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Roman

Charles Scott Richardson – Das Ende des Alphabets

Der Protagonist Ambros Zephyr erhält eine niederschmetternde Diagnose: er leidet an einer unbekannten und daher unbehandelbaren Krankheit. Es bleibt ihm noch ein Monat zu leben. Sein erster Impuls lässt ihn eine Reise planen, Orte von A bis Z will er in dem verbleibenden Monat gemeinsam mit seiner Frau Zipper besuchen. Im Hinblick auf meine letzte Reise (Polen, 3 Städte in 8 Tagen) musste ich unwillkürlich daran denken, wie unmöglich dieses Vorhaben ist und was für eine anstrengende Art, seine letzte verbliebene Zeit auf Erden zu verbringen.

Zu dieser Erkenntnis gelangen auch Ambrose und Zipper. In Rückblenden wird die Geschichte ihrer Liebe erzählt, was sie zusammengebracht hat, was sie trennt, was die Verbindung zwischen ihnen ausmacht. Das Buch entspricht im Großen und Ganzen dem, was man sich von der Thematik erwarten würde: eine Meditation darüber, was ein Menschenleben ausmacht und was im Leben wirklich wichtig ist.

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Roman

Muriel Barbery – The Elegance of the Hedgehog

People aim for the stars, and they end up like goldfish in a bowl. I wonder if it wouldn’t be simpler just to teach children right from the start that life is absurd.

Zwei besondere Protagonistinnen bevölkern diese Geschichte: Madame Michel arbeitet als Concierge in einem von reichen Menschen bewohnten Haus. Sie beschäftigt sich mit Literatur, Philosophie und Kunst, versteckt jedoch ihre Intelligenz hinter dem einfachen Benehmen, das ihrer Meinung nach einer Concierge zusteht. Die zweite Protagonistin ist die zehnjährige Paloma. Wie Madame Michel ist sie deutlich intelligenter als ihre Familie annimmt und will sich daher nicht mit den Banalitäten des „normalen“ Lebens ihrer Eltern und ihrer Schwester befassen. Sie versteckt sich und plant ihren baldigen Selbstmord.

In diese Anfangssituation platzt der Tod eines Bewohners und kurz danach die Ankunft des Nachmieters. Für beide Protagonistinnen steht damit eine große Veränderung ins Haus. Madame Michel wird herausgefordert, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen (und diese hinter sich zu lassen) während Paloma nach dem Sinn des Lebens und ihrer eigenen Zukunft sucht. Eine bittersüße Geschichte mit einem überraschenden Ende.

What does Art do for us? It gives shape to our emotions, makes them visible and, in so doing, places a seal of eternity upon them, a seal representing all those works that, by means of a particular form, have incarnated the universal nature of human emotions.

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Roman

Gayle Forman – Just one day

I wait for the fist of devastation, the collapse of a year’s worth of hopes, the roar of sadness. And I do feel it. The pain of losing him. Or the idea of him. But along with that pain is something else, something quiet at first, so I have to strain for it. But when I do, I hear the sound of a door quietly clicking shut. And then the most amazing thing happens: The night is calm, but I feel a rush of wind, as if a thousand other doors have just simultaneously flung open.

Es könnte nur eine banale Lovestory sein, aber es ist so viel mehr. Allyson lernt Willem kennen und entschließt sich spontan, mit ihm für einen Tag nach Paris zu reisen. Für Allyson ist diese Entscheidung untypisch, etwas Besonderes, eine Ausnahme, sie lebte bisher ein geordnetes Leben weitgehend ohne Überraschungen. Dieser eine Tag in Paris steckt hingegen voller Überraschungen, immer wieder zweifelt Allyson. Und steht am Ende allein da. Willem ist weg, Allyson hat all ihr Geld bereits verbraucht und muss verzweifelt um Hilfe rufen.

Hier könnte das Buch auch zu Ende sein, jedoch das war nur das erste Drittel. Was passiert nach diesem einen besonderen Tag? Allyson beginnt ihr Studium am College, findet jedoch keinen Zugang, weder zu ihrem alten Ich noch zu ihrem neuen Ich, das sie an diesem einen Tag in Paris geworden sein könnte. Ziellos treibt sie umher und versucht, der Frage auszuweichen, was passiert ist und ob ihre Gefühle für Willem ein Fehler oder eine Illusion waren. Gegen Ende des Buches dachte ich mir immer wieder: „Das kann nicht sein, es kann unmöglich zu Ende gehen, ohne dass wir Willems Seite der Geschichte erfahren.“ Kann es doch: es gibt eine Fortsetzung Just one year, die die Geschichte aus Willems Sicht weitererzählt.

Es könnte nur eine banale Lovestory sein, aber es ist so viel mehr. Allyson lernt, dass mehr in ihr steckt, als sie bisher dachte, dass sie nicht gefangen ist in bisherigen Vorstellungen, sondern dass sie diese über Bord werfen kann, wenn sie nur mutig genug ist und sich der Herausforderung stellt. Dieser Tag in Paris war dafür nur der Auslöser. Eine herrlich erzählte Coming-of-age-Story, die mich einige Stunden Schlaf gekostet hat.

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Roman

Hervé le Tellier – Neun Tage in Lissabon

Eine der unausgesprochenen Regeln des Romans sollte sein, dass jede Tür, die im Laufe des fiktionalen Geschehens geöffnet wurde, am Ende wieder geschlossen wird. Das wäre der Akt der Höflichkeit gegenüber dem Leser, für den nichts im Dunkeln bleiben sollte. Leider lässt sich diese Regel nur sehr schlecht mit den realen Bedingungen des Lebens vereinbaren, in dem nichts so klar ist, in dem nichts hermetisch verschlossen bleibt.

Der Ich-Erzähler Vincent beschreibt einen Arbeitstrip mit seinem Kollegen Antonio. Gemeinsam sollen sie über den Prozess an einem mutmaßlichen Serienmörder berichten. In diesem Rahmen reiht der Autor eine manchmal etwas willkürliche Kaskade an Personenbeschreibungen aneinander. Zumeist sind es Frauen, die alle auf ihre Art mit Vincent und seiner Fantasie spielen. Der Leser lernt die exaltierte und faszinierende Aurora kennen, die nach einer Liebesnacht mit Vincents Kollegen Antonio ein Geigenstück und ein Gedicht vor dem Restaurant zum Besten gibt, in dem Vincent und Antonio soeben mit Irene zu Abend essen. Irene, für die Vincent eine so glühende Verehrung verspürt, dass sie ihn praktisch nur auflaufen lassen kann, um sich stattdessen mit dem sprunghaften und unzuverlässigen Antonio einzulassen. Schließlich Manuela, die erfrischend spontan als Vincents erfundene Liebschaft einspringt, um Irene eifersüchtig zu machen.

All diese spannenden Frauenfiguren lassen die Herren im Nebel versinken, lassen ihre Gefühle (oder das, was sie dafür halten) unreif und nebensächlich wirken. Die oben mit dem ersten Absatz des letzten Kapitels angedeutete Auflösung der begonnenen Lebensgeschichten geht diesen Weg konsequent zu Ende. Ein Roman mit einem interessanten Ansatz, der nicht so einfach zu fassen ist.

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Roman

Ellen Sussmann – An einem Tag in Paris

Dieser Roman beschreibt den lebensverändernden Tag von drei Privatlehrern und ihren Schülern in Paris. Alle Schüler sind mit ihrem Leben unzufrieden, manche haben dazu mehr Grund, andere weniger. Durch gefinkeltes Lenken ihrer Figuren gelingt es der Autorin, alle Personen am Ende des Tages am selben Ort zusammenzubringen, wo sie sich jedoch nicht begegnen und doch irgendwie zusammen sind. Angenehm plätschernde Unterhaltungsliteratur mit nicht völlig belangloser Geschichte.

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Roman

Milan Kundera – Das Fest der Bedeutungslosigkeit

Jetzt erscheint mir die Bedeutungslosigkeit in einem ganz anderen Licht als damals, die Bedeutungslosigkeit, mein Freund, ist die Essenz der Existenz. Sie ist überall und immer bei uns. Sie ist sogar dort gegenwärtig, wo niemand sie sehen will: in den Gräueln, in den blutigen Kämpfen, im schlimmsten Unglück.

Auf eine sehr schräge Art stellt auch dieser Roman die Frage nach dem Sinn des Lebens. Milan Kundera beschreibt eine Reihe von Begegnungen, die per definitionem bedeutungslos sind, aber eben das normale Leben ausmachen. Metaphorisches Beispiel dafür ist etwa die Jagd nach einer durch die Luft wirbelnden Feder, die ein Rudel an Partygästen mehrere Minuten lang bedeutungslos in die Luft starren lässt.

Aber es geht nicht nur darum, sie zu erkennen, man muss sie lieben, die Bedeutungslosigkeit, man muss lernen, sie zu lieben.

Das (relativ plakative) Fazit: wenn wir den einzelnen Momenten des Lebens zu viel Bedeutung beimessen, hindert uns das daran, unser Leben in seiner ganzen Bedeutungslosigkeit zu genießen.

Atmen Sie, D’Ardelo, mein Freund, atmen Sie diese Bedeutungslosigkeit ein, die uns umgibt, sie ist der Schlüssel zur Weisheit, sie ist der Schlüssel zur guten Laune.

Reading Challenge: A book with bad reviews

NZZ

Goodreads

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Theaterstück

Yasmina Reza – Der Gott des Gemetzels

Für die Reading Challenge musste ich auch ein Theaterstück auswählen und entschied mich für Yasmina Reza. An die Trailer zur Verfilmung von Roman Polanski kann ich mich noch einigermaßen erinnern, da wurden natürlich die drastischen Szenen aus der zweiten Hälfte des Stückes verwendet.

Meine Erinnerung scheint mich zu trügen, ich hatte gemeint, mich zu erinnern, dass wir in meiner zweiten Episode mit dem Theater der Jugend einmal ein Stück von Yasmina Reza dabei hatten, kann jedoch keine Erinnerungsfetzen an Ein spanisches Stück finden. Möglicherweise hatte ich auch an diesem Termin gerade keine Zeit.

Véronique: Wir versuchen, sie zum Lesen zu bringen. Wir nehmen sie in Konzerte und Ausstellungen mit. Wir sind so naiv, an die zivilisierende Kraft der Kultur zu glauben!

Alle 4 Protagonisten des Stückes sind auf ihre Art unsympathisch, wobei ich schon sagen muss, dass Alain deutlich mehr Unsympathie auf sich zieht, als etwa die dem zivilisierten Umgang huldigende Veronique. Die Elternpaare treffen sich, um den Umgang mit einer Prügelei ihrer Söhne zu besprechen und geraten darüber selbst in einen Streit, der sogar mit Tätlichkeiten endet und die zerrütteten Familienverhältnisse bloß stellt. Auf Papier plätschert das Ganze irgendwie vorbei, auf der Bühne stelle ich es mir kurzweilig vor.

Reading Challenge: A play

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Roman

Evelyn Schlag – Architektur einer Liebe

Noch ein Buch, das ich speziell für die Reading Challenge ausgewählt habe: A book written by an author with your same initials. Der Einfachheit halber habe ich mich auf der Wikipedia durch die Liste österreichischer Autoren geklickt und mal geschaut, was die so geschrieben haben. Nachdem ich einige in Frage kommende Autoren ausgeschlossen hatte (Gedichte sind einfach nicht so meins und halbwegs modern durfte es schon auch sein), stieß ich auf Evelyn Schlag. Der Titel war schon mal interessant, weil Architektur und Liebe in meiner Vorstellung eigentlich eher gegensätzlich sind. Mit Architektur verbinde ich ein Gefühl von Kälte, von harten Linien, das Zeichnen auf dem Reißbrett. Im Gegensatz dazu stellt man sich unter Liebe im Allgemeinen etwas Flauschiges vor, ein wärmendes Gefühl, das einem Sicherheit gibt. Selbstverständlich haben beide Begriffe auch jeweils eine andere Seite, wie mir dieser Roman in Bezug auf die Architektur auch klar machte. Architektur kann genauso etwas Lebendiges, Organisches sein, sie wirkt sich massiv auf die Gefühle aus, die Menschen an einem bestimmten Ort empfinden. Genauso hat wiederum die Liebe auch eine dunkle Seite, Verlassenwerden, die geliebten Menschen vermissen, Unsicherheit und viele weitere Facetten.

Dieser Roman verbindet zwei Architekten durch den Zufall miteinander. Vittoria Monti besucht St. Petersburg, da sie auf die Teilnahme am Wettbewerb für den Bau eines neuen Theaters hofft, Wolf Lewinter wegen eines Auftrags, ein Restaurant zu gestalten. In ihrer Architekturkarriere stehen sie auf zwei völlig unterschiedlichen Ebenen. Sie treffen sich zufällig in der Eremitage und teilen einen perfekten Moment, bevor sie auseinandergehen, ohne einander angesprochen zu haben. Einige Wochen später erkennt Wolf die unbekannte Frau aus dem Museum auf dem Podium eines Architektursymposiums in Philadelphia wider, diesmal will er sie nicht gehen lassen.

Die Perspektive wechselt immer wieder, wir lernen Torias Welt kennen, ihre Familie, die ein dunkles Geheimnis birgt. Wolf wiederum lebt als Teilzeitvater mit seinem elfjährigen Sohn Christoph und zweifelt schnell sowohl an seiner Karriere als auch an der Möglichkeit, mit der berühmten Architektin Vittoria Monti eine langfristige Fernbeziehung aufrecht erhalten zu können.

Einen Überraschungsauftritt hat der russische Dichter Joseph Brodsky:

„War der Westen Athen, so war Petersburg im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts Alexandria.“

Überraschend deshalb, weil er mir erst kürzlich schon in Skippy stirbt begegnet war. Und dieses Zitat passt hier einfach perfekt als Schlusssatz:

Ein gewisser Brodsky hat einmal gesagt: Wenn es denn einen Ersatz für die Liebe gibt, dann ist es die Erinnerung.

Reading Challenge: A book written by an author with your same initials
(Nach etwas mehr als 7 Monaten des Jahres habe ich die Hälfte geschafft. So ein bißchen Wettkampfgeist ist ja schon dabei … noch 5 Monate Zeit, um aufzuholen.)

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Roman

Kristin Harmel – Solange am Himmel Sterne stehen

Ich rieche backendes Brot, sich färbendes Herbstlaub und einen schwachen Geruch von Feuer, während ich durch die Straßen gehe, und ich atme tief durch, denn es ist eine Mischung, die ich nicht gewohnt bin. Kleine Torbögen, Fahrräder, die an Steinmauern lehnen, und fast versteckte, umzäunte Gärten rufen mir in Erinnerung, dass ich an einem Ort bin, der mir fremd ist, aber irgendetwas an Paris kommt mir dennoch sehr vertraut vor.

Poetisch, mitreißend, eine Liebesgeschichte, eigentlich sogar mehr als eine, eine starke, an sich selbst zweifelnde, weibliche Heldin. Trotzdem kein dummes Frauenbuch.

Eine auch nur ansatzweise Nacherzählung würde zu weit führen, so unheimlich weit verzweigt sind die Familienverhältnisse und Geschehnisse, die die Autorin in ihrem Roman Stück für Stück enthüllt. Eine alte Frau leidet unter Alzheimer. Ihre Vergangenheit im zweiten Weltkrieg hat sie bisher für sich behalten, nicht mal ihre Enkeltochter und ihre Urenkelin wissen, dass sie einer jüdischen Familie in Paris mit polnischen Wurzeln entstammt. An einem guten Tag kehrt ihr Gedächtnis zurück und sie bittet ihre Enkelin, nach den lange vermissten Verwandten zu suchen.

Durch die ganze Geschichte weht stets der Duft von Gebäck. Zwischen den Kapiteln finden sich Rezepte für traditionelle polnisch-jüdische, aber auch muslimische Gebäckstücke, die Rose aus ihrer Zeit aus Paris mitgebracht hat. Freundschaft und Liebe entfalten sich kontinuierlich. Mit dem Aufdecken der Vergangenheit verbessert sich auch die angespannte Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Enthalten ist auch ein feinfühliges Porträt einer Jugendlichen, die unter der Scheidung ihrer Eltern leidet.

Ein nach Zimt und Zuckerguss duftender Wohlfühlroman mit ernsthaftem Hintergrund. Gut recherchiert, vielleicht eine Spur zu optimistisch, manche Wendungen vorhersehbar, aber doch so angenehm zu lesen, dass der Winter für ein paar Stunden etwas wärmer wird.

„…, du kannst nicht dein Leben lang nach allen Regeln leben und immer nur das tun, was andere Leute von dir erwarten, ohne an dich selbst zudenken, okay? Dann wachst du nämlich eines Tages mit achtzig oder so auf und begreifst, dass das Leben an dir vorbeigegangen ist.“

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Roman Theaterstück

Michel Houellebecq – Karte und Gebiet

Noch nie hatte er etwas so Herrliches gesehen, das so reich an Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte der Departements Creuse und Haute-Vienne im Maßstab 1:150.000. Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen. Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben.

Im Jänner dieses Jahres war ich mit Freunden in der Garage X im Theaterstück „Karte und Gebiet“, das auf diesem Roman beruht. Der Vorschlag kam von Freundin K. Eigentlich hatte ich im Anschluss zeitnah das Buch lesen wollen, natürlich dauerte es dann doch wieder einige Monate. Einerseits kam immer wieder irgendein anderes Buch dazwischen, andererseits habe ich dann auch mehrere Wochen gebraucht, bis ich mit diesem Monumentalwerk durch war.

Der Kontrast war frappierend: Während auf dem Satellitenfoto nur eine Suppe aus mit verschwommenen bläulichen Flecken übersäten, mehr oder weniger einheitlichen Grüntönen zu erkennen war, zeigte die Karte ein faszinierendes Netz von Landstraßen, landschaftlich schönen Strecken, Aussichtspunkten, Wäldern, Seen und Pässen. Über den beiden Fotos stand in schwarzen Lettern der Titel der Ausstellung: „Die Karte ist interessanter als das Gebiet.“

Der Roman beschreibt das Leben des Künstlers Jed Martin. Für seinen Ausstellungskatalog braucht er ein Vorwort und sein Galerist schlägt den Autor Michel Houellebecq vor. Der Autor lässt sich also in seinem eigenen Buch auftreten. Man darf spekulieren, dass es sich um eine Kunstfigur handelt, die allgemein den Typus eines gealterten, desillusionierten Autors darstellt. Oder man versteht es als eine Persiflage der Autorenschaft im Allgemeinen.

„Jed Martin hat zwischen der mystischen Vereinigung mit der Welt und der rationalen Theologie seine Wahl getroffen. Er hat vielleicht als Erster in der westlichen Kunst seit den großen Malern der Renaissance den nächtlichen Versuchungen der Hildegard von Bingen die schwierigen, aber klaren Lehren des ,stummen Ochsen’, wie Thomas von Aquin von seinen Mitschülern an der Kölner Klosterschule genannt wurde, vorgezogen. Auch wenn diese Wahl natürlich anfechtbar ist, steht die hohe Gesinnung, die sie impliziert, außer Zweifel.…“

Das obige Zitat aus einem von Jeds Ausstellungskatalogen gibt gut wieder, wieso der Roman streckenweise schwer zu lesen ist. Seitenlang ergeht sich der reale Autor in Detailbeschreibungen von Architektur (Jeds Vater war als Architekt tätig, sein Erfolg in jungen Jahren mündete jedoch in den Bau von Standard-Ferienwohnanlagen und ein vereinsamtes Ende in einem Euthanasieressort in der Schweiz), Kunst und Schriftstellertum. Jeds Werke unterschiedlicher Gattung werden ausführlich beschrieben, gerade die Verbindung der unterschiedlichen Medien bei den Michelin-Karten oder auch bei Jeds Spätwerken wird zu einer künstlerischen Höchstleistung stilisiert.

„Auch wir sind Produkte“, fuhr er fort, „kulturelle Produkte. Auch wir sind eines Tages überholt. Dieser Prozess spielt sich auf die gleiche Weise an – nur mit dem Unterschied, dass es bei uns im Allgemeinen keine eindeutige technische oder funktionale Verbesserung gibt; nur die Forderung nach Neuheit bleibt, und zwar im Reinbestand.

Zu Beginn hat mich der Roman schon an das im Theater Erlebte erinnert, der Besuch lag inzwischen schon einige Zeit zurück, aber Jeds Entwicklung – vor allem seine Beziehung zu Olga – und das gespaltene Verhältnis zu seinem Vater waren mir in Erinnerung geblieben. Die Geschichte fühlte sich wie ein alter Freund an.

Ein Menschenleben ist im Allgemeinen nur eine Kleinigkeit, es lässt sich in wenigen Ereignissen zusammenfassen, und diesmal hatte Jed die Verbitterung und die verlorenen Jahre, den Krebs und den Stress und auch den Selbstmord seiner Mutter wirklich begriffen.

Und doch ist mir ein Rätsel, wie ein Regisseur glauben konnte, diesen Roman auf die Bühne bringen zu können. Gerade der letzte Teil, in dem der fiktive Autor Houellebecq von einem Mörder bizarr niedergemetzelt wird, wurde auf der Bühne sehr abgehoben dargestellt. Wofür im Roman nicht mit Worten gespart wurde, musste auf der Bühne zwangsweise verkürzt präsentiert werden.

Vielleicht macht sich der reale Autor Houellebecq einfach über das ganze Kunst-Business lustig. Jed steht zwischen seinem kapitalistischen Vater und dem fiktiven Autor Houellebecq, der die Kunst (und deren Verfall) symbolisiert. Und mit dem teuren Verkauf seiner Bilder verbindet Jed schließlich beides. Und gerät deshalb in eine Identitätskrise? Im letzten Teil des Buches wird Jed zum Einsiedler, wie es der fiktive Autor in seiner Zeit in Irland ebenso war. Bleibt dem Künstler nur die Einsamkeit, um wirklich herausragende Kunst schaffen zu können? Das Bild „Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf“, an dem Jed scheitert und daraufhin mit dem Porträt des fiktiven Autors seine Porträtserie beendet, kann ebenso als Persiflage des „kulturellen Produkts“ an sich verstanden werden.

… die Welt war alles andere als ein Gegenstand künstlerischer Emotionen, die Welt stellte sich eindeutig als ein rationaler Bezugsrahmen ohne jede Magie und ohne besonderes Interesse dar.