sogar, dass Menschen aus ihrem Umfeld sie in Versuchung führten, ihre für sich selbst aufgestellten Regeln zu brechen.

Diese Reaktionen des Umfelds sind eine wichtige Ursache, die uns davon abhält oder es uns schwerer macht, unsere Gewohnheiten, unser Verhalten zu verändern. Das Verhalten von anderen können wir nicht ändern, wir können uns aber darauf gefasst machen, dass unsere eigene Veränderung nicht nur positive Reaktionen auslösen wird. Wir können uns bereits vorab überlegen, wie wir mit solchen Situationen umgehen wollen. Und vor allem dann, wenn diese Situationen auftreten, können wir sie reflektieren und uns bewusst machen, dass diese Reaktionen eigentlich wenig über unser eigenes Verhalten aussagen, sondern mehr darüber, in welchen Lebensbereichen diese Personen mit sich selbst nicht im Reinen sind. Diese Reaktionen zeigen uns nicht (nur) unsere eigenen Schwächen auf sondern vor allem jene der Personen, die unsere Entscheidungen in Frage stellen oder kritisieren.

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Erfahrungsbericht

Svenja Beller, Roman Pawlowski – Einfach loslaufen

Mit so vielen unterschiedlichen Lebensentwürfen kontrontiert zu sein eröffnet einem positiv ausgedrückt eine Menge Perspektiven, negativ ausgedrückt kann es auch ganz schön verunsichern. Leben wir überhaupt so, wie wir leben wollen? Warum nicht auf einer Insel aus Eis? Oder in einer Surfschule? Oder auf einem Segelschiff? Wer wollen wir eigentlich sein? Und können wir uns das überhaupt aussuchen?

Irgendwann im vergangenen Jahr bin ich auf das Travel Blog von Kristin Addis Be My Travel Muse gestoßen. Daraus wurde dann eine umfassendere Beschäftigung mit dem Thema, Inspirationen hole ich mir unter anderem auch bei Carolines Pack The Suitcases oder Elizabeths A Suitcase Full of Books (sie verbindet das Thema Lesen und Reisen, eine Idee, mit der ich selbst vor ein paar Jahren gespielt hatte).

Reisen ist leider im Hinblick auf den Klimawandel eines der größten Probleme. Durch den Siegeszug der Billigfluglinien haben mehr Menschen die Möglichkeit, andere Kulturen kennenzulernen und ihren Horizont zu erweitern. Da ich selbst noch in diesem Jahr eine größere Reise unternehmen werde, liegt es mir fern, Einzelpersonen wegen ihres Flugverhaltens zu verurteilen. Auch in diesem Bereich liegt es an der Politik, Regelungen zu treffen, die Steuern so verteilen, dass beispielsweise Bahnfahrten durch Steuern auf Flüge günstiger gemacht werden können. So lange beispielsweise Flüge zwischen Berlin und Wien um mehr als die Hälfte billiger sind als Bahnfahrten, können wir Einzelpersonen nicht dafür verurteilen, dass sie nicht gleichzeitig mehr Zeit UND Geld in eine Reise investieren wollen oder können.

Die Journalistin Svenja Beller und der Fotograf Roman Pawlowski haben für ihre Reise einen radikal anderen Ansatz gewählt. Sie haben große Rucksäcke gepackt und sind von der Haustür einfach losmarschiert. Keine Hotels, Pensionen, Hostels, keine öffentlichen Verkehrsmittel (ausgenommen Fähren), keine Campingplätze, kein Plan außer der Himmelsrichtung: nach Norden. Sogar die Smartphones haben sie durch einfache Mobiltelefone ohne Internet ersetzt. Das führt dazu, dass sie zwangsläufig mit unterschiedlichsten Menschen in Kontakt kommen. Sie reisen per Anhalter (PKWs, Wohnmobile und sogar ein Segelschiff), zelten in Gärten (natürlich nur mit Erlaubnis der Anwohner) und besuchen in Kopenhagen die autonome Gemeinde Christiania. Zwischen Schweden und Norwegen hin und her pendelnd gelangen sie schließlich an den nördlichsten Punkt ihrer Reise: die norwegische Stadt Tromsø.

Für mich selbst kann ich mir eine solche Reise nicht vorstellen. Ein Versuch des (teilweise) ungeplanten Reisens endete vor 2 Jahren aufgrund widriger Umstände (und meiner Ungeduld) in einer großen Hotelkette. Die Freiheit, die Svenja Beller im Buch mehrmals beschreibt, das Nichts-Müssen, das empfinde ich selbst eher (oder nur), wenn ich weiß, wo ich am Abend meinen Kopf niederlegen kann. Trotzdem habe ich diesen alternativen Reisebericht mit Freude gelesen. Reisen per Buch und Landkarte schadet auch dem Klima nicht.

Mehr zum Thema:

Dieser Text von Svenja Beller hat mich ursprünglich auf das Buch aufmerksam gemacht.

Der Autor Jaroslav Rudiš ist mit dem Zug von Berlin nach Prag gereist und erzählt davon.

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Roman

Charles Scott Richardson – Das Ende des Alphabets

Der Protagonist Ambros Zephyr erhält eine niederschmetternde Diagnose: er leidet an einer unbekannten und daher unbehandelbaren Krankheit. Es bleibt ihm noch ein Monat zu leben. Sein erster Impuls lässt ihn eine Reise planen, Orte von A bis Z will er in dem verbleibenden Monat gemeinsam mit seiner Frau Zipper besuchen. Im Hinblick auf meine letzte Reise (Polen, 3 Städte in 8 Tagen) musste ich unwillkürlich daran denken, wie unmöglich dieses Vorhaben ist und was für eine anstrengende Art, seine letzte verbliebene Zeit auf Erden zu verbringen.

Zu dieser Erkenntnis gelangen auch Ambrose und Zipper. In Rückblenden wird die Geschichte ihrer Liebe erzählt, was sie zusammengebracht hat, was sie trennt, was die Verbindung zwischen ihnen ausmacht. Das Buch entspricht im Großen und Ganzen dem, was man sich von der Thematik erwarten würde: eine Meditation darüber, was ein Menschenleben ausmacht und was im Leben wirklich wichtig ist.

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Erfahrungsbericht

Shannon Leone Fowler – Travelling with Ghosts

I wanted to see what survival looked like.

Bei diesem Buch handelt es sich um einen Erfahrungsbericht, was im Amerikanischen Memoir gennant wird. Die Autorin beschreibt den Verlust ihres Partners in jungen Jahren durch einen nicht vorhersehbaren Zusammenstoß mit einer besonders gefährlichen Quallenart. Alternierend erzählt sie die Zeit direkt vor und nach seinem Tod sowie die Monate danach, in denen sie weiter reist und dabei versucht, ihren weiteren Lebensweg zu finden.

In ihrer Erzählung konzentriert sich die Autorin sehr auf ihre inneren Zustände. Das ist verständlich, geht es doch in erster Linie um die Trauerbewältigung. Das obige Zitat bezieht sich auf ihre Reise ins damals (2002/2003) nachkriegsgebeutelte und von Minenfeldern umzingelte Sarajevo. Als Frau alleine in eine solche Gegend zu reisen, ohne lokale Sprachkenntnisse, in einer Zeit, als das Internet gerade in speziellen Cafés zu finden war, erscheint als großes Risiko. Falls ihr auf dieser Reise mehr zugestoßen ist, als nur die Begegnung mit einem Exhibitionisten in Budapest, erwähnt sie es nicht. (Dass diese Erfahrung unangenehm war, möchte ich nicht schmälern, es ist jedoch bei Weitem nicht das Schlimmste, das einer allein reisenden Frau passieren kann.)

Es sind jedoch nicht nur die großen Probleme, die einen allein auf Reisen befallen, ich hätte gerne mehr erfahren über die alltäglichen Dinge. Aber vielleicht denkt eine Frau, die bereits so viele Reisen unternommen hat, nicht mehr darüber nach, allein in einem fremden Land in ein Café zu gehen, in dem ausschließlich Männer sitzen. Das Fehlen von Sprachkenntnissen und damit die Möglichkeit, sich mit anderen zu verständigen, beschreibt sie zuerst als Erleichterung. Auf den ersten Blick als Fremde identifiziert zu werden, nicht dazu zu gehören, macht ihr nichts aus, es scheint sie von Erwartungen, die sie nicht zu erfüllen vermag, zu befreien.

Vielleicht ist das der große Vorteil, wenn man allein verreist. Es gibt keine persönlichen Erwartungen mehr, niemanden, dessen Erwartungen man entsprechen muss. Auf die Erwartungen der Gesellschaft lässt sich ohnehin großteils verzichten. Für mehr Reisen im Alltag. Auch ohne die Lebenskrise davor.

Everything was different, and there were times when every step did feel like an ordeal. But there’d also been the moments of kindness and beauty I’d never anticipated. There were moments when nothing seemed to make sense, and moments I wouldn’t truly understand for many years.

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Roman

Katherine Dunn – Geek Love

Jeder Versuch, diese Geschichte in kürzere Worte zu fassen, als exakt die Worte, die das Buch lang ist, muss unweigerlich scheitern. Mehr Einleitung sollte es hier nicht brauchen.

Das Buch erzählt auf zwei Zeitebenen die Geschichte der Familie Binewski, die als [Zirkus|Karneval|Freak Show] durch die USA reist. Die Eltern Al und Lil – beide als Normalos geboren. Die Kinder – jedes auf seine eigene Art besonders, im Sinne von nicht der Norm entsprechend. Die Vorzeichen sind hier umgekehrt: Besonders zu sein bedeutet herausragend, Normalsterbliche werden bedauert, die Binewski-Kinder haben kaum Kontakt zu Menschen außerhalb ihrer kleinen Welt.

Daraus resultiert auch ein besonderes Moralverständnis. Die Binewski-Kinder wetteifern um die Gunst des Publikums und der Eltern. Sie haben nur einander und das Publikum. Arturo, der älteste Bruder – geboren ohne Arme und Beine und als Aqua Boy berühmt geworden – entwickelt sich Stück für Stück zum Diktator, der seine Geschwister tyrannisiert und seinen eigenen Kult gründet. Eine Religion für Menschen, die so sein wollen wie er. Also ohne Arme und Beine. Abhängig von der Hilfe anderer.

Eines der Elemente, das diesen Roman gleichzeitig so furchterregend und spannend macht, ist die Leichtigkeit, mit der schlimmste Körperverletzungen als normal beschrieben und nicht hinterfragt werden. Experimente an menschlichen Körpern gehören zum Alltag. Der Familienzusammenhalt steht über allem. Bis zu dem Tag, als das Maß voll ist und der jüngste Bruder explodiert …

Ein besonderes Buch, mehr kann ich nicht sagen. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich auf diese schräge Welt einlassen konnte. Es ist notwendig, aber gleichzeitig schwierig und schmerzhaft, die vermeintliche Normalität hinter sich zu lassen und die veränderten Gesetze einer anderen Gesellschaft zu akzeptieren. Normalität ist immer das, was der Einzelne kennt. Normalität ist das Gegenteil des Unbekannten.

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Roman

Gayle Forman – Just one year

I have wondered: If you could know going in that twenty-five years of love would break you in the end, would you risk it? Because isn’t it inevitable? When you make such a large withdrawal of happiness, somewhere you’ll have to make an equally large deposit. It all goes back to the universal law of equilibrium.

Fortsetzungen können nie so gut sein wie das Original, das trifft auch auf diese Fortsetzung von Just one day zu. Es kann wohl kaum als Spoiler gelten, dass Willem im ersten Teil Allyson natürlich nicht absichtlich sitzen hat lassen. Am Ende des ersten Teils wissen wir bereits, dass er im Krankenhaus war, dass ihn irgendetwas gehindert hat, zurückzukommen. Im zweiten Teil erfahren wir den Rest der Geschichte aus Willems Sicht und seine eigene Entwicklung in diesem Jahr bis zu dem Moment, als Allyson plötzlich vor seiner Wohnungstür steht.

Tatsächlich erlebt Willem in seinem Leben eine im Vergleich zu Allyson umgekehrte Veränderung. Während Allyson sich von ihrer Familie (bzw. von ihrer überbehütenden Mutter) ablöst, findet Willem einen neuen Zugang zu seiner Mutter. Der rastlose Reisende wird zum Suchenden und findet schließlich etwas ganz anderes, als er selbst denkt und als der Leser erwartet. Auch das Ende ist gelungen, obwohl ich mir wirklich sehr einen Epilog (oder ein weiteres Buch) gewünscht hätte.

It’s like that moment of pause when I step out of a train station or bus station or airport into a new city and it’s nothing but possibility.