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Memoir

Maggie Nelson – Die Argonauten

CN dieses Buch: sexuelle Handlungen, Geschlechtsteile, Pornographie, sexueller Missbrauch von Kindern, Fehlgeburt, Abtreibung, Krankheit, Sterben
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Gerade bin ich die Liste meiner Kategorien nochmal durchgegangen und bin noch immer nicht zufrieden mit der Einordnung dieses Buchs. Schon zu Beginn des Lesens war ich mir nicht sicher, was ich eigentlich vor mir habe. Das Cover enthält nur den Titel, den Namen der Autorin, den Namen des Verlags und ein Zitat aus The Guardian. Der Einband auf der Umschlagseite 2 bestätigt schließlich, dass sich dieses Buch nicht so einfach einordnen lässt; es wird als eine Mischung aus Memoir, Theorie und Poesie beschrieben. Die Themen des Buchs sind die Beziehung der Autorin Maggie Nelson zu einer genderfluiden Person, und die Familie, die sich aus dieser Beziehung entwickelt. Diese Familie besteht aus Maggie, Harry, Harrys Sohn aus einer früheren Beziehung und Iggy, dem gemeinsamen Kind von Maggie und Harry. Diese ungewöhnliche Familienkonstellation bietet umfassenden Raum, um Geschlechterrollen zu hinterfragen, die Bedeutung der Stiefelternschaft zu erörtern oder Familienmodelle generell auf einen (queeren) Prüfstand zu stellen.

Dabei erlaubt sie sich, Fragen zu stellen, die unvermeidlich auftauchen, wenn ein Mensch eine Beziehung eingeht zu einem anderen Menschen, der sich nicht in eine binäre Geschlechtsidentität einordnet. Selbst in queeren Gemeinschaften gibt es Normen und Schubladen (wie butch oder femme); die Gefahr einer Bewertung droht nicht nur von der heteronormativen Normalgesellschaft sondern auch aus der eigenen Community, deren Einstellungen sich ebenfalls auf einem sehr breiten Spektrum verteilen. Gerade zwischen liebenden Menschen entstehen Missverständnisse bezüglich der (von innen) gefühlten und der (von außen) wahrgenommenen Identität. Wir wollen das Beste für unsere Partnerperson und stehen doch oft hilflos daneben.

Ich will einfach, dass du dich frei fühlst, sagte ich, meine Wut getarnt als Mitgefühl, mein Mitgefühl getarnt als Wut. Verstehst du es denn nicht?, schriest du zurück. Ich werde mich niemals so frei fühlen wie du, ich werde mich niemals so heimisch fühlen in der Welt, ich werde mich niemals so zu Hause fühlen in meiner eigenen Haut. So ist es einfach, und so wird es immer sein.

Gerade dieses „zu Hause fühlen im eigenen Körper“ und damit verbundene Veränderungen können wiederum der Partnerperson Angst machen. Kommt es auf eine äußere Transformation überhaupt an, wenn doch eigentlich das Innere unsere Identität ausmacht? Ja, denn Identität ist eben nicht nur das, was wir als unsere Persönlichkeit mit uns tragen. Unsere Äußerlichkeit ist ein Ausdruck dieser Identität. Vielen Menschen, die von der Gesellschaft als das gelesen werden, was sie auch tatsächlich in sich fühlen, ist überhaupt nicht bewusst, welches Privileg diese Einheit von Außenwahrnehmung und Innengefühl darstellt. Es ist keine Selbstverständlichkeit. (Dieses Thema habe ich im Blog Post zu Let’s Talk About Hard Things auch schon kurz angerissen.)

Und was, wenn du dich, nachdem du die großen äußeren Veränderungen vorgenommen hattest, immer noch unwohl in deinem Körper fühlen würdest und unwohl in der Welt? Als hätte ich nicht gewusst, dass es auf dem Gebiet von Gender unmöglich ist zu verzeichnen, wo das Innere und das Äußere beginnen und aufhören –

Ihre eigenen Erfahrungen einer queeren Partnerschaft; einer Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft; ihrer Suche nach einem Platz in der Welt ergänzt Maggie Nelson mit theoretischem Hintergrund in Form von Zitaten von bekannten Theoretiker:innen, die sich mit Fragen zu Feminismus oder Gender befasst haben. Ihre Beziehung zu ihrem Sohn und was es überhaupt bedeutet, eine gute Mutter zu sein, hinterfragt sie intensiv anhand der Schriften von Donald Winnicott, der mir bereits in Alison Bechdels Are You My Mother? begegnet ist (das Maggie Nelson auch an anderer Stelle in ihrem Werk erwähnt. Offenbar ist der deutsche Titel Wer ist hier die Mutter?, was ich sehr seltsam finde).

Auch viele Künstler:innen kommen zu Wort, manchmal als Beispiele für queeres Leben, an anderen Stellen liefern sie Erklärungen für all die Unsicherheiten und Missverständnisse, die auftreten, wenn Menschen nach binären Kategorien eingeteilt werden. Binäre Kategorien sind überall, wie etwa auch „der Binarismus von normativ und transgressiv“, der Menschen dazu zwingen soll, Leben zu leben, „die nur eine einzige Sache sind“.

Ich lag in allem falsch – ich war in meinen eigenen Wünschen und Ängsten eingeschlossen und bin es noch immer. Ich versuche nicht, diese Verkehrtheit hier zu korrigieren. Ich versuche nur, sie offenzulegen.

Der obige Absatz folgt auf eine Reflexion, in der die Autorin ihren Blickwinkel auf Schwangerschaft bzw. schwangere Frauen und ihre Körper in ihrem eigenen Zeitverlauf nachvollzieht. Wir sehen andere Menschen immer aus unserer eigenen Lebenssituation heraus. Nicht nur unsere eigene Identität und unsere Wünsche prägen unsere Wahrnehmung von anderen Menschen, auch unsere aktuelle Lebenssituation und die Lebenserfahrungen, die wir bereits gemacht haben, beeinflussen unsere Wahrnehmung.

Für mich war die zentrale Erkenntnis (oder ein Wieder-Erkennen), dass wir niemals tatsächlich wissen können, was eine andere Person fühlt, selbst dann nicht, wenn wir dieser Person sehr nahe sind. Unsere einzige Möglichkeit, dem Verständnis näher zu kommen, ist es daher, zuzuhören. Zuzuhören, anzunehmen, dass es überhaupt ein anderes Empfinden als das Eigene geben kann und dann zu verstehen, dass jedes Empfinden einzigartig ist, selbst wenn wir Parallelen zu sehen meinen.