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Roman

Martin Prinz – Der Räuber

CN dieses Buch: Mord
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Ein Räuber sitzt umzingelt auf einem Berg. Noch ist ihm sein Platz, der finstere Wald, eine Insel. Kalt ist es in der Nacht und sternenklar. Die Straßen füllen sich langsam mit Transportern und Mannschaftswagen. Es ist eine Art von Krieg. […] Der Räuber lächelt, wenn er seinen Verfolgern aus der Finsternis zusieht. Ein Räuber kämpft immer an der Seite des Mondes. Er sitzt da und lächelt. Das ist auch Krieg. Jetzt sind wieder die anderen am Zug.

Fürs Erste reicht’s mir dann mit den Literatur-Geocaches. Dieses kurze Werk lässt sich zwar flüssig lesen, die Flucht des zum Mörder gewordenen Bankräubers Rettenbacher und seine Gedanken auf dieser Flucht ließen mich jedoch kalt. Das (Davon-)Laufen als Metapher für die Flüchtigkeit der Welt? Die Flucht als Spiel, bei dem sich der einsame Räuber immer wieder im Vorteil gegenüber den Hundertschaften der Polizei sieht, die ihn verfolgen? Hat bei mir nicht gezündet.

Er durfte nicht immer allein deshalb durch die Welt hetzen, damit sie im Stillstehen nicht zusammenbrach. Er wollte ihr zumindest manchmal ganz unbewegt zusehen, wie sie sich vor ihm in ängstlicher Hektik abmühte.

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Roman Science Fiction

skalabyrinth – Wenn es nicht passiert

CN dieses Buch/dieser Post:
Erwähnung von Gefühlen wie Anxiety, Overload und Meltdown

Mehr Informationen zum Inhalt dieses Buchs findet ihr in diesem Thread von skalabyrinth auf Mastodon, über den ich dieses Buch entdeckt habe.


Ich bin gewohnt, durch meine pure Existenz zu verwirren.

In letzter Zeit habe ich mich aufgrund von unterschiedlichen persönlichen Begegnungen etwas mehr mit dem Thema Autismus und den unterschiedlichen Erfahrungen betroffener Menschen befasst. Die Kombination der Themen, die in diesem Buch behandelt werden, fand ich daher sehr interessant. Und nach dem Lesen kann ich nicht sagen, was mir am meisten die Augen geöffnet hat (weil alles so augenöffnend war):

  • Zentrales Thema in diesem Buch ist die Repräsentation von autistischen Personen mit Autismus, den unterschiedlichen Formen, die Autismus annehmen kann, den Erfahrungen, die betroffene autistische Menschen machen und mit welchen Unterstützungen sie in ihrem Leben besser zurecht kommen können. Für mich sind durch diese Beschreibungen manche Begegnungen, die ich in der Vergangenheit hatte, klarer geworden. Ich habe das Gefühl, dass es mein Verständnis von dem Alltagserleben von autistischen Menschen mit Autismus erweitert hat. Ich konnte auch Parallelen zu Situationen erkennen, wo ich selbst die Person war, der ein anderer Umgang, ein anderes Verständnis, eine andere soziale Normalität geholfen hätte, mit der Situation besser umzugehen:
    • Sehr intensiv fühle ich den Wunsch, in einer Welt zu leben, wo Menschen so miteinander umgehen wie in diesem Buch. Es wird darauf geachtet, wie es anderen Personen geht, es werden einfache Unterstützungsleistungen angeboten, es wird klar kommuniziert. Es wird Verständnis geübt, wenn Menschen das Bedürfnis haben, sich mal zurückzuziehen bzw. eine Pause brauchen auch in bzw. speziell von sozialen Situationen.
    • Eine Art Höhepunkt des Buchs ist der Besuch eines Festivals durch eine Person, für die solche Situationen besonders schwierig sind. Dies wird ermöglicht durch Teams, die es Menschen, die mit sozialen Situationen oder großen Menschenmengen Schwierigkeiten haben, ermöglichen, trotzdem an Veranstaltungen teilzunehmen. In einer Form, von der ich nicht beurteilen kann, wie sehr sie der im Buch beschriebenen Betreuung entspricht, gibt es das bereits bei den Veranstaltungen des Chaos Computer Clubs (CCC) durch das Team c3auti.

Viele Leute kommunizierten nach bestimmten Regeln, die für ihn nicht erfassbar waren, weshalb er es durch so etwas wie Vorsichtsverhalten ausglich, bestimmtes Kopieren, Nachahmen von Verhaltensmustern, die für ihn nicht viel Sinn ergaben, aber ohne die es regelmäßig zu Missverständniskatastrophen kam.

    • Das Thema „klare Kommunikation“ ist so wichtig, dass ich es erneut erwähnen will. Immer wieder wird auch das Thema Subtext erwähnt, eine Form der unterschwelligen Kommunikation, die von vielen neurodivergenten Menschen nicht verstanden werden kann. Durch die klare Kommunikation von eigenen Bedürfnissen und Grenzen können alle Beziehungen profitieren, nicht nur jene, die neurodivergente Personen einschließen.
  • Die Einteilung von Büchern in (fiktive?) Genres, die irgendwelche Menschen in der Buchindustrie erfinden, damit sie Bücher an bestimmte Personengruppen vermarkten können, ist mir seit Langem unangenehm. Ich hatte lange gedacht, ich würde diesen Blog Post einleiten mit einer Beschreibung davon, wie dieses Buch meine persönlichen Genre-Grenzen erweitert hat und bin jetzt erst darauf gekommen, dass ich diese Genres und die darauf beruhenden Grenzen ja gar nicht leiden kann. Also weg damit.
  • Über die unterschiedlichen Formen von Asexualität wusste ich bisher überhaupt nichts. Eine Übersicht (in englischer Sprache inkl. Abkürzungen und Flaggen) habe ich bei asexuals.net gefunden.
  • Weiters möchte ich aus diesem Buch gern die Bezeichung Herzwesen in meinen Alltagssprachgebrauch übernehmen. Immer wieder kommt im Gespräch die Frage auf, wie wir die wichtigen Menschen in unserem Leben bezeichnen: Im Englischen und genderneutral funktioniert partner meiner Meinung nach ganz gut. Im Deutschen wird darin immer gleich das Geschlecht mitkommuniziert bzw. impliziert (Partner:in). Ähnliches gilt für andere deutsche Formen von Beziehungsbeschreibungen wie Lebensgefährt:in. Die Bezeichnung Herzwesen umgeht einerseits das ganze Genderthema und beinhaltet außerdem keine Definition der Art der Beziehung bzw. was die Beziehung alles beinhaltet oder nicht beinhaltet.

Außerdem hat mich dieses Buch dazu inspiriert, auch mal außerhalb meiner üblichen und etablierten Quellen für meine Literaturauswahl nachzuschauen. Auf Mastodon habe ich inzwischen zwei Bücher in meinen Bookmarks, die ich mir näher anschauen möchte. Ziel: pro Monat ein Buch aus einer alternativen Quelle (zB Self-Publishing) und/oder mit einem Thema, das im Mainstream zu wenig Platz findet.

EDIT (9. März 2023): Ich wurde darauf hingewiesen, dass sich die Mehrheit der autistischen Menschen für Identity First ausspricht, „also nicht Menschen mit Autismus, sondern Autist*innen oder autistische Menschen“. Daher habe ich im Text oben die entsprechenden Korrekturen vorgenommen.

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English Krimi Roman

Louise Penny – Kingdom of the Blind

CN dieses Buch: Mord, Prostitution, Drogenmissbrauch, Holocaust, Fentanyl, Opioide, Antisemitismus, Pogrom
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The wealthy have a way of justifying things. They live in distorted reality. If everyone at the club’s doing it, it must be okay.

Jedes Mal, wenn mich die Lust auf Three Pines packt, passiert dasselbe: Ich denke mir, ich könnte das ja zwischen den anderen Büchern lesen. Und dann lese ich nur noch das, bis ich das Buch zu Ende gelesen habe. Mehr muss ich eigentlich nicht sagen, weil wer Three Pines kennt, die*der weiß eh, wovon ich rede.

Für mich als gebürtige Österreicherin natürlich lustig: es wird unter anderem erwähnt, dass die Österreicher:innen nahezu so effizient wären, wie die Deutschen. Jedoch sind Österreicher:innen wohl international nicht für ihren Humor bekannt. Schade, dass die wienerische Morbidität nicht zur Sprache kam.

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Roman

Mikko Rimminen – Der Tag der roten Nase

CN dieses Buch: Alkoholmissbrauch, Verletzung der Nase, Unfalltod eines Jugendlichen, Trauer
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Protagonistin Irma verschreibst sich selbst eine Zwangskur gegen ihre Einsamkeit und soziale Unsicherheit. Als vermeintliche Marktforscherin klingelt sie an fremden Türen, um in Kommunikation mit anderen Menschen zu kommen. Der Text lässt die Leser:innen direkt in ihren Kopf schauen und die Panik fühlen, die in ihr aufsteigt, ihr die Zunge lähmt und gerade in schwierigen Situationen alles (scheinbar) noch schlimmer macht. Der Großteil davon spielt sich allerdings tatsächlich nur in ihrem Kopf ab. Als Leser:in wusste ich aber bis zum Schluss nicht, dass sie sich all die negativen Reaktionen ihrer Mitmenschen eigentlich nur einbildet bzw. selbst vormacht. Tatsächlich wiederholt sich hauptsächlich die Frage „Ist mit Ihnen alles okay?“. Mehr Gedanken über ihr oft schräges Verhalten machen sich die meisten Menschen gar nicht. Eine schöne Erinnerung daran, dass wir uns über unsere persönlichen Eigenheiten nicht so viele Gedanken machen sollten. Alle anderen machen sich nämlich auch nur Gedanken über ihre eigenen Eigenheiten und nicht über unsere.


Letzten Samstag verschleppte ich den Fotografen zur Ausstellung Unseen Places im KunstHausWien (nur noch bis 19. Februar 2023). In dieser Retrospektive werden verschiedene Projekte des Fotografen Gregor Sailer gezeigt. Er beschäftigt sich schon seit Längerem mit „Architekturen, die auf politische, militärische oder wirtschaftliche Aspekte der Gegenwart verweisen“ (alles unter Anführungszeichen sind Zitate aus dem Ausstellungstext). Dafür begibt er sich an Orte, die normalerweise nicht zugänglich sind und nimmt dafür große Strapazen und immensen Aufwand in Kauf. In einem Ausstellungstisch sind auch Dokumente und Tagebuchaufzeichnungen zu sehen, die einen Einblick erlauben in die Schwierigkeiten, die mit diesen Projekten verbunden sind/waren.

Gleich neben dem Eingang und der einleitenden Erklärung der Retrospektive beginnt die Ausstellung mit dem Projekt The Potemkin Village (2015–2017). „In sieben Ländern fotografierte [Gregor Sailer] Scheinarchitekturen, Kulissenbauten und illusionistische Modelldörfer“, darunter zB rudimentäre Stadtstrukturen für militärische Übungszwecke. Diese Bilder fand ich gleichzeitig verstörend und interessant, weil sie eine halbfertige Welt zeigen. Die Architekturen sind jedoch nicht halb zerstört, wie es vielleicht in einem Kriegsgebiet wäre, sondern einfach nur halb gebaut oder überhaupt nur als Kulissen aufgestellt. Auf den detailreichen Fotos eines amerikanischen Militärübungsplatzes ist etwa ein arabisch beschriftetes Lebensmittelgeschäft, eine Moschee oder ein Brunnen zu sehen. Die vollkommene Menschenleere verleiht den Bildern eine Unwirklichkeit, ich konnte mir vorstellen, dass die Menschen hier aufgrund einer Katastrophe alle verschwunden sind. Es wirkt teilweise wie der Schauplatz eines Science-Fiction-Romans.

Blick in den Ausstellungsraum, links eine Collage aus 4x5 Bildern aus der Serie The Potemkin Village, hinten ein wandfüllender Blick in einen U-Bahn-Schacht aus der Reihe Subspace

Das Projekt Closed Cities (2009–2012) ermöglicht Einblicke in spektakuläre Orte:

  • Mirny, Jakutien, Russland. „Stadt am Rande eines gigantischen Tagebaulochs, sämtliche Gebäude auf Pfählen im Permafrost errichtet“. Das beeindruckende Foto zeigt einen verschneiten Krater, in dem nach Diamanten geschürft wird. Am Horizont dahinter ist schemenhaft durch den Nebel die Stadt zu erkennen.
  • Die Flüchtlingsstädte Dakhla, Escuela 27 Febrero, Rabouni und Smara, West-Sahara. Etwa 200.000 Menschen leben in dieser „lebensfeindlichsten Region der Sahara“. Ohne Hilfe von außen wären diese Städte nicht überlebensfähig. Die Bilder zeigen die Leere der Wüste, ein einsames Fußballtor unter der sengenden Sonne.
  • Chuquicamata, Atacama, Chile. Größte Tagebaumine der Welt. 2008 wurden 35.000 Einwohner:innen wegen „untragbarer Lebensbedingungen“ zwangsumgesiedelt. „Die Stadt verschwindet unter Abräumhalden. Umliegende Landschaft auf Jahrzehnte verseucht aufgrund jahrelanger Entsorgung hochgiftiger Abwässer direkt in die Wüste.“ Für die Arbeiter:innen wurde zB. ein Stadion errichtet, das leer im heißen Wüstenstand glüht.
  • Ras Laffan, Katar, Mittlerer Osten. Etwa 100.000 Einwohner (ausschließlich Männer) arbeiten in dieser Siedlung am größten Gasfeld der Erde (persischer Golf). Die Bilder zeigen gespenstische rot beleuchtete Konstruktionen aus Rohren und Tanks. Ein optisch harter Kontrast zu den oben beschriebenen Orten und Bildern, die sich durch Helligkeit und Weite auszeichnen.
  • Nordelta, Argentinien. Einen wahren Kontrastpunkt zu den obigen Örtlichkeiten bildet die Gated Town Nordelta in Argentinien im Norden von Buenos Aires. Hier leben reiche Menschen in einer künstlich geschaffenen Umgebung.

Verlassene Orte sind jedoch nicht nur in entlegenen Gegenden zu finden. Auch Österreich hat so manchen Lost Place zu entdecken. Im Projekt The Box (2014–2015) fotografierte Gregor Sailer in einem Stollen eines ehemaligen Bergwerks in Schwaz (Tirol). Im Zweiten Weltkrieg wurde hier von Zwangsarbeiter:innen das weltweit erste Kampfflugzeug mit Stahltriebwerkstechnologie produziert. „Die so genannte Messerschmitthalle liegt heute ohne jegliche Infrastruktur in absoluter Dunkelheit.“ Um hier überhaupt fotografieren zu können, musste ein spezielles Beleuchtungskonzept entwickelt werden. Das Ergebnis sind großformatige, dunkle Schwarz-Weiß-Fotos, die in ihrer kalten, harten Klarheit erahnen lassen, welchen unmenschlichen Bedingungen die Zwangsarbeiter:innen damals ausgesetzt gewesen sein müssen.

Blick in den Ausstellungsraum, die Wände sind blau verkleidet, darauf sind helle Bilder zu sehen, zentral im Raum steht eine einzelne Bank auf dem Holzboden

Das aktuellste Projekt ist The Polar Silkroad (2017–2022). Aus dieser Serie stammt auch das Titelfoto der Ausstellung, das mich auf dem Plakat in seinen Bann gezogen hat. Es zeigt eine militärische Station der Norwegian Armed Forces, Andøya, Norway. Das Gebäude verschwindet beinahe im Nebel, links davon ist ein Berggipfel zu erahnen. Zentraler Blickfang ist eine Art runder Spiegel in der Mitte des Bildes, die gelbliche Färbung sticht aus dem ansonsten weiß-grau-blau (je nach Entwicklung und Lichteinfall, das Bild in der Ausstellung ist deutlich weißer als das auf dem Plakat) gehaltenen Bild deutlich heraus.

Auch ein zweites Bild aus dieser Serie hat mich sehr beeindruckt. Es zeigt die Royal-Air-Force-Basis in Fylingdales in Großbritannien. Im Vordergrund ist von Rauhreif bedecktes Gras zu sehen, dahinter erscheint ein beleuchteter Zaun aus dem Nebel, der das Bild prägt. Erst bei längerer Betrachtung werden die Kanten des Gebäudes im Nebel erkennbar. Ein scheinbar langweiliges Bild, das aber viel in sich birgt. Dieses Bild ist auf der Webseite leider nicht enthalten, daher kann ich es nicht extra verlinken.

Bilder aus den einzelnen Projekten sind auf der Webseite von Gregor Sailer zu sehen, ich habe sie jeweils beim Projekttitel extra verlinkt.

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Krimi Roman

Günter Brödl – Platzangst

CN dieses Buch: Alkoholmissbrauch, Spielsucht, Prostitution, Mord, Pornografie, BDSM, Snuff-Videos
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Wieder mal durch einen Literatur-Geocache auf dieses Buch gekommen, das sich als unterhaltsamer Krimi mit Schauplatz Wien und der Kunstfigur Dr. Kurt Ostbahn als Protagonist auszeichnet. Mir sind ja langsam die Krimireihen, wo irgendwelche Menschen, die eigentlich nicht beruflich mit Verbrechen zu tun haben, in einen Kriminalfall nach dem anderen stolpern zumeist suspekt. Da ich hier aber gleich den dritten Teil zur Hand hatte, in dem noch dazu auch der bereits zwangspensionierte Kriminalinspektor aus den ersten beiden Bänden selbst auf eigene Faust ermittelt, hat es sich hier irgendwie ganz natürlich angefühlt. Der vom Pech gejagte Ostbahn-Kurti will eigentlich nur ein Badezimmer in seiner Wohnung einbauen lassen, die dafür engagierten Handwerker finden jedoch bei einem anderen Auftrag eine Leiche und ziehen ihn mit hinein, worauf eins das andere gibt. Gezahlt wird noch in Schilling, die Schauplätze in Wien sind ausführlich und liebevoll beschrieben und charakterisiert und so manches Wiener Original taucht im Verlauf der Geschichte auf. Perfekt für alle, die Krimis (mit Wien-Bezug) mögen. 

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Krimi Roman Thriller

Bernhard Aichner – Totenrausch

CN dieses Buch: Mord, Prostitution, Folter, Brandmal, Gewalt, Pornografie, Masturbation, Drogenmissbrauch, Vergewaltigung, Kindesentführung
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In meinem Post zum vorherigen Roman der Blum-Reihe (Totenhaus) sah ich einen neuen Aspekt in der Persönlichkeit der Protagonistin Blum. Aus dem zentralen Motiv Rache war Notwehr geworden. So geht es auch in diesem dritten Teil weiter. Auf der Flucht gerät Blum in ein Abhängigkeitsverhältnis mit einem Rotlichtmagnaten und das kann natürlich nicht gut ausgehen. Der Roman spart nicht an brutalen Details und lässt Blum auch ordentlich leiden. Prägend ist wiederum ihr Mutterinstinkt. Als der Rotlichtboss ihre Kinder entführt, sieht Blum endgültig rot.

Ansonsten behält Bernhard Aichner seinen Schreibstil und das rasende Tempo der Geschichte bei. Der Schauplatz ist Hamburg, könnte aber genauso gut in jeder anderen größeren Stadt sein. Aber natürlich passt die Reeperbahn gut als Kulisse für die Verbindungen ins Rotlichtmilieu als Kontrast zum beschaulichen Leben in Blankenese. Wer die ersten beiden Teile gelesen hat, weiß, was sie/er zu erwarten hat.

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Roman

Dominika Słowik – Tal der Wunder

CN dieses Buch: Menstruation, Depression, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Suizid, sexuelle Handlungen, Belästigung, Angriff, Bedrohung
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Vielleicht war Großmutter auch allen Vorurteilen zum Trotz ein wenig sentimental und hatte in den Hühnern das erblickt, was mein Vater nie zu erkennen in der Lage gewesen war: das unentwirrbare Bild des Schicksals dieser Stadt.

Dieses Buch wurde von Autorin und Podcasterin Alexandra Tobor aus dem Polnischen ins Deutsche erzählt und sie hat in der Wrintheit davon erzählt. Was sie genau darüber gesagt hat, ist mir nicht erinnerlich, aber mit dem Buch hatte ich definitiv viel Spaß.

Der Untertitel „Der Esoteriker, die Genossin und der Arsch im Heiligenschein“ deutet schon an, dass hier komplexe Persönlichkeiten portraitiert werden, ohne sie zu ernst zu nehmen. Der Esoteriker wird sich als der Vater der Ich-Erzählerin herausstellen, die Genossin als ihre Großmutter mütterlicherseits, der „Arsch im Heiligenschein“ als Beispiel für eines der (vermeintlichen) Wunder, die das beschriebene Mahrtal und die Kleinstadt Zuckrowka immer wieder heimsuchen. Es ist der Autorin gelungen, zwischen den vielen Anekdoten, die sie über die schrägen Gestalten im Dorf erzählt, auch noch ein Geheimnis zu verstecken, das sich am Ende etwas unspektakulär auflöst. Ein Imker, der seine Bienen am Stock spazieren führt, wenn sie aus ihren heimatlichen Stöcken ausschwärmen. Eine junge Frau, die nachts über die Dächer des Dorfs schlafwandelt und dabei singt. Eine weinende Marienstatue, an deren wunderliche Wirkung nicht nur der Pfarrer fest glaubt. Gerüchte und Spekulationen treiben die Bewohner:innen von Zuckrowka an, Hauptsache, es gibt etwas zu tratschen. Das Ganze ist herrlich unaufgeregt und trotzdem unterhaltsam geschrieben. Empfehlung.

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English Fantasy Roman

Tamsyn Muir – Gideon The Ninth

CN dieses Buch: Gewalt, Tod, Mord
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“Too many words,” said Gideon confidentially. “How about these: One flesh, one end, bitch.”

The Ninth House necromancer flushed nearly black. Gideon tilted her head up and caught her gaze: “Say it, loser.”

“One flesh – one end,” Harrow repeated fumblingly, and then could say no more.

Wenn ich doch nur noch wüsste, wie es dieses Buch auf meine ToRead-Bookmark-Liste in der Libby-App geschafft hat …  Generell halte ich ja Genres (und die Art und Weise, wie sie oft verwendet werden, um Bücher in Literatur und Unterhaltung zu spalten) eher für unnötig. Aber um diesem Buch gerecht zu werden, muss ich erwähnen, dass die Geschichte wohl zu einem Genre zu zählen ist, das für mich völlig neu ist: Necromancer Fantasy.

Eine komplette Fantasiewelt, in der zu Beginn viele Wörter für mich keinen Sinn ergeben (manche übrigens auch am Ende noch nicht ganz). Neun Häuser, die alle einem unsterblichen Oberhaupt zu dienen haben. Ein Wettbewerb, in dem aus jedem Haus jeweils ein Necromancer und ihr:sein Kavalier als Team antreten, um die gehobene Position des Lyctors zu erreichen. Fein gezeichnete Charaktere (so viele davon, dass ich teilweise den Überblick über die Personen aus den verschiedenen Häusern verloren habe). Eine detailliert beschriebene Fantasiewelt, die ich mir trotzdem nur sehr mangelhaft ausmalen konnte. Ein Zusammenwachsen von Personen, die von Beginn an wie Feuer und Wasser wirken. Selten habe ich eine so überzeugende Umsetzung des klassischen Tropus „sie hassen sich/sie lieben sich“ gelesen. Einfach großartig. 

Und das Coverbild ist auch spektakulär. Großartige Arbeit von Tommy Arnold für Tor Books.

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Roman

Eva Schmidt – Ein langes Jahr

CN dieses Buch: Suizid, tödliche Krankheit
CN dieser Post: –


Auch dieses Buch entstammt einer Recherche zu einem Literatur-Geocache. Ich habe es gern gelesen, da es im Format von miteinander verwobenen Kurzgeschichten geschrieben ist. Es erzählt Episoden aus unterschiedlichen Perspektiven von Menschen, die in derselben Nachbarschaft wohnen, aber sich zumeist gar nicht oder nur sehr flüchtig kennen. Trotzdem herrscht eine Art gegenseitige Anteilnahme vor, es gibt Verständnis für die schwierigen Lebenssituationen (Scheidung, Krankheit, Trennung, Verlust von Mobilität, etc.). Gefallen hat mir auch der große Anteil an Hunden, die im Text vorkommen. Leicht zu lesen und am Ende dann doch überraschend traurig.

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Roman

Donna Tartt – Der Distelfink

CN dieses Buch: Terrorismus, Explosion, Tod der Eltern, Drogenmissbrauch, Alkoholmissbrauch, Suizidgedanken, Glücksspiel, Betrug, Depression, Gewalt, Mord, Schusswaffen
CN dieser Post: –


In all dem nach irgendeinem Sinn zu suchen, erscheint unglaublich bizarr. Vielleicht sehe ich ein Muster nur, weil ich zu lange hingestarrt habe. Andererseits, um Boris zu paraphrasieren, vielleicht sehe ich ein Muster, weil es da ist.

Dieses Buch habe ich auf meinem eBook-Reader schon im Weihnachtsurlaub ausgelesen und obwohl ich es irre gut finde, verschwindet es schon langsam aus meiner Erinnerung. Was mich wieder daran erinnert, warum ich diese Posts eigentlich schreibe …

Ein schicksalhafter Nachmittag in einem Museum in New York. Weder der Junge noch die Mutter sollten dort sein, als eine Explosion passiert, die die Leben mehrerer Personen beenden und die der Überlebenden miteinander verweben wird. Im Zentrum steht das Gemälde „Der Distelfink“, das vom jugendlichen Ich-Erzähler im Chaos nach der Explosion aus dem Museum entwendet wird. Fortan bestimmt das versteckte Gemälde (zuerst für zerstört gehalten, später von Expert:innen und Kunstpolizei weltweit gesucht) immer wieder subtil seinen Lebensweg. Seine (mehr oder weniger) zufällig geschaffenen Verbindungen mit der Familie Barbour, die ihn nach der Explosion bei sich aufnimmt; Pippa, die ebenfalls die Explosion überlebt hat; und Hobie, der bei der Explosion seinen langjährigen Geschäftspartner verloren hat, bringen ihn immer wieder nach New York zurück und steuern sein Leben in unterschiedliche Richtungen. Immer begleitet von dem Gedanken an den Distelfink, der seiner Freiheit beraubt ein Gemälde ziert, das nun niemand betrachten kann, weil das Gemälde selbst seiner Freiheit beraubt und versteckt wurde.