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Roman

Dai Sijie – Balzac und die kleine chinesische Schneiderin

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Ba-er-za-ke! Der ins Chinesische transkribierte Name des Autors setze sich aus vier Ideogrammen zusammen. Was für eine Magie, die Übersetzung! Die harten, kriegerischen, aggressiven, kratzenden Laute der zwei ersten Silben klangen mit einem Mal sanfter. Die vier zierlichen. aus wenigen Strichen zusammengesetzten Schriftzeichen reihten sich harmonisch zu einem Wort von ungewöhnlicher Schönheit, das einen exotischen, einen sinnlichen, einen betäubenden Duft ausstrahlte: das warme, volle Aroma eines jahrhundertelang im Keller gelagerten Likörs.

Recht bald wird dem Leser beim Eintauchen in die Geschichte der kleinen chinesischen Schneiderin klar, dass Dai Sijie Wörter liebt. Er liebt auch Frauen, aber Worte liebt er mehr. Der obige Absatz, der den ersten Kontakt des Protagonisten mit einem Roman von Balzac beschreibt. Er und sein Freun Luo wurden von der chinesischen Regierung zur „kulturellen Umerziehung“ in ein Bergdorf geschickt. Aufgrund der Berufe ihrer Eltern gelten sie als Intellektuelle, die dem Regime durch ihre revolutionären Ideen gefährlich werden könnten. Im Bergdorf müssen sie körperlich harte Arbeit leisten und sind abgeschnitten von nahezu jeder Zivilisation.

Balzacs Roman ergaunern die beiden schließlich aus dem geheimen Bücherkoffer des Brillenschang, der ebenfalls zur kulturellen Umerziehung im Nachbardorf einquartiert wurde. Die Bücher sind selbstverständlich verboten, weshalb ihre Existenz auch geheim bleiben muss. Aber auch die kleine Schneiderin verliebt sich in Balzac und so nimmt nicht nur das Schicksal der Burschen seinen Lauf.

Nach dem Lesen des Buchs kann ich mir nicht vorstellen, dass diese Liebe zu Wörtern in der Verfilmung aus dem Jahr 2002 auch transportiert werden konnte. Obwohl Autor Dai Sijie selbst Regie führte und der Film beste Kritiken erhielt, möchte ich trotzdem zum Buch raten. Nach meiner Ansicht kann sich die Wirkung der Worte nur dann richtig entfalten, wenn sie auf direktem Wege vom Papier ins Herz gelangen.

Ich erinnere mich, dass ich nie einen so herzergreifenden traurigen Walzer gehört hatte, er war noch trauriger als die Requiems, die man Europäer mit Kerzen in der Hand und Frauen mit Schleiern auf dem Kopf im Fernsehen singen hört …

Die zweite Geschichte in diesem Buch handelt von Muo, der eine unglaubliche Reise unternimmt, um seine Freundin „Vulkan des alten Mondes“ aus dem Gefängnis zu befreien. Zu diesem Zweck versucht er einen Richter zu bestechen, dieser besitzt so viel Vergnügen, dass er sich nur mit einer Jungfrau zufrieden geben will. Wie soll Muo nun eine Jungfrau auftreiben, die auch noch bereit ist, diese zu opfern? Eine haarsträubende Suche beginnt, auf der der „Traumdeuter“ Muo in die bizarrsten Situationen gerät. Unter anderem verliert er dabei selbst seine Jungfräulichkeit mit einer Frau, die er eigentlich für Richter Di bestimmt hatte.

Dabei sind vor allem die Beschreibungen von Gefühlen interessant, denn nicht nur Muos Gefühlen, sondern auch denen der vielen beteiligten Damen widmet der Autor viel Interesse und Details. Innere geheime Gefühle, Träume, die uns aus dem Unterbewusstsein jagen, das sind die Ingredienzien, die Muos surreale Suche nach einer Jungfrau würzen und somit zum Leckerbissen machen.

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Kurzgeschichten

Guy de Montpassant – Liebe ist anders

Kirschblueten (c)AngelaL / PIXELIO

Liebe ist immer etwas Kostbares, wer immer sie auch schenkt. Ein Herz, das bei unserem Kommen schneller schlägt, ein Auge, das weint, wenn wir Abschied nehmen, sind seltene Dinge, die man nie verachten soll.

Kurzgeschichten sind immer ein passender Begleiter auf Reisen. Diese altmodischen Liebesgeschichten spannen einen breiten Bogen über die unendliche Liebe, die unerfüllte Liebe, manchmal ist es eine Kombination aus beidem. Schwärmerei, die zur Enttäuschung wird, wenn die Erfüllung erfolgt. Geheime Liebe, die zu Krankheit und Tod führt. Liebe, die nur durch den Tod Erfüllung finden kann. Kitschig, aber irgendwie tröstlich.

Man fühlt sich plötzlich durchdrungen von dem entsetzlichen Elend des Daseins, der Einsamkeit aller Wesen, dem Nichts, das uns von allen Seiten umgibt, der namenlosen Verlassenheit des Menschenherzens, das sich durch Traum und Trug über seine Vergänglichkeit hinwegtäuschen will.

Off Topic: Bei meinen Recherchen zum Thema epub und anderen eBook-Formaten bin ich heute unter anderem auf das Programm Calibre gestoßen. Dabei fand ich es einigermaßen amüsant, dass das Calibre-Logo meinen eigenen Erstentwürfen für das Books in the fridge-Logo gar nicht mal so unähnlich sieht:

Logo_BITF.png  CalibreIcon.jpg

Selbstverständlich hat hier niemand von niemand abgekupfert. Die Idee scheint einfach nur zu naheliegend, wenn man mit Büchern zu tun hat.

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Kurzgeschichten Roman

Giovanni Boccaccio – Das Dekameron

Weintrauben (c) nkzs / SXC

„Daher bitte ich Euch um der Liebe willen, die ich Euch entgegenbringe, mir auch die Eure nicht zu versagen, sondern Euch meiner Jugend zu erbarmen, die sich nach Euch verzehrt wie Eis am Feuer!“

Würde ich meine Posts betiteln, dieser erhielte die Überschrift „Hedonismus in Zeiten der Pest“. Die Rahmenhandlung lässt sieben Damen und drei junge Herren eine von der Pest heimgesuchte Stadt verlassen, um sich in angenehmer Atmosphäre nach Möglichkeit zu vergnügen. Zu diesem Zwecke verbringen sie den Großteil des Tages mit dem Erzählen von Geschichten. Zehn Tage lang erzählt jeder der zehn Beteiligten jeweils eine Geschichte. Die Geschichten bieten dabei eine große Themenvielfalt, auch wenn sich natürlich die meisten um die Liebe drehen.

Wenn nun schon der an sich standhafte Mann nicht umhinkann, eine Frau, die ihm gefällt – von Weibern, die sich anbieten, ganz zu schweigen –, zu begehren, und alles daransetzt, diese Frau zu besitzen, was ihm nicht alle vier Wochen einmal, sondern täglich unzählige Male passiert, wie kannst du dann von einer Frau, die schon ihrer Natur nach unbeständig ist, erwarten, dass sie allen Bitten, Schmeicheleien, Geschenken und tausenderlei Verführungskünsten widerstehen soll, die ein schlauer Mann anwendet, der sie begehrt?

Noch so einiges mehr lässt Boccaccio seine Protagonisten über das Wesen der Frau sagen. Dies mag der damaligen Zeit angemessen erscheinen, erscheint aber heute doch zutiefst befremdlich. Das obige Zitat wird von einer Frau gesprochen, diese bezichtigen sich also selbst aller möglichen Schwächen und Unarten. Die Herren üben sich da eher noch in vornehmer Zurückhaltung und zeigen ihre Verachtung der Damen nur indirekt über die erzählten Geschichten.

Vielleicht wäre ich in dieser Hinsicht nicht so großzügig gewesen, wenn man auch Frauen so selten und mit soviel Schwierigkeiten fände wie einen guten Freund.

Diese Stelle sticht insofern hervor, als dass sich der Bezug auf das Sprichwort herstellen lässt, das besagt, Männer/Frauen mögen kommen und gehen, Freunde jedoch bleiben für immer. Das ist ein interessanter Kontrast in all diesen Geschichten, in denen immer wieder aus Liebe gestorben oder zumindest die Absicht dazu bekundet wird. So zeigt sich hier ein breites Feld an Geschichten, das alle möglichen Emotionen im Portfolio hat.

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Roman

Jostein Gaarder – Vita brevis: Das Leben ist kurz

Schmetterlinge (c)Martin Ostheimer / PIXELIO

Denn du hast mir Leib und Seele gegeben, so, wie ich dir Leib und Seele verpfändet habe. Wo du warst, da war ich, und wo ich war, da wolltest auch du sein.

Die Rahmenhandlung bestreitet in diesem Roman Jostein Gaarder selbst: Er erzählt, wie er in einem Antiquariat eine Kassette findet, die ein scheinbar altes Schriftstück enthält. Geschrieben wurde es von Floria an Aurel Augustin, Bischof von Hippo. Schrieb Sie diesen Brief an den Bischof als Antwort auf seine Bekenntnisse, in denen er um das Jahr 400 seine endgültige Abkehr vom weltlichen Leben und seine vollständige Hinwendung zur Religion begründet.

Laut diesem Brief war Floria jahrelang Aurels Geliebte, die beiden hatten auch einen gemeinsamen Sohn, der bereits in jungen Jahren einer Krankheit zum Opfer fiel. Auch Aurels Mutter Monika steht zwischen ihnen, denn sie möchte den Sohn angemessen verheiraten. Floria schreibt sich hier ihren Ärger über Aurel von der Seele. Aus ihrer Sicht hat er nicht nur sie, sondern auch ihre Liebe und den gemeinsamen Sohn verraten.

Ich glaube, damals hast du wirklich angefangen, nach einer Wahrheit zu suchen, die deine Seele vor der Vergänglichkeit retten konnte. Ich sagte: Nimm mich in den Arm. Das Leben ist so kurz, und es steht nicht fest, ob es für unsere schwachen Seelen eine Ewigkeit gibt. Aber das wolltest du mir nicht glauben, Aurel. Du wolltest nichts unversucht lassen, eine Ewigkeit für deine Seele zu finden. Es schien dir wichtiger zu sein, deine Seele vor der Verdammnis zu retten als meine.

Noch immer leidet Floria unter dem Verlust des Geliebten, der sie aus ihrer Sicht durch seine Bekenntnisse auch verleugnet. Immer wieder führt sie seine Argumentation aus den Bekenntnissen ad absurdum. Gerade die Unsterblichkeit der Seelen, auf die Augustin nun durch den vollkommenen Verzicht auf alle leiblichen Genüsse zu erreichen hofft, erscheint ihr das falsche Ziel. Immer wieder bezieht sie sich auf die gemeinsamen Erinnerungen. Ihr Brief ist ein Befreiungsschlag und gleichzeitig ein Hohelied auf die Liebe.

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Klassiker Roman

Giacomo Casanova – Gefangenschaft und Flucht aus den Bleikammern

Dogenpalast (c) Achim Lückemeyer / PIXELIO

„Ich beschwöre Sie“, sagte ich, „ersparen Sie mir den herzzerreißenden Anblick Ihrer Tränen.“ Er sammelte sich und umarmte mich, während er mit gütigem Lächeln sagte: „Fata viam inveniunt.“ (Das Schicksal geht seinen Weg.)

Das Schicksal schickt Casanova in diesem Fall direkt ins Gefängnis. Aus seiner Sicht wird er unschuldig wegen eines erdichteten Verbrechens festgesetzt. Die Einzelzelle, die ihn mürbe machen soll, erfindet er zuerst als Vergünstigung, erkennt jedoch schnell, dass es sich dabei nicht um die zuerst angenommene Gnade handelt. Erst als seine Fluchtpläne Gestalt annehmen, wünscht er sich die Einsamkeit zurück.

Der erste Fluchtplan schlägt fehl, nur mit List gelingt es ihm, den Wärter davon zu überzeugen, den entdeckten Fluchtweg zu verstecken und den Fluchtversuch nicht zu melden. Schließlich gelingt ihm durch die Komplizenschaft mit den Mitgefangenen auf unerwartetem Wege die Flucht.

Eine Leseempfehlung vermag ich nicht auszusprechen. Das Buch hat mich zwei Tage lang durch die Londoner U-Bahn begleitet, aber neben Stieg Larsson und Pascal Mercier wirkt der gute Casanova leider wie ein elender Langweiler.

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Roman

Ian McEwan – Abitte

Labyrinth (c)Henrik-Gerold-Vogel/pixelio

War eine Geschichte zu Papier gebracht, schienen die Blätter vor lauter Leben in ihrer Hand zu beben. Selbst ihrer Ordnungsliebe konnte sie frönen, ließ sich mit Worten doch jedes Chaos in geregelte Bahnen lenken.

Die Geschichte beginnt mit Briony, die an einem Theaterstück schreibt, mit dem sie ihrem Bruder eine Freude machen will, der an diesem Abend endlich wieder nach Hause kommen wird. So unschuldig dieser Abend beginnt, so verhängnisvoll wird er enden. Der ganze erste Teil des Buches beschäftigt sich mit den Geschehnissen eines einzigen Sommerabends, erzählt aus den unterschiedlichen Perspektiven der drei Hauptpersonen: Briony, ihrer Schwester Cecilia und Robbie, dessen weiteres Schicksal dann im zweiten Teil in den Krieg führt.

Doch, wenn sie abends, am Ende des Tages, im Nachthemd auf dem Treppenabsatz stand und über den Fluss auf die verdunkelte Stadt schaute, befiel sie wieder dieses Unbehagen, das dort unten in den Straßen weilte, so wie es hier auf den Stationen herrschte, und das die Düsternis selbst zu sein schien. Nichts in ihrem straffen Tagesablauf, nicht einmal Stationsschwester Drummond, konnte sie davor schützen.

Brionys Fehler bestimmt das weitere Leben aller drei. Ihre Liebe zu Geschichten macht der aufkeimenden Liebe zwischen Cecilia und Robbie ein jähes Ende. Beide Schwestern schlagen die Laufbahn als Krankenschwester ein, jedoch aus unterschiedlichen Gründen. Für Cecilia ist es der schnellste Weg, ihr Elternhaus zu verlassen und auf diesem Wege auch die Vergangenheit aus dem Weg zu schieben. Für Briony wird es zur Buße für ihren Fehler, der die Schwestern entzweit.

Trotz der in ihrem Tagebuch skizzierten Typen glaubte sie nicht länger an Charaktere. Das waren schnurrige Kunstgriffe, die ins neunzehnte Jahrhundert gehörten. Schon das Konzept einer handelnden Figur basierte auf einem Irrtum, was die moderne Psychologie schließlich längst bewiesen hatte. Und die Handlung selbst war auch nur eine rostige Maschine, deren Zahnräder nicht mehr recht ineinandergreifen wollten.

Sowohl der Inhalt der Geschichte als auch der Schreibstil lassen den Leser mit der Zeit vergessen, dass es sich um einen Roman von Ian McEwan handelt. Hätte man mir das Buch vorgelegt und ich müsste den Autor erraten, hätte ich eher auf John Irving getippt. Zwar zeigt die Detailgenauigkeit der Beschreibung des Abends, an dem die Geschichte beginnt, deutlich die Handschrift McEwans. Der weitere Verlauf hingegen, der sich schließlich über ein Leben ausdehnt, erinnert sehr an die Art wie John Irving die Lebensgeschichten seiner Protagonisten entwirft. Dies gerät dem Roman jedoch in keinster Weise zum Nachteil. Man fiebert zusehends mit, ob es letztendlich zu einer Aufklärung der verhängnisvollen Geschehnisse kommen wird. Nicht alles findet zu einem befriedigenden Ende und doch bleibt ein Gefühl der Zufriedenheit zurück, wenn man die letzte Seite umblättert. Eine Kunst, die nur wenige Autoren mit dieser Virtuosität beherrschen.

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Roman

Sergio Bambaren – Ein Strand für meine Träume

Die Zukunft kommt früh genug. Ganz gleich, was man tut. Und dann wird einem klar, wie wichtig es ist, dass man sich Zeit nimmt zu leben, glücklich zu sein.

Lebensweisheiten kann man heutzutage an jeder Ecke bekommen. Doch kein Glückskeks kann so schön verpackt sein wie diese inspirierende Geschichte aus der Feder von Sergio Bambaren. Der Autor selbst habt es geschafft, seine Träume zu verwirklichen, er konnte das Schreiben zum Beruf machen und dient uns nun als Vorbild und Inspirationsquelle.

John Williams ist erfolgreicher Firmenchef und hat so ziemlich alles, was man sich als Mensch wünschen kann. Trotzdem stellt er eines Tages fest, das er nicht glücklich ist. Was ihm fehlt, kann er nicht benennen. Im Park trifft er auf den scheinbaren Bettler Simon, der ihn zu kennen scheint und ihm vom Strand der Träume erzählt. Dort treffen sich die beiden im weiteren Verlauf immer häufiger. John scheint aus Simons Geschichten zu lernen, was ihm in seinem Leben fehlt. Auch wenn er erfolgreich ist und zufrieden sein könnte mit dem, was er erreicht hat, zeigt ihm Simon schließlich den Weg zu dem, was er vergessen hat.

Ich erinnere mich, Simon, dachte ich. Diese Augenblicke, die ich am Strand verbrachte, fühlten sich an wie die Momente vor so langer Zeit, als ich noch jede Minute meines Lebens genoss; als jeder neue Tag neue Herausforderungen, neue Hoffnungen brachte.

Wenn wir diesen Lebensweisheiten im Alltag begegnen, scheint es oft so, als ob wir ohnehin wüssten, was wir wollen und dass wir doch zufrieden sind im Großen und Ganzen. Tatsächlich sollten wir uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass wir viel zu oft durch unser Leben hetzen, von einem Termin zum Nächsten. Viel wichtiger wäre, dass wir uns die Zeit nehmen, das Leben zu genießen. Und gerade die kleinen Momente sind es, die uns das ermöglichen. Gerade jetzt im Frühling denke ich da an den Moment, wenn die Rolltreppe aus der U-Bahn-Station auftaucht und man die frische, warme Luft tief einatmet und sich freuen kann, dass man endlich keinen Mantel mehr braucht. Nehmen wir uns die Zeit, Kindern beim Spielen und Vögeln beim Fliegen zuzuschauen. Es ist nicht wichtig, was wir in unserem Leben schaffen, sondern wie wir unsere Zeit verbringen.

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Roman

Eva Menasse – Vienna

„Die Tränen, die er nie geweint hat“, sagte mein jüngerer Vetter nachdenklich. „Mein Gott, was bist du für ein Pathetiker“, ächzte mein älterer Vetter, und mein Vater tat, als habe er von dieser ganzen Lainz-Burma-Geschichte überhaupt nichts mitbekommen. In meiner Familie schämt man sich für Emotionen bis auf die Knochen.

Liest man diese unterhaltsamen Familiencharakteristik, kommt einem nicht eine einzige Sekunde in den Sinn, es könnte der erste Roman der Journalistin Eva Menasse sein. Eine Sammlung von Familienanekdoten fügt sich Stück für Stück zu einem Portrait von unterschiedlichsten Figuren über mehrere Generationen zusammen. Wirklich erfassen kann man die Familie wohl nur, wenn man sich während des Lesens die Zeit nimmt, den Familienstammbaum zusammenzustellen. Über den Krieg, die Geschichten der Großeltern und der resoluten Tante Gustl bis zum jüdischen Fundamentalismus des Bruders und der Vettern breitet sich die Familiengeschichte zu einem Panoptikum aus skurrilen und doch liebenswerten Persönlichkeiten aus.

Meine Schwester schien ihn anfangs gar nicht zu bemerken. Sie, deren Schönheit nun allerorten gepriesen wurde – „a fesche Katz“, gestanden sogar die Würfelmonster zu –, gab sich gerne den Anstrich hoheitlichen Desinteresses. Sie glaubte wohl selbst, daß auf sie jemand ganz Besonderer warte, eine Art Märchenprinz für die verwöhnte Prinzessin.

Charmante Wiener Eigenarten bilden die charakteristische Grundlage der Familientradition. Die Bridge-süchtige Großmutter und der Tennisclub prägen die Generationen über Jahrzehnte hinaus. Im Tennisclub sind auch die so genannten „Würfelmonster“ – dem Würfelspiel verfallene ältere Damen mit erbarmungslos scharfen Zungen – zuhause, so manche Episode nimmt hier ihren Ausgang.

Wenn das begann, wenn die alten Familiengeschichten zum tausendsten Mal heraufbeschworen, durchgekaut und neu interpretiert wurden, flüchteten sich die angeheirateten Frauen theatralisch eine Weile lang in die Küche, weil sie es angeblich „nicht mehr hören konnten“, England, Burma, Fußball, Film, das ‘Weißkopf’, die abgefeimte Tante Gustl und der Sohn, der irgendwelche klebrigen Mehlspeisen gestohlen hat. Aber sie kamen bald wieder zurück, denn obwohl sie es nie zugegeben hätten, liebten sie es längst genauso, das mehrstimmige Pointenfeuerwerk, die nicht endenwollende Serie ‘echter Königsbees’, die ganze Heimeligkeit dieses familiären Sagengutes, in das wir uns lustvoll einwickelten, weil es unser flüchtiges Zusammensein mit einer kurzen, aber kräftigen Wurzel in der Vergangenheit verankerte.

Doch nicht die so bekannte jüdische Jammerei über Benachteiligungen und Kriegsblessuren prägen diesen Roman, nicht die nervtötende Neurotik einer Lily Brett, nicht die intellektuelle Kulturkritik einer Siri Hustvedt. Die Familie ist das beherrschende Thema und dass diese Familie uns unser ganzes Leben lang begleiten wird, ob uns das nun gefällt oder nicht. Eine gleichzeitig beängstigende und beruhigende Schlussfolgerung, die jeden die Schrulligkeiten der eigenen Familienmitglieder für einen kurzen Moment mit anderen Augen sehen lässt.

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Klassiker Sachbuch

Johann Prossliner – Nietzsches Zarathustra

Nietzsche macht einen „ziemlich genauen architektonischen Überschlag des Ganzen“ (und verrechnet sich dabei nicht), aber an seiner inneren Debatte und das Zarathustra-Gebilde lässt er niemanden teilnehmen. Am Ende wird er seinen Zarathustra gewissermaßen heilig sprechen, um mit dieser inneren Debatte Schluss zu machen und das Werk seinen eigenen Zweifeln zu entziehen.

Die Reihe „Meisterwerke kurz und bündig“ des Piper Verlag hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen „Überblick“ über die behandelten Literaturwerke zu geben. „Auf einen Blick erfährt man alles Wissenswerte über herausragende Werke der Literatur, Musik und Kunst.“ Ein ambitioniertes Vorhaben, das Johann Prossliner mit Nietzsches Zarathustra nach meiner Ansicht nur spärlich gelingt.

Sein Ansatz besteht darin, erst die Entstehung des Werkes und dessen Inhalte zu analysieren. Dabei beschränkt er sich jedoch in erster Linie darauf, zu erklären, warum dieses Werk sich von allen anderen Werken Nietzsches abhebt, sozusagen eine Singularität darstellt. Einerseits versucht er, dem Leser das Werk schmackhaft zu machen, andererseits weist er immer wieder darauf hin, dass es ein schwieriges Werk ist und mit welchen Problemen sich der Leser konfrontiert sehen wird.

Es folgt eine lange Auflistung von Ausschnitten aus dem „Zarathustra“. Diese werden jedoch schlicht aneinandergereiht, ohne einen Zusammenhang, ohne Erklärung, welche Motive durch die Ausschnitte dargestellt werden sollen. Das trägt nicht unbedingt zum besseren Verständnis bei. Zum Abschluss ergänzt Prossliner mit Ausschnitten aus dem Briefverkehr Nietzsches zum Thema Zarathustra. Damit illustriert er die zwiegespaltene Einstellung von Nietzsche selbst zu diesem Werk, bleibt aber auch hier eine zusammenfassende Erklärung schuldig.

Wer sich mit Nietzsches Werk tatsächlich auseinandersetzen will, findet in diesem Buch bestenfalls eine Anregung. Als Hilfe zum Verständnis kann es leider nicht dienen. Der direkte Griff zu Nietzsches Werk oder anderer Literatur zu diesem Thema empfiehlt sich mehr als die Investition in diese Zusammenfassung.

Aus den Briefen Nietzsches: An Malwida von Meysenburg in Rom, Venedig, Anfang Mai 1884: Wer weiß, wie viele Generationen erst vorübergehen müssen, um einige Menschen hervorzubringen, die es in seiner Tiefe nachfühlen, was ich getan habe! Und dann selbst noch macht mir der Gedanke Schrecken, was für Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen werden.

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Roman

David Gilmour – Unser allerbestes Jahr

„Genau das will ich sagen. Wenn sie es mit keinem anderen Mann macht, macht sie es auch nicht mit mir. Und deshalb habe ich dich mit ihr bekommen und nicht mit einer anderen Frau.“ – „Du hast gewusst, dass ihr euch trennt?“ – „Ich will sagen, ich finde es okay, mit einem Miststück ins Bett zu gehen, aber man soll nie mit einem Miststück ein Kind haben.“ – Da war er still.

Schon noch 20 Seiten fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen (mich hat es genau zwei Abende lang beschäftigt). David Gilmour versteht es, den Leser sofort in seine Geschichte hineinzuziehen, er fackelt nicht lange mit Beschreibungen der Lebenswelten (diese werden mit der Zeit ohnehin immer klarer), sondern kommt sofort zum Wesentlichen: Der Beziehung zu seinem Sohn.

„Über eine Frau wegzukommen, ist ein Prozess, der seinem eigenen Zeitplan folgt, Jesse. Wie Fingernägel, die wachsen. Du kannst machen, was du willst – Tabletten, andere Mädchen, ins Fitnesscenter gehen, nicht ins Fitnesscenter gehen, trinken, nicht trinken – letztlich spielt das alles keine Rolle. Du kommst nicht eine Sekunde schneller ans Ziel.“

Den besonderen Charme des Buches macht gleichzeitig seine Einfachheit als auch seine Ehrlichkeit aus. Gilmour beschreibt seinen eigenen Sohn Jesse, der sich in der Schule so langweilt, dass er stets negativ auffällt. Nach langem Überlegen entschließt er sich, seinem Sohn den Schulabbruch zu erlauben, mit der Auflage, dass sie sich von jetzt an gemeinsam wöchentlich drei Filme ansehen. Anhand der Filme versucht er seinem Sohn etwas beizubringen. Daraus lernt er einerseits viel über Filme, aber natürlich auch Einiges übers Leben. Gilmour beschreibt grandios den Trennungsschmerz nach dem Ende einer Beziehung, einerseits mit Blick auf die Teenagerliebe seines Sohnes, aber auch anhand seiner eigenen Erfahrungen. Man möchte in die Hände klatschen und ausrufen: „Ja, genau so war es auch bei mir“, wenn er den Punkt beschreibt, an dem man plötzlich feststellt, dass der Schmerz verschwunden ist.

Als wäre die Kette am Anker gerissen (man kann sich nicht mehr erinnern, wo man war oder was man gemacht hat), merkt man plötzlich, dass die eigenen Gedanken wieder einem selbst gehören, das Bett ist nicht mehr leer, sondern einfach das eigene Bett, in dem man Zeitung lesen kann oder schlafen oder … was wollte ich heute noch erledigen? Ah, ja, der neue Haustürschlüssel.

Genau diese Ehrlichkeit macht es zu so einem überzeugenden Buch. Für mich sind es zwar nicht Filme, die mein Leben als Leidenschaft ausfüllen, aber Ähnliches ließe sich über Bücher sagen, die einem in verschiedenen Lebensphasen genau den Kick geben, den man gerade braucht. Dieses Buch kann einem einerseits über das Ende einer Beziehung hinweghelfen. Auf eine schräge Art ist es aber auch ein Loblied auf die Elternschaft – gleichzeitig ehrlich und verklärend. Und nicht zuletzt zeigt es uns, dass wir manchmal entgegen besseres Wissen auf unser Herz hören müssen.