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Roman

Erlend Loe – Die Tage müssen anders werden, die Nächte auch

Helsinki Lutheran Cathedral

Ich setze mich auf eine Bank und schaue mir die Liste genau an. Lange. Eine ehrliche Liste ist das. Ich bin zufrieden mit ihr. Vielleicht gibt es so ein Ding, vielleicht auch nicht. Nicht so wichtig. Wichtig ist die Liste. Die ist eine Entdeckung für mich. Sie ist wertvoll.

Dieses Buch wurde mir von einer nahestehenden Person als „absolutes Lieblingsbuch“ präsentiert, da gerät man natürlich in den Verdacht, eine positivere Wertung abzugeben. Allerdings wurde mir schnell klar, wieso die nahestehende Person sich in diesem Buch offenbar wiederfindet. Der Ich-Erzähler befindet sich in einer unzufriedenstellenden Situation, in der er sich nicht in der Lage sieht, weiterzuleben. Obwohl er keine gröberen Katastrophen erlebt hat, er hat Familie, Freunde, Studium und leidet keine Not, ist er mit seinem Leben unzufrieden und wünscht sich Veränderung. Und wer kann wohl von sich behaupten, dass er noch nie in dieser Situation war?

Auf einmal könnte ich die großen Zusammenhänge überblicken. Alles mögliche durchschauen. Schlüsse ziehen über die Welt und die Menschen. Ich wäre zu Selbstbeherrschung fähig und dazu, aus anderen das Beste herauszuholen, lauter so Zeug. Dann würde der Meister zu mir sagen, jetzt hätte er mir nichts mehr beizubringen, und dann würde er mir etwas schenken.

Er sucht nach dem Überblick, nach dem Wissen, wie das Leben funktioniert, nach einer Freundin. Zur Entspannung wirft er einen Ball gegen eine Wand oder hämmert auf einem Hämmerbrett. Was sich als entspannender erweist, als man sich vorstellen kann. Mich macht allein die Vorstellung von dem Hämmergeräusch irre. Von der Nutzlosigkeit dieser Tätigkeit ganz zu schweigen. Aber in manchen Situationen ist es wohl notwendig, sich mit Nutzlosem abzulenken, um sich nicht von der Größe des Universums erdrücken zu lassen.

Ein Brief an einen Autor, der sich mit dem Thema Zeit beschäftigt, bleibt unbeantwortet. Gerade berühmte Wissenschaftler haben keine Zeit (!), sich mit solchen Fragen zu beschäftigen geschweige denn Briefe zu beantworten. Anhand des Empire State Buildings, auf dessen Spitze die Zeit aufgrund der Erdrotation schneller (oder war es langsamer?) vergeht als unten, stellt der Protagonist schließlich fest, dass es eigentlich keine Zeit gibt. Aus irgendeinem Grund macht ihn diese Erkenntnis unheimlich glücklich und befreit ihn von allen Zwängen, denen er sich bisher ausgesetzt sah. Aber macht das überhaupt einen Unterschied?

Zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit habe ich das Gefühl, dass alles passieren darf. Heute bin ich aufgewacht und habe gedacht, alles darf passieren, die Dinge kommen einfach auf mich zu, und sie sind gut.

Auch ein weiteres Prinzip im Sinne der Selbstfindung kommt hier zur Anwendung: Die gewohnte Umgebung verlassen. Die Reise zu seinem Bruder nach New York eröffnet dem Protagonisten so manche neue Erkenntnisse. Reisen bildet nicht nur, es lässt einen die Welt schlicht aus anderen Perspektiven sehen. Und so kommt man manchmal auch darauf, was im Leben eigentlich wirklich wichtig ist.

Komisch, dass ich erst nach Amerika reisen musste, um darauf zu kommen.

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Roman

Amanda Stehrs – Schweine züchten in Nazareth

Pflanze Silhouette made with CAM+

Letzte Woche saß ich im Zug (ich lebe in Flugzeugen oder in Zügen, in denen ich neue Stücke schreibe, derentwegen ich wieder Flugzeuge und Züge nehmen muss). Da waren zwei ausgelassene Kinder, die sich ein Sandwich geteilt haben. Das jüngere Kind versuchte das Stück des Bruders aufzuessen, der mit seiner Gabel lauerte und so tat, als würde er nicht zögern, den anderen aufzuspießen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die beiden gelacht haben. David an seine Schwester Annabelle

Briefromane fand ich schon immer attraktiv. Es sind überschaubare Häppchen, man kann die Lektüre jederzeit unterbrechen. Hier schreibt sich eine zerrüttete Familie wild durcheinander Briefe und E-Mails. Daraus ergeben sich Geschehnisse, die jede einzelne Person in aller Deutlichkeit charakterisieren.

Wir haben noch nie wirklich miteinander reden können. Bei dir weiß ich nicht, wie das geht. Schon als du klein warst, hast du mir Angst eingejagt. Monique über ihre Tochter Annabelle

Es ist irgendwie seltsam, dass die Personen hier in den Briefen alles gerade heraus schreiben, was man normalerweise sorgfältig zwischen den Zeilen versteckt. Weil man einerseits hofft, dass der Empfänger sowieso blind versteht, was man denkt und fühlt und andererseits darauf wartet, dass der andere zuerst seine Gefühle offenbart.

Wenn das reale Leben seine Geschichte überholt, ist David verloren. Er setzt Geschichten oben drauf. Eine Sandburg bauen, um die Welle ungeschehen zu machen. Ohne daran zu denken, dass die nächste kommen wird. Annabelle über ihren Bruder David

Zeitweise wird es dann zu poetisch, um noch glaubwürdig zu sein. Wenn die Sandburgen in den Wellen aus der Feder des Schriftstellers kämen, würde man als Leser vermutlich überbordende Fantasie als Charaktereigenschaft identifizieren. Bei der flatterhaften Schwester, die verzweifelt nach Liebe sucht, scheint es mehr ein kitschiges Luftschloss zu sein.

Ich will frei sein, befreit von dir, von Papa und Annabelle. Ich nehme an, es ist nicht möglich. Ihr seid meine Gefangene und ich bin euer. Wir sind eine Familie. Eine Familie, die sich schreibt, die sich nicht berührt, die keine Kochgerüche in der Küche des anderen einatmet, aber dennoch eine Familie. David an seine sterbende Mutter

Vater Harry lebt entgegen der jüdischen Gesetze in Israel und züchtet dort Schweine. Er kann die Homosexualität seines Sohnes nicht akzeptieren und hat daher den Kontakt zu diesem abgebrochen. Tochter / Schwester Annabelle sucht nach einem Fixplatz in dieser Welt und bleibt letztlich ohne Mann an der Seite ihrer sterbenden Mutter zurück. Die sprachlose Mutter Monique, der die Zeit schließlich davonläuft. Leseempfehlung.

NOTE: Es hat sich wiederum eine neue Quelle erschlossen. Bei den Büchereien Wien kann man jetzt auch ebooks ausleihen. Das Angebot ist bis dato nicht überragend, aber auch nicht zu verachten, ich habe auf Anhieb drei (aktuelle) Bücher gefunden. Das hier besprochene war sofort verfügbar, ein weiteres habe ich vorbestellt und wenige Tage später bekommen. Die Jahreskarte kostet 22 Euro (Ermäßigungen natürlich für Schüler, Studenten und andere Begünstigte), für iPhone und iPad gibt es ein Ausleih-App, zum Lesen benötigt man dann den Bluefire Reader, der mit dem verwendeten Adobe DRM umgehen kann. Die Experience ist nicht zu bejubeln, aber auch nicht zu beweinen, das Umblättern im Bluefire Reader ist nicht ganz so soft wie bei Kindle App oder iBooks, aber ok. Im weiteren Sinne des Einsparens von Papier werde ich mich auch dieses Angebots weiter bedienen. Wenn ich dort nur drei Bücher im Jahr ausleihe (die ich sonst kaufen würde), hat sich der Jahresbeitrag schon gelohnt.

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Roman

Jonathan Safran Foer – Extrem laut und unglaublich nah

Rote Blätter in der untergehenden Herbstsonne / made with Cam+

Inzwischen ist es anders, aber früher war ich Atheist, und das bedeutet, dass ich nur an Dinge gelglaubt habe, die ich auch sehen konnte. Ich habe geglaubt, wenn man tot ist, ist man tot und fühlt nichts mehr und träumt auch nichts mehr. Es ist auch nicht so, dass ich jetzt an etwas glauben würde, das ich nicht sehen kann, bestimmt nicht. Inzwischen glaube ich eher, dass alles unglaublich kompliziert ist.

Während Jonathan Safran Foer im Jahr 2011 hauptsächlich mit seinem Sachbuch Eating Animals Schlagzeilen machte, griff ich zu seinem bereits 2005 veröffentlichten Roman Extrem laut und unglaublich nah. Protagonist der Geschichte ist Oskar Schell, dessen Vater Thomas bei den Terroranschlägen des 11. September 2001 umgekommen ist. Oskar selbst spricht in diesem Zusammenhang nur vom „schlimmsten Tag“. Ein zweiter Erzählstrang beschäftigt sich mit einer anderen Ebene des Familienstammbaums der Schells. Seinen Großvater hat Oskar nie kennengelernt, denn dieser verließ seine Frau bereits vor der Geburt von Oskars Vater. Oskars Großvater hat also seinen nun verstorbenen Sohn nie kennengelernt. Erst die Katastrophe führt die Familie näher zusammen.

Oskar selbst erinnert mich an eines der Winterbücher des Vorjahres: Die Karte meiner Träume. Oskar ist ein hochintelligenter Junge, der sich mit vielen Themen ernsthaft auseinandersetzt. Er schreibt regelmäßig Briefe an Stephen Hawking mit der Bitte, sein Assistent werden zu dürfen, enthält jedoch immer nur Formbriefe als Antwort. Seine Erlebnisse sammelt er in Bildern, die er mit der Kamera seines Großvaters (!) erstellt oder aus dem Internet ausdruckt, in einem Album. Als er im Schrank eine Vase findet, in der sein Vater ihm die scheinbare Nachricht Black zusammen mit einem Schlüssel hinterlassen hat, macht sich Oskar auf die Suche nach dem dazugehörigen Schloss. Sein Ansatz: alle Menschen namens Black abzuklappern und nach der Herkunft des Schlüssels zu befragen.

„Die Welt ist nicht schrecklich“, sagte er und setzte sich eine Maske aus Kambodscha auf, „aber sie wimmelt von schrecklichen Menschen!“

Wenn man solche Geschichten liest, wo ein kleiner Junge nur nette Leute kennenlernt, indem er einfach bei Leuten mit dem Namen Black anlautet, wünscht man sich doch selbst mehr Offenheit im Leben. Nur leider begegnet man in der Realität kaum Menschen, die sich so verhalten würden wie die Blacks in diesem Roman. Und dann scheint es wieder so, als würde der Autor selbst nicht an so nette Menschen glauben.

Weißt du noch, wie wir vor ein paar Wochen Eislaufen waren und wie ich mich abwandte, nachdem ich dir gesagt hatte, ich würde Kopfschmerzen davon bekommen, den Leuten beim Eislaufen zuzuschauen? Unter dem Eis sah ich aufgereiht die Toten liegen.

Selten wurde eine fehlende Person in einer Familie so anwesend gemacht. Das Zusammentreffen von Oskar und seinem Großvater sowie die anschließend ausgeheckte gemeinsame Unternehmung scheinen beiden bei der Überwindung ihrer Traumata zu helfen. Erst als Oskar sich auf diese Weise mit dem Tod seines Vaters auseinandersetzt, kann er auch die Trauer seiner Mutter verstehen.

EDIT: Hier die andere Meinung der Kaltmamsell

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Biografie

William McBrien – Cole Porter

Grossmugl Herbst made with CAM+

Be a clown, be a clown,
All the world loves a clown

Dass diese Feststellung aus einem Cole-Porter-Song nicht stimmt, hat mir der Mann bewiesen, der in einem Fast-Food-Restaurant mit Grabesstimme verkündet: „Hoffentlich kommt kein Clown.“

Ähnlich amüsante (und vermutlich weit spannendere) Anekdoten hat auch die Cole-Porter-Biographie von William McBrien zu bieten. Der Autor vertieft sich in die Lebenswelten des populären Komponisten seiner Zeit und lässt auch seine privaten Probleme nicht außer Acht. Das Verhältnis zu seiner Frau Linda – die Ehe mehr eine Freundschaft als eine richtige Ehe –, seine wechselnden Beziehungen zu Männern, seine gesundheitlichen Probleme nach einem Sturz vom Pferd, die schließlich nach Jahren der Schmerzen zum Verlust des Beins führten.

But then, this is not a review for stupid people. Such would not understand the weltschmerz that must have led the writer of those lines to only seem to scoff at Manhattan by calling it a dirty town, while he really was choking back a wave of deep emotion that insisted on finding expression in the use of “dear” and “old”.

McBrien zitiert unter anderem aus den damaligen Kritiken zu Porters Werken, die ich nicht nur wegen der fantasievollen Schreibe der amerikanischen Rezensenten spannend finde, sondern auch wegen dem wiederholten Einwurf von deutschen Worten, die sich in den amerikanischen Sprachgebrauch eingeschlichen haben wie etwa in diesem Beispiel ”Weltschmerz“. Auch der „Zeitgeist“ begegnet uns immer wieder in allen möglichen Zusammenhängen.

He startet writing a song by selecting a title. “From this title I work out the psychology of the tune. Next I write a lyric backwards, and in this way build it up to a climax … if I can’t find a good climactic line I throw out the tune.“

Auch die Arbeitsweise des Komponisten wird thematisiert. Dies ist vor allem für andere Kreative interessant, ich finde es immer wieder spannend, über die Arbeitsweise anderer zu lesen. Die Enthüllung, dass Cole Porter für seine Texte Reimwörterbücher zu Hilfe nahm, überrascht und beruhigt gleichzeitig. Wenn ein großer Komponist wie Cole Porter manchmal Schwierigkeiten hatte, die Teile zusammenzusetzen, kann das dem eigenen Kreativschaffen etwas den Druck nehmen.

The show opened in Philadelphia on December 2, 1948, and underwent scarcely any revisions. Five minutes of the book were cut to make room for extra choruses of “Brush Up Your Shakespeare“. “No rewriting of the libretto or songs; no songs added or dropped; no trying out of songs in different places … It is the only musical in the history of American musicals that can claim this heavenly distinction.

Ein langes Kapitel befasst sich mit dem größten Hit Cole Porters, dem heute noch oft gespielten Kiss Me, Kate. Ich selbst habe in den letzten Jahren drei Inszenierungen dieses Klassikers gesehen und diese scheinen das obige Zitat zu bestätigen. Die deutsche Version „Schlag nach bei Shakespeare“ wird in jeder Inszenierung bis aufs Mark ausgereizt. Ohne die Gangster würde diese Komödie nicht nur nicht funktionieren, sie wäre wohl niemals über eine Off-Broadway-Bühne hinausgekommen. Meine Beobachtungen haben auch ergeben, dass das Publikum bei diesem Stück häufig aus Nostalgiegründen kommt. Kaum jemand kennt die Geschichte nicht, man kommt eher, um die bekannten Melodien wie das auch außerhalb der Musicalwelt weithin bekannte „Wunderbar“ live gespielt und gesungen zu hören und in Erinnerungen zu schwelgen. Kein anderes Cole-Porter-Musical hat einen ähnlichen Klassiker-Status erreicht, am häufigsten kann man im deutschsprachigen Raum noch Anything Goes sehen.

Really, until Rodgers and Hammerstein, if you had to change a scene, a girl could come out in front of the curtain and sing anything or dance anything … Porter created all of his songs to spring naturally out of the book.

Cole Porter liebte das Theater. Er schuf nicht nur fantastische Melodien, die heute noch verzaubern sondern veränderte mit seinen Werken auch die Musicalwelt an sich. Es wäre zu hoffen, dass heutige Intendanten sich ein Beispiel nehmen und einige seiner weniger bekannten Werke wieder ausgraben und ihnen so zu neuem Leben verhelfen. Nicht, dass My Fair Lady ein schlechtes Stück wäre. Aber es braucht auch mutige Theatermacher, die den Beweis antreten, dass das Musical auch abseits der ausgetretenen Pfade spannende Stücke und Melodien zu bieten hat. Cole Porters unbekannte Werke wiederzuentdecken, wäre da auch einmal ein spannender Ansatz.

Am Rande: ein interessantes Phänomen des Kindle Books zeigt sich hier erstmals: der Autor hat seine Quellen ausführlich dokumentiert, in einem Papierbuch werden diese Quellen üblicherweise mit kleiner Schrift am Ende des Buches zusammengepfercht. Da dürfte beim Umwandeln ins eBook-Format wohl etwas schief gegangen sein, denn die Quellenangaben im eBook umfassen die letzten 20% des Buchs.

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Musical Sachbuch

Olaf Jubin – Entertainment in der Kritik

TimesSquare(c)TiM-Caspary/PIXELIO

„Die Erfahrung, dass ein persönlich empfundenes Schicksal mit dem Schicksal anderer Menschen übereinstimmt, hat etwas Tröstliches. Es lindert den Druck, den wir immer dann spüren, wenn wir meinen, mit unseren Erfahrungen ganz allein zu sein. Die kommunizierende Kraft des Theaters hebt das Gefühl, ein isoliertes Schicksal zu erleiden, weitgehend auf.“ (Hans Joachim Schäfer)

1.152 Seiten. Dreieinhalb Jahre. Den Großteil dieser Zeit ist dieses Werk natürlich halb gelesen irgendwo in der Wohnung herumgegammelt, weil mich die Trockenheit dieser Untersuchung teilweise wirklich körperlich niedergeschlagen hat. Als Abendlektüre vor dem Schlafengehen eignet sich eine Studie zum Thema Musicalkritiken natürlich ebensowenig als wie zur Unterhaltung an einem lauen Sommerabend. Daher habe ich wie gesagt seit März 2007 kontinuierlich an diesem Werk gelesen und für den zweiten Teil habe ich nicht mal mehr so lange gebraucht (was möglicherweise an den Tabellen der Auswertung lag, die ich mir nicht alle im Detail angesehen habe).

Olaf Jubin ist mit dem Genre Musical sichtlich innig verbunden. Jedem Kapital stellt er den Titel eines Musicalsongs zur Überschrift. Das klingt jetzt nicht so gigantisch, wenn man sich jedoch vor Augen führt, dass seine Überschriften oft bis zur siebten oder achten Ebene gehen und er in den Quellenangaben akribisch Songtitel, Stück, Komponist und Lyricist aufführt, so kann man da schon mal Anerkennung zollen.

Als ganz großen Kritikpunkt muss ich die übertriebene Wertlegung auf gender-neutrale Berufsbezeichnungen anführen. Nach meiner Meinung kann man sich auch als Frau als Journalist oder Mitarbeiter angesprochen fühlen und die Beeinträchtigung des Leseflusses stört mich hier vielmehr als eine möglicherweise fehlende weibliche Berufsbezeichnung. Die letzten 50 Seiten des Werkes wären möglicherweise weggefallen (was wiederum Papier sparte), hätte man sich solche Orgien erspart:

Wenn er/sie allerdings nicht gerade die Finanzierung eines Stückes in Angriff nimmt, reduziert selbst ein(e) etablierte(r) ProduzentIn weitestgehend seinen/ihren Mitarbeiterstab und zwar auf eine(n) GeschäftsführerIn, eine(n) Assistenten/Assistentin und eine(n) LektorIn, der/die nach potentiellen Stücken Ausschau hält.

Im ersten Band erläutert Olaf Jubin erst das Genre und dann die beiden zu untersuchenden Komponisten. Dabei stellt er allerhand interessante Überlegungen zum Thema an und wirft geradezu mit Fachwissen und Recherchen um sich.

Das Genre erzielt also Komplexität durch das Zusammenspiel seiner verschiedenen Bestandteile, von denen jeder für sich genommen – und das gilt besonders für das Buch – diese Eigenschaft nur bedingt aufweisen kann: „Simple characters in a musical book can be full and memorable because they have the richness of music, song, and dance to make them alive in performance.“

Aus meiner Erfahrung war ich eigentlich seit langem der Ansicht, dass ein Musical nicht wirklich gut werden kann, wenn die zugrunde liegende Geschichte nicht passt. Hier wird jedoch die These geäußert, dass die Charaktere erst durch das Zusammenspiel aus Tanz und Gesang Komplexität gewinnen. In weiterer Folge wird auch erläutert, dass Uneinigkeit darüber herrscht, ob Musiknummern die Handlung weitertreiben sollen. Brechen die Charaktere überleitungsfrei in Gesang aus, scheinbar ohne einen Anlass, ist das immer wieder Anlass zur Kritik und ergibt im Allgemeinen einen Bruch der Handlung. Andere Journalisten wiederum erwarten Gesang und Geschichte getrennt. Als Überbegriff wird der Begriff „book trouble“ eingeführt:

Aaron Frankel erläutert, dass darunter in erster Linie ein wie auch immer gearteter Bruch zwischen Dialogstellen und Musiknummern gemeint ist: „,Book trouble’ only means that the elements not put to music fail in craft or in imagination to match those which are. The drop from one energy level to the other shows through.“

In weiterer Folge stellt Olaf Jubin im ersten Band die zu besprechenden Komponisten Stephen Sondheim und Andrew Lloyd Webber vor und wirft einen detaillierten Blick auf deren Karriere bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Werkes (2003, heute also schon etwas angestaubt).

Der zweite Band beschäftigt sich dann mit der intensiven Untersuchung der Kritiken zu Werken von Sondheim und Lloyd Webber. Dabei widmet sich der Autor sehr detailliert den Fragen der Inhalte der Kritiken beispielsweise welche Mitwirkende genannt werden, werden diese bewertet, wie wird das Werk selbst bewertet, welchen Mitwirkenden wird die größte Wichtigkeit beigemessen und vieles mehr. Ins Auge fällt immer wieder, dass Olaf Jubin mit dem Fachwissen der deutschsprachigen Journalisten zum Thema Musical ganz und gar nicht zufrieden ist. Bemerkungen wie diese fallen öfter:

Die wenigen konkreten Gegenüberstellungen beschränken sich zudem auf lediglich vier der insgesamt 19 Sondheim-Musicals im Sample, und diese vier waren alle in Deutschland oder Österreich zu sehen, während Verweise auf Werke des amerikanischen Komponisten, die bislang nur am Broadway und/oder im West End gespielt wurden, völlig unterbleiben. Derartige Verweise würden größeres Fachwissen erfordern, als die meisten deutschsprachigen RezensentInnen mitbringen.

Hier kann ich natürlich nicht umhin, anzumerken, dass Olaf Jubin die Arbeitsbedingungen der deutschsprachigen MusicaljournalistInnen sichtlich nicht bekannt sind. Um Werke von Stephen Sondheim, die in Europa bisher nicht zur Aufführung kamen, zu sehen, bleibt dann wohl nur eine regelmäßige Reise nach New York, was die meisten Arbeitgeber wohl kaum finanzieren werden und vor allem für den freien Journalisten, der seine Reisen selbst finanzieren muss, nicht machbar ist. In den Tageszeitungen gibt es überdies selten Journalisten, die sich nur mit dem Thema Musical beschäftigen. Da diese auch Fachwissen zu anderen Theatergattungen besitzen müssen, kann man ihnen wohl kaum mangelndes Fachwissen in diesem speziellen Bereich zum Vorwurf machen.

Gerade für Journalisten aus diesem Bereich stellt dieses Werk trotzdem eine interessante Betrachtung der eigenen Arbeit dar. Man hinterfragt möglicherweise seine eigenen Strukturen, die sich im Laufe der Jahre der Arbeit von selbst ergeben. Ist dem Komponisten mehr Bedeutung einzuräumen als dem Textdichter? Gerade im deutschsprachigen Raum hat man es außerdem oft mit Übersetzungen zu tun, wo man sich vielleicht öfter die Mühe machen sollte, das Originallibretto intensiver mit dem deutschen Text zu vergleichen. Aus Zeitgründen ist dies leider allzu oft nicht möglich. In jedem Fall muss der Leser auf 1.152 Seiten irgend etwas finden, was ihm zur Fortbildung gereicht, man sollte sich jedoch darauf gefasst machen, bisweilen etwas Flüssigkeit zum Begießen vorrätig zu halten, damit die Trockenheit nicht allzu sehr staubt.

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Roman Unterhaltung

Lauren Weisberger – Die Partyqueen von Manhattan

Ich weiß bis heute nicht, warum ich mich umgedreht habe. Es gab keinen Grund, keinen Anlass, wenn man einmal davon absieht, dass ich von einem übergeschnappten, metrosexuellen Promi auf einer Vespa entführt wurde. Trotzdem sah ich noch einmal zurück, bevor wir losdüsten. Penelope stand auf dem Bürgersteig, meinen Schal über dem starr ausgestreckten Arm. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke, dann gab Philip Gas, und weg waren wir.

Lauren Weisberger wurde in erster Linie mit ihrem Moderoman „Der Teufel trägt Prada“ und der gleichnamigen Verfilmung mit Anna Hathaway und Meryl Streep bekannt. In „Die Partyqueen von Manhattan“ bleibt sie ihrer Erfolgsstory weitgehend treu.

Heldin ist Bette, die ihren langweiligen Job bei einer Investmentfirma hinschmeißt und daraufhin auf Empfehlung ihres Onkels bei einer Eventagentur anheuert. Dort rutscht sie von einem Moment auf den anderen mitten in die mittlere High Society und hüpft von einem Fettnäpfchen ins andere. Die Bekanntschaft mit dem Frauenschwarm und begehrten Junggesellen Philip Weston bringt ihr in dieser Gesellschaft Pluspunkte. Ihre Freunde stößt sie jedoch ein ums andere Mal vor den Kopf, sogar die Verlobungsparty ihrer besten Freundin Penelope (siehe Zitat oben) verpasst sie wegen ihres neuen Jobs, der natürlich mit den ganzen Partys, auf denen sich Bette quasi beruflich herumtreiben muss, nicht immer wie Arbeit aussieht. Bei all diesen Problemen wird sie auch noch von einer Society-Journalistin verfolgt, die sich auf Bettes Kosten selbst wichtig macht.

Dass dies schließlich in einer menschlichen Katastrophe enden muss, braucht nicht extra gesagt zu werden. Auch das Bette letztendlich erkennt, was wirklich wichtig ist, haben wir bereits in Der Teufel trägt Prada gesehen. Trotz allem beherrscht Weisberger einen erfrischenden Stil, der durchaus wie die Geschichten von Suzan Elizabeth Phillips zu einem dauerhaften Erfolg im Genre der Frauenliteratur werden könnte.

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Roman

Richard Powers – Das Echo der Erinnerung

Kanadakranich (c) Miroslaw/PIXELIO

Für Japaner erfüllt sich ein Wunsch, wenn sie tausend Papierkraniche falten. Sadako Sasaki, zwölf Jahre alt und ein Opfer der „Atombombenkrankheit“, schaffte 644. Kinder von überall auf der Welt schicken ihr Tausende, Jahr für Jahr. Kraniche tragen die Seele ins Paradies. Kranichbilder stehen in den Fenstern der Trauerhäuser, und Schmuckstücke in Kranichgestalt begleiten die Toten. Die Kraniche sind Seelen, die einst Menschen waren und vielleicht wieder Menschen werden, nach vielen Leben.

Richard Powers ist ein Geschichtenerzähler ersten Ranges. Bereits der Vorgänger „Der Klang der Zeit“ beeindruckte Kritiker und Leser. Mich jedoch hat „Das Echo der Erinnerung“ noch nachhaltiger berührt.

Karins Bruder Mark erleidet einen Unfall, sein Wagen kommt von der Straße ab, erst nach mehreren Stunden kann er von der Polizei befreit werden. Lange ist unsicher, ob er überleben wird. Als er schließlich zu sich kommt, hält er seine Schwester für eine Schauspielerin. Für Karin wird dadurch der Genesungsprozess zu einem Spießrutenlauf. Obwohl sich Marks Zustand zu bessern scheint, leidet Karin immer mehr darunter, dass er zwar andere Personen erkennt, jedoch auch sein Haus und seinen Hund für blasse Kopien hält. Schließlich wendet sich Karin an den berühmten Neurowissenschaftler Gerald Weber, der sich auch bereit erklärt, Mark zu besuchen. Jedoch verfolgt er dabei seine eigenen Motive. Sein drittes Buch bleibt hinter den Erfolgen der Vorgänger zurück. In der Beschreibung von Weber und seiner Frau Sylvie ist mir jedoch eine bestimmte Passage aufgefallen, die mich an eine Zeile aus dem Song „Both Ways“ von Quietdrive erinnert hat: „I think I’ve found the perfect way to grow old“. In weiterer Folge zeigt sich, dass auch Webers scheinbar perfekte Ehe ins Wanken gerät, aber diese Passage kann einen trotzdem glauben lassen, dass es möglich ist:

Wenn man einmal von der absurden Puderdose absah, die tat, als sei sie ein Telefon, hätten sie ebenso gut wieder im College sein können, wo sie bis spät in die Nacht über ihre Erfahrungen geredet hatten, lange nachdem die Sperrstunde jeden von ihnen in ihre getrennten Wohnheime gescheucht hatte. Er hatte sich am Telefon in Sylvie verliebt. Immer, wenn er auf Reisen war, erinnerte er sich daran. Sie verfielen in ihren Rhythmus, redeten, wie sie fast jeden Abend ihres Lebens geredet hatten, ein Dritteljahrhundert lang.

Weber kann Mark nicht helfen, er lässt Karin mit dem Rat zu einer Verhaltenstherapie zurück. Sein eigenes Leben gerät zusehends auseinander. Auch Karin wird zwischen ihrem ehemaligen Freund Karsh, Daniel, der früher Marks Freund war und nun mit Karin zusammen ist, und ihrem Bruder Mark aufgerieben. Als Nebenhandlung entsteht außerdem noch ein spannender Wirtschaftskrimi über die in der Gegend verbreiteten Kraniche, die einem Touristenzentrum weichen soll. Karsh kämpft dafür, Daniel dagegen. Karin vergräbt sich weiter in die Psyche ihres Bruders und ignoriert ihr eigenes Leben.

Das Bewusstsein erzählt eine Geschichte, und diese Geschichte ist in sich geschlossen, zusammenhängend und stabil. Wenn diese Geschichte abbricht, schreibt das Bewusstsein sie neu. Jede revidierte Fassung erhebt den Anspruch, das Original zu sein. Und so sind wir oft die Letzten, die es erfahren, wenn Krankheit oder Unfall uns zerstören.

Obwohl man das Buch nicht als Krimi bezeichnen kann, ist es dieser Spannungsfaden, der einen nicht mehr loslässt und schließlich beide Erzählebenen auflöst. Kein Happy End. Fragen bleiben offen. Ich könnte mir kein besseres Ende vorstellen.

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Krimi Roman

Neil Olson – Ikone

Sonnenuntergang in Griechenland (c) Gustav Kemetmüller/PIXELIO

„Wir bewegen uns im Kreis. Diese Debatte erinnert mich allmählich an eine grundsätzlichere Streitfrage. Ein Mann der Vernunft verlangt Beweise, wenn er glauben soll. Ein Mann Gottes hält vielleicht ebenfalls viel von der Vernunft, aber er weiß, dass er damit nur bis zu einem gewissen Punkt kommt, dass er irgendwann den Sprung ins Unbekannte wagen muss. Er denkt mit dem Verstand, bis er dieses unaussprechliche Geheimnis erreicht. Dann denkt er mit dem Herzen, traut sich noch einen Schritt weiter voraus oder zieht sich zurück. Sie sind ein Mann der Vernunft. Gut. Aber sagen Sie mir, als Sie vor diesem Heiligenbild standen, als Sie das Holz berührten, haben Sie da nicht eine besondere Kraft gespürt? Sagen Sie die Wahrheit.“

Was nach diesem Zitat wie eine religiöse Story klingt, ist in erster Linie ein ganz fantastischer Kriminalroman. In zwei Zeitebenen findet in Griechenland und New York eine Jagd auf die „Ikone“ – ein Bild der Gottesmutter Maria – statt. Drei Generationen einer griechischen Familie sind hinter dem Kunstwerk her.

Im Mittelpunkt steht Matthew, der jüngste Spross der Familie, der durch seine Arbeit als Experte für byzantinische Kunst mit Ana zusammenkommt, die die Ikone soeben von ihrem verstorbenen Großvater geerbt hat. Sie möchte das Bild verkaufen, die Interessenten reißen sich gerade darum. Doch als sie das Bild abgegeben hat, geht der Ärger erst richtig los. Das Bild verschwindet und alle Beteiligten sind auf der Suche danach, gerade Matthew und Ana, die kaum Details der Geschichte der Ikone kennen, geraten ins Kreuzfeuer der verbissen Suchenden. Stück für Stück wird die Geschichte aufgedeckt, der Spannungsbogen bleibt konstant erhalten. Eine spannende Kriminalgeschichte für alle Freunde dieses Genres.

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Essays

Susan Sontag – Über Fotografie

Fotografie Silhouette vor Aquarium (c) Ernst Rose / PIXELIO

Diese Methode kommt insbesondere jenen Touristen entgegen, die zu Hause einer erbarmungslosen Arbeitsethik unterworfen sind – den Deutschen, Japanern, Amerikaner. Die Handhabung einer Kamera dämpft die innere Unruhe, die ständig unter Stress arbeitende Menschen empfinden, wenn sie Urlaub machen und sich nur amüsieren sollen. Aber nun haben sie „etwas zu tun“, das auf angenehme Weise an Arbeit erinnert: sie dürfen fotografieren.

Schuldig im Sinne der Anklage. Susan Sontag untersucht in ihren Essays zum Thema Fotografie sowohl die künstlerischen Strömungen in dieser jungen Kunst als auch die Motive der Fotografen. Dabei nimmt sie nicht nur die kamerabewaffneten Touristen aufs Korn, sondern beweist Sprachwitz in allen Situationen.

Der Fotograf, eine bewaffnete Spielart des einsamen Wanderers, pirscht sich an das großstädtische Inferno heran und durchstreift es – ein voyeuristischer Spaziergänger, der die Stadt als eine Landschaft wollüstiger Extreme entdeckt.

Außerdem geht sie der Frage auf den Grund, ob Fotografie überhaupt Kunst ist und beweist schließlich, warum Fotografie Kunst ist. Sie betrachtet das Verhältnis zwischen Malerei und Fotografie als mythischen Pakt: Durch die wirklichkeitsgetreue Darstellung der Fotografie wurde die Malerei von ihren Fesseln befreit und konnte sich dem höheren Ziel der Abstraktion zuwenden. In weiterer Folge beeinflusste wiederum die Fotografie intensiv das Kunstgeschehen. Jeder kennt die Mona Lisa, aber der Großteil der Menschen hat sie nur auf Fotografien gesehen.

Wiederkehrendes Thema ist die Besitzergreifung durch die Fotografie. Was wir als Bild speichern, glauben wir zu besitzen. Sehen wir ein Bild von einem Ereignis, meinen wir, dabei gewesen zu sein. Ein Foto einer geliebten Person oder eines geliebten Gegenstands kann für uns zum einmaligen Objekt werden. Erinnerungen werden in Bilder projiziert, oft genug sind es falsche Erinnerungen, die die Vergangenheit verklären.

Und kein Instrument, mit Ausnahme der Kamera, ist imstande, solch komplexe, kurzlebige Reaktionen zu registrieren und der ganzen Herrlichkeit des Augenblicks Ausdruck zu verleihen. Keine Hand kann das zum Ausdruck bringen, weil das Gedächtnis nicht imstande ist, die unverfälschte Wahrheit eines Augenblicks so lange festzuhalten, bis die langsamen Finger die Vielzahl der übermittelten Einzelheiten aufzeichnen könnte. (Paul Rosenfeld, aus der angeschlossenen Zitatsammlung)

Auch das Sammeln von Fotografien findet ihre Beachtung. Fotos beleuchten nur kurze Momente eines Lebens, diese werden für immer festgehalten. Für Sontag stellen diese Bilder einen Widerspruch zum Leben an sich dar, während der gemeine Fotosammler meint, das Leben durch diese Standbilder aufzeichnen zu können. Die inflationäre Verwendung der Technik der Fotografie macht die Werke zum Kitsch.

Marx warf der Philosophie vor, sie mache nur den Versuch, die Welt zu verstehen, anstatt zu versuchen, sie zu verändern. Fotografen, die im Sinne des surrealistischen Lebensgefühls arbeiten, weisen lediglich darauf hin, dass es vergeblich ist, die Welt verstehen zu wollen, und schlagen uns stattdessen vor, sie zu sammeln.

Wie Fotografien Geschichten erzählen, erzählen auch Susan Sontags Essays Geschichten zwischen den Zeilen. Wer genau hinsieht, kann tiefe Emotionen und Einblicke gewinnen. Genau wie beim intensiven Betrachten einer Fotografie.

Wenn ich die Geschichte in Worten erzählen könnte, brauchte ich keine Kamera herumzuschleppen. (Lewis W. Hine, aus der angeschlossenen Zitatsammlung)

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Roman

Guillaume Musso – Wirst du da sein?

Mit einer bitteren Wut im Bauch verließ Elliott die Toiletten. Was hatte er getan, um so leiden zu müssen? Ilenas Blick, als er ihr gesagt, hatte, dass er sie nicht mehr liebte, ließ seinem Herzen keine Ruhe. Sie war am Boden zerstört gewesen, und trotzdem hatte er weitermachen müssen, damit sie ihn endgültig aufgab. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass er ihr damit das Leben gerettet hatte. Aber sie, sie würde die Zusammenhänge nie erfahren und ihn für den Rest ihrer Tage hassen.

Eine fantastische Zeitreise erlebt man in dieser Liebesgeschichte, die sich über mehr als 30 Jahre erstreckt, zusätzliche Rückblenden mit eingeschlossen sind es sogar 40. Dabei gelingt es Musso, die unglaubliche Idee einer derartigen Zeitreise plausibel zu schildern und dabei auch noch witzige Geschichten einzuflechten, wenn der Elliott von 1976 auf einmal mit dem iPod des Elliott von 2006 konfrontiert wird:

Elliott fragte sich, wozu so ein Computer überhaupt gut war. Das einzige, was er bemerkenswert fand, war der komische Name, den die Erfinder ihrer Firma gegeben hatten: Apple Computer. Mit einem solchen Namen wird das nichts, Jungs!, dachte er. Besser, er schaltete das Ding gar nicht erst ein …

Er stöpselte sich die Knöpfe rechts und links ins Ohr und drehte an dem Rädchen, das sich auf der Oberfläche des Instruments befand. Auf dem eingebauten kleinen Monitor darüber flimmerte ein Schriftzug: „iPod – Designed by Apple in California – Made in China“. Hatte er diese kalifornische Erfinderbude doch unterschätzt?

Weit erstaunlicher ist jedoch, dass die Verbindung zwischen den beiden Zeitebenen stets logisch bleibt. Wenn man sich gerade fragt, wie das denn nun zugehen soll, klärt Musso sofort die Zeitverbindung in seinem Universum wieder auf. Wenn sich etwa der junge Elliott ein Tattoo stechen lässt, um mit seinem älteren Ich in Kontakt zu treten, ist das schlicht genial.

Und doch bleibt es im Kern eine Geschichte über verlorene und wiedergefundene Liebe und Freundschaft. Das Leben und den ganzen Rest.

Es gibt die trügerischen Momente im Leben, in denen man glaubt, sie für immer besiegt zu haben. Sie eliminiert zu haben. Ausgelöscht. Für immer und ewig. Wie töricht, das zu glauben! Denn meistens sind sie noch da, die Dämonen, liegen irgendwo im Dunkeln auf der Lauer, um in einem Augenblick der Unachtsamkeit zuzuschlagen. Etwa, wenn eine Liebe verlorengeht.