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English Roman

Toni Morrison – Beloved

CN dieses Buch: Sklaverei, Folter, sexuelle Gewalt an Menschen und Tieren, Mord
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Wozu es führt, wenn Menschen uneingeschränkte Macht und Verfügungsgewalt über andere Menschen haben, hat mich zuletzt in Octavia E. Butlers Parable of the Sower und Parable of the Talents mitgenommen. In diesem Buch von Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison werden diese Abgründe gezeigt, aber auch umgedreht. Sie zeigt nämlich auch, wozu Menschen sich gezwungen fühlen können, wenn sie absolut keine Macht haben, wenn sie der Willkür anderer dermaßen ausgeliefert sind, dass ihnen scheinbar nichts mehr anderes bleibt als die Entscheidung über Leben und Tod ihrer selbst und ihrer Angehörigen.

I’ll explain to her, even though I don’t have to. Why I did it. How if I hadn’t killed her she would have died and that is something I could not bear to happen to her.

Schon lange hatte ich nicht mehr das Gefühl, von einem literarisch wichtigen Werk so wenig verstanden zu haben. Dieses Leben, diese Unterdrückung, diese Hilflosigkeit, dieses Kämpfen um jeden einzelnen Augenblick, ständig gejagt, ständig geprägt von Sorge und Trauer um die Angehörigen; dieses Leben, das die Protagonistin Sethe schließlich zu ihrer Verzweiflungstat treibt – dieses Leben war real, auch wenn diese Geschichte Fiktion ist. Und das ist für mich genauso unvorstellbar wie der Krieg, der gerade in der Ukraine stattfindet. Reading Guides haben mir etwas bei der Einordnung geholfen. Trotzdem blieb mir diese Welt, diese Sprache, dieses Leben auf eine Art fremd, die ich selbst nicht wirklich einordnen kann. Es ist ein grausames, wahres und wichtiges Buch, das diese Epoche der Menschheitsgeschichte in all ihrer Menschlichkeit zeigt.

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English Roman

Margaret Atwood – The Handmaid’s Tale

CN dieses Buch: Vergewaltigung, Hinrichtung, Gewalt
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When power is scarce, a little of it is tempting.

Ich habe diesen Post jetzt einige Tage vor mir hergeschoben, weil es mir nicht gelungen ist, die vielen Facetten dieser Geschichte in einen ordentlichen Zusammenhang zu bringen. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich zu diesem Buch wohl gegriffen hätte, wenn es nicht durch die Hulu-Serie derartige Popularität erlangt hätte. Es hat mich darüber nachdenken lassen, wie interessant das eigentlich ist, dass so viele Bücher nun als Filme oder in Serienform zweitverwertet werden, weil es so viele private Filmhersteller bzw. Streaminganbieter, die original content machen, gibt. American Gods wurde kurz nachdem ich das Buch gelesen habe, intensiv als Serie beworben. (Herausgekommen ist die Serie in englischer Sprache wohl schon 2017, ich erinnere mich aber, dass sie im Sommer 2018 in Deutschland und Österreich sehr in Plakaten und Citylights zu sehen war.)

Wie schon bei Game of Thrones möchte ich auch diese Serie nicht sehen. Es ist schwierig genug, sich im Buch mit den komplexen Emotionen auseinanderzusetzen und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie das in einem audiovisuellen Medium gehen soll.

Das Buch spielt in einem totalitären Staat, in dem durch Krieg und Krankheiten die Fruchtbarkeit dramatisch gesunken ist. Frauen (Männer vermutlich auch, aber da wird es nicht so deutlich) sind in eine Art Klassengesellschaft eingeteilt. Ihre Rolle wird ihnen zugewiesen und sie haben sich an die Regeln dieser Rolle zu halten. Die Erzählstimme des Buchs hat die Rolle einer Handmaid – einer Frau, die dazu bestimmt ist, Kinder auszutragen. Sie wird einem Mann, einem Commander, zugewiesen, um dann mit diesem – in einem brutalen Ritual, das auch die Anwesenheit der Ehefrau des Commanders einschließt – ein Kind zu zeugen und zu gebähren. Sie wird entweder nach dem Vollzug (einer Schwangerschaft und Geburt) oder nach einem gewisssen Zeitraum (falls es nicht zur Schwangerschaft kommt) einem anderen Mann zugewiesen.

We’ve given them more than we’ve taken away, said the Commander. Think of the trouble they had before. Don’t you remember the singles’ bars, the indignity of high school blind dates? The meat market. […] Think of the human misery.

Argumentiert bzw. verteidigt wird dieses System originellerweise mit der Sicherheit der Frauen. Sie haben es ja gut, sie haben einen fixen Platz, beschränkte Aufgaben und (sehr beschränkte) Freiheiten und werden von den Gefahren des vergangenen Alltags geschützt. Freiheit wird als Gefahr dargestellt. Gleichzeitig wird deutlich, dass jedes totalitäre System immer Freiheiten für bestimmte Personengruppen bieten muss. Anders lässt sich ein solches System nicht aufrechterhalten. Es gibt immer privilegierte Gruppen, die die Unterdrückung der anderen aufrecht erhalten, weil sie selbst davon profitieren.

As the architects of Gilead knew, to institute an effective totalitarian system or indeed any system at all you must offer some benefits and freedoms, at least to a privileged few, in return for those you remove.

Zwei Faktoren sind mir noch ins Auge gestochen: einerseits die Tatsache, dass auch in diesem Roman den Frauen das Schreiben und Lesen verboten ist. Das ist mir zuletzt in Gathering Blue begegnet. Lesen und Schreiben ist in dystopischen Geschichten oft eine Art Machtsymbol. Den unterdrückten Gruppen ist das Lesen und Schreiben verboten, sie sollen so davon abgehalten werden, sich zu organisieren oder überhaupt zu erkennen, wie ungerecht die Gesellschaft ist.

This is one of the things I wasn’t prepared for – the amount of unfilled time, the long parentheses of nothing.

Das Zweite ist eine Passage, die im Hinblick auf die aktuelle Situation relevant ist. (Bin gespannt, wann ich mal aufhören kann, diese Formulierung zu verwenden, weil die aktuelle Situation dann hoffentlich irgendwann eine andere ist …) Die Protagonistin beschreibt die quälende Langeweile, die ihre Tage ausfüllt. Sie hat nichts zu tun, sie darf nichts tun, sie darf sich nicht beschäftigen und dadurch werden ihre Tage zu einer elendslangen Gefangenschaft. So kommt es mir auch an manchen Tagen vor. Alles, was ich gern tun würde, darf ich nicht. Alles, was ich darf, habe ich in den letzten Monaten bereits zur Genüge getan und es hat kaum noch einen Reiz mehr für mich. Mir fehlt die Abwechslung. Und doch bin ich dankbar, dass ich wenigstens lesen kann und darf. Weil das Nichtstun erst recht verrückt macht. Es lenkt den Fokus auf die Sehnsucht nach allem, was wir nicht haben können. Auch wenn zuviel Ablenkung auch schlecht sein kann (da wären wir wieder bei der Balance), geht es ohne Ablenkung ganz sicher nicht. Dieser Tage beschäftigte ich mich intensiv mit der Frage, wie lässt sich dieses Jahr bestmöglich bestreiten? Wie können wir agieren anstatt immer nur zu reagieren (wenn überhaupt eine Reaktion gerade erlaubt ist …)? Wenn ich eine Antwort gefunden habe, werde ich sie dokumentieren.

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English Jugend Roman

Lois Lowry – Gathering Blue

CN dieses Buch: Tod, Sterben
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Suddenly  Kira knew that although her door was unlocked, she was not really free. Her life was limited to these things and this work.

Meta: Gerade ist mir wieder aufgefallen, dass die Linsen, durch die wir unsere Buchauswahl treffen, einen großen Einfluss darauf haben, welche Bücher wir auswählen. Hin und wieder blättere ich durch die Neuerscheinungen oder die populären Bücher in der OverDrive eLibrary und da muss mir irgendwie Lois Lowry entgegen gesprungen sein. Obwohl in meiner Papierausgabe von The Giver bereits am Ende des Buches angegeben war, dass es sich um ein Quartett handelt, muss ich das übersehen haben. In der Anzeige der OverDrive eLibrary war allerdings der Vermerk #1 in Series nicht zu übersehen. Mir ist auch aufgefallen, dass ich in letzter Zeit hauptsächlich auf englisch gelesen habe. Der Komfort der OverDrive eLibrary hat mich ziemlich im Griff. Ich versuch jetzt, bewusst auch zu den Altlasten zu greifen, die schon ewig auf dem Regal der ungelesenen Bücher stehen (San Miguel war auch eins von denen).

Vorerst ist unklar, ob eine Verbindung zwischen der Welt von The Giver und der Welt in diesem Roman besteht. Kann das eine eine Vergangenheit oder Zukunft des anderen sein? Ich hoffe sehr, dass sich das in den weiteren Büchern noch auflöst … ohne eine Verbindung zwischen den Welten wäre es wohl kaum als Quartett zu bezeichnen?

Jedenfalls hat es die Leserin auch hier mit einer eher dystopischen Welt zu tun, in der „beschädigte“ Menschen kein Lebensrecht haben und in der mit Zähnen und Klauen um jeden Vorteil gekämpft wird. Die Oberen schüren Angst vor den Bestien im Wald, um die Bewohner*innen im Zaum zu halten. Frauen ist es bei Strafe verboten, lesen zu lernen. Die Geschichte dieser Gesellschaft wird allein durch einen Gesang bewahrt, den ein speziell dafür ausgebildeter Sänger einmal im Jahr bei einer großen Versammlung vorführt.

Der Plot Twist am Ende hat mich dann nur mäßig überrascht, irgendwie war der Pfad schon deutlich zu erkennen. Der Kapitelauszug des nächsten Bandes am Ende lässt hoffen, dass wir erfahren, was die Zukunft dieser Gemeinschaft bringen wird.

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English Roman

V.E. Schwab – The Invisible Life of Addie LaRue

What she needs are stories. Stories are a way to preserve one’s self. To be remembered. And to forget. […] Books, she has found, are a way to live a thousand lives – or to find strength in a very long one.

Es gibt diese Bücher, die so gut sind, dass es nahezu unmöglich ist, darüber etwas zu schreiben. Das ist eines davon. Ich werde daher nur ein paar Zitate und Aspekte aneinanderreihen und lege jeder interessierten Leserin ans Herz, selbst zuzugreifen und sich an dieser großartigen Geschichte zu erfreuen.

You wanted to be free, says a voice in her head, but it is not hers; no, it is deeper, smoother, lined with satin and woodsmoke.

Eine Frau, die aus dem von der Gesellschaft für sie vorgesehenen Leben ausbrechen will. Sie will mehr als das karge, harte Leben, das Frauen im 18. Jahrhundert in einem ländlichen Dorf in Frankreich erwarten können. Sie will es so sehr, dass sie bereit ist, dafür alles zu geben.

Freiheit gibt es nicht geschenkt. Sie beinhaltet Fallstricke, die Addie an ihrer Entscheidung zweifeln lassen. Wie frei können wir überhaupt sein innerhalb der Grenzen, die uns Zeit und Raum auferlegen? Zumindest in Geschichten können diese Grenzen verschoben werden, jedoch auch hier nie ganz überwunden.

Nervous, like tomorrow, a word for things that have not happened yet. A word for futures, when for so long all she’s had are presents.

Erinnerungen, die wir mit anderen Personen teilen, haben die einzigartige Fähigkeit, Verbindungen zu schaffen, die nur zwischen Personen existieren, die gemeinsam Erlebtes teilen. Was bedeuten Erinnerungen, die in Kunst verewigt werden? Welche Möglichkeiten gibt es, in Erinnerung zu bleiben, wenn sich niemand an uns erinnert?


Take this, Instagram:

I remember seeing that picture and realizing that photographs weren’t real. There’s no context, just the illusion that you’re showing a snapshot of a life, but life isn’t snapshots, it’s fluid. So photos are like fictions. I loved that about them. Everyone thinks photography is truth, but it’s just a very convincing lie.


Eine Frau, die selbst angesichts unbezwingbar erscheinender Hindernisse niemals aufgibt. Die immer einen Weg findet, um von einem Tag zum Nächsten zu überleben. Die immer wieder etwas Schönes in der Welt entdeckt.

He is all restless energy, and urgent need, and there isn’t enough time, and he knows of course that there never will be. That time always ends a second before you’re ready. That life is the minutes you want minus one.

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English Roman Science Fiction

John Scalzi – Redshirts

“Jenkins, listen to me,” Dahl said, leaning in, “There’s no way to hide from this. There’s no way to run from it. There’s no way to avoid fate. If the Narrative exists – and you and I know it does – then in the end we don’t have free will. Sooner or later the Narrative will come for each of us. […]”

Ohne Spoiler wird dieser Blog Post nicht funktionieren. Ich glaube zwar, dass durch ein voriges Wissen der Struktur der Geschichte der Lesespaß nicht vollkommen verdorben wird. Ich könnte mir nach dem letzten Drittel durchaus vorstellen, dass es interessant wäre, den vorderen Teil nochmal mit anderem Wissen zu lesen. Aber seid gewarnt, ich werde essenzielle Teile der Geschichte verraten müssen, um zu beschreiben, was an dieser Geschichte gut und irritierend ist. Wobei ich vorab sagen möchte, dass es sich sowohl als Unterhaltung gut lesen lässt, als auch als existenzielle Frage nach dem Wesen des Menschen und der Möglichkeit des Freien Willens.

Im ersten Teil geht alles sehr schnell, wir lernen einige Personen kennen, die gerade ihren Dienst auf dem Raumschiff Intrepid antreten. Bevor ich mir noch alle Namen gemerkt hatte, waren bereits die ersten dieser Personen auf einer Außenmission zu Tode gekommen. Wie sich später zeigt, steckt dahinter ein Muster. Während die lange gedienten Crew-Mitglieder immer wieder mit dem Leben davon kommen, kommt bei jeder Außenmission zumindest ein frisches Crew-Mitglied grausam zu Tode. Was die neuen Crew-Mitglieder misstrauisch macht. Ein mysteriöser Yeti-ähnlicher Charakter, der aus den Frachttunneln tief im Inneren des Raumschiffs auftaucht, trägt zusätzlich zur Verwirrung bei.

Es folgt die Erkenntnis, dass die handelnden Personen Nebencharaktere in einer schlechten Science-Fiction-Serie sind. Wobei unterschwellig die Frage nach dem freien Willen erörtert wird und die Frage, was eine Person überhaupt zu einer Person macht. Sind die Charaktere der Serie nun eine eigene Person, obwohl derselbe Körper in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort ein völlig anderes Leben führt?

Die Charaktere auf der Intrepid erarbeiten einen relativ absurden Plan, um mit den Produzent*innen der Serie in Kontakt zu treten, um so ihren eigenen Tod zu verhindern. Mit einem großen Knall verschwinden sie dann alle aus dem Buch, um im letzten Teil Platz zu machen für den Schreiber der Serie, der nun damit hadert, dass er nichts mehr schreiben kann, ohne sich dabei als Mörder zu fühlen. Das Ende wartet mit einer überraschenden Enthüllung auf, die für den abrupten Bruch mitten im Buch nur halbwegs entschädigt.

“Doesn’t that mess with you?” Abnett asked. “Knowing that you exist, and don’t exist, and are real and aren’t, all at the same time?”

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Roman

Colson Whitehead – The Underground Railroad

And destroy that what needs to be destroyed. To lift up the lesser races. If not lift up, subjugate. And if not subjugate, exterminate. Our destiny by divine prescription – the American imperative.

Dieser Roman gibt tiefe Einblicke in das Leben der Sklaven im Süden der USA im 17. und 18. Jahrhundert. Die Protagonistin Cora flieht von der Baumwollplantage, auf der sie geboren wurde und ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hat. Sie ergreift trotz großer Gefahr die Chance auf ein freies Leben. Ihr Weg ist lange und von vielen Rückschlägen und Demütigungen geprägt. Am Ende des Buches ist sie noch immer auf dem Weg.

Die Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Der Leser lernt sowohl die Sicht der Sklaven kennen, die bereits auf der Plantage geboren wurden und kein freies Leben kennen, als auch die der Gegner der Sklaverei, die teilweise ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um Menschen die Freiheit zu ermöglichen und sie vor Misshandlung und Mord zu schützen.

Cora hat in einem ihrer Verstecke viel Zeit, sich mit Büchern auseinanderzusetzen und über die Ungerechtigkeit der Welt nachzudenken. Dem Autor ist es gelungen, ihre Weltsicht einzufangen, ohne ausschließlich zu moralisieren. Interessant ist auch die Perspektive des Sklavenjägers (siehe Zitat oben), die auch die Meinung vieler Sklavenhalter widerspiegelt. Teilweise schmerzt es fast, die Beschreibungen der damals weit verbreiteten Rassenlehre und damit der Vorstellung von mehr oder weniger wertigen Menschen zu lesen. Es ist auch erschreckend (und notwendig), sich bewusst zu machen, dass auch heute noch eine Klassengesellschaft existiert, in der manche Menschen als wertvoller erachtet werden als andere. Die Idee der Chancengleichheit für alle ist nach wie vor eine Illusion oder ein nobles Wunschbild.

Helfen kann hierbei nur der Gedanke, dass jede und jeder auch an einem anderen Ort, in einer anderen Kultur, unter anderen Umständen geboren werden hätte können. Wir haben uns unseren Platz im Leben nicht nur selbst erarbeitet, wir haben Startvoraussetzungen mitbekommen, die rein vom Zufall bestimmt sind. Für diese Startvoraussetzungen sollten wir dankbar sein und jene unterstützen, die mit weniger Vorteilen ins Leben gestartet sind. Gerade Menschen, die aus einem anderen Land zu uns kommen, die in einem Land geboren wurden, in dem Krieg herrscht und in dem sie kein gutes Leben führen können, sollten alle Chancen bekommen, die ihnen bisher versagt wurden. Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf ein gutes Leben. Jede und jeder.

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Kurzgeschichten

Judith Schalansky – Taschenatlas der abgelegenen Inseln

Auf der endlosen, kugelförmigen Erde kann jeder Punkt zum Zentrum werden.

Dieses Buch hatte ich zuerst jahrelang auf einer Wunschliste, dann habe ich es bei einer meiner Amazon-Bestellungen mitbestellt, dann stand es ewig im Regal. Eigentlich hatte ich es als A book at the bottom of your to-read list aus dem Regal genommen, da die Inseln jedoch in sehr kurzen Episoden beschrieben werden, wird nun A book of short stories abgehakt.

Die zweidimensionale Weltkarte ist ein Kompromiss, der die Kartografie zu einer Kunst zwischen ungehörig vereinfachender Abstraktion und ästhetischer Weltaneignung werden ließ. Am Ende geht es schlichtweg darum, die Welt zu erfassen, nach Norden auszurichten und gottgleich zu überblicken.

Was mich an diesem Buch interessiert hatte, wurde mir schon beim Lesen der Einleitung klar. Seit über zehn Jahren hängt in meinem Büro eine Europakarte, auf der ich die Orte, die ich besucht habe, mit Pinnadeln markiert habe. Es macht mir Freude, mir die Verteilung der Pinnadeln anzuschauen, weiß Flecken auf der Landkarte zu identifizieren und mir Urlaubsreisen auszumalen, die ich unternehmen könnte. In kleinerem Rahmen unternehme ich solche Reisen ständig auf der Geocaching-Map, wenn ich zu planen versuche, welche Caches sich in sinnvoller Reihenfolge kombinieren lassen. Diese Freude am Reisen auf der Landkarte beschreibt auch Judith Schalansky in ihrem Vorwort.

Das Konsultieren von Karten kann zwar das Fernweh, das es verursacht, mildern, sogar das Reisen ersetzen, ist aber zugleich weit mehr als eine ästhetische Ersatzbefriedigung.

Im Taschenatlas hat die Autorin kleine (und nicht so kleine) Inseln versammelt, viele sind unbewohnt, manche versammeln erstaunlich viele Personen auf kleinem Raum. Zu jeder Insel findet man die Information der Fläche in Quadratkilometern sowie die Einwohnerzahl, eine grafische Darstellung der Insel sowie die Entfernungen zu den nächsten Inseln bzw. dem Festland (zur Einordnung auf der Skala der Einsamkeit).

Zu jeder Insel gibt es auch eine Geschichte. Eigentlich sind es weniger Geschichten als Anekdoten, kurze Episoden, die einen interessanten Aspekt herausgreifen und in blumiger Sprache beschreiben. Über St. Helena wird beispielsweise die Ausgrabung des dort verstorbenen Napoleon erzählt.

43 Männer schleppen den Sarkophag in strömendem Regen zur Straße, wo er auf einen Wagen gehievt wird, bedeckt von einem violetten Bahrtuch, mit goldenen Bienen und versalem N bestickt. Drei Tage später, am 18. Oktober 1840, wird der Anker gelichtet. Der Kaiser kehrt heim.

Ein besonders berührendes Beispiel ist die Beschreibung der unbewohnten Insel Semisopochnoi (russisch: hat sieben Hügel).

Hier – über dem pazifischen Feuerring – redet die Erde mit sich selbst, von Menschen weitgehend unbemerkt. Immer wieder kommt es zu Vulkanausbrüchen, die niemanden bedrohen. Der Höllenhundberg ist der lebhafteste. Er wacht mit drei Gipfeln über das schüttere Bergland, das der immerwährend bedeckte Himmel purpurn färbt. Ein paar der Krater stoßen ab und an kleine Rauchfahnen aus, aber das können auch Wolken sein, die an den Gipfeln hängen bleiben.

Unter anderem lernte ich neues über die Schrecken des Eises und der Finsternis. Der Titel geht wohl zurück auf die Namen zweier Schiffe, die während einer Expedition im ewigen Eis eingeschlossen wurden: Terror und Erebus.

Der Schrecken und die Finsternis bleiben verschollen. Eine kleine Insel aus Lavagestein ist Franklins Denkmal, sein Grab aber liegt unter Eis am anderen Pol.

Alles in allem eine spannende Sammlung an Geschichten über Orte, an denen auch ich definitiv niemals sein werde (Untertitel des Buches: Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde). Wer seinen Urlaub zuhause verbringt, wird in dieser Geschichtensammlung sicher etwas Trost finden.

Die Sehnsucht wird immer größer sein, größer als die Befriedigung durch das Erreichen des Ersehnten.

Reading Challenge: A book of short stories

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Roman

Joey Goebel – Ich gegen Osborne

Am liebsten hätte ich eingeworfen, dass Woolworth nur auf diejenigen herabsah, die es nicht anders verdient hatten, doch man musste sich an die Etikette halten.

Dieses Buch hatte ich schon seit Ewigkeiten auf der Liste, Joey Goebel hatte mich in der Vergangenheit noch nie enttäuscht (Heartland, Vincent). In der Bücherei hatte ich Glück und das Buch war gerade verfügbar.

Er hatte Recht. Ich war immer wieder erstaunt, wie grausam andere sein konnten.

Wir begleiten James Weinbach an einem Tag durch sein Highschool-Leben. James ist ein Außenseiter. Er ist in seine beste Freundin Chloe verliebt, sein Vater ist vor Kurzem gestorben, er trägt täglich einen Anzug seines Vaters und fällt allein schon deshalb aus der Rolle. Chloe, bis vor Kurzem selbst Außenseiterin, hat jedoch den Spring Break mit den coolen Kids an einer Party Location verbracht und nun werden über sie die wildesten Gerüchte verbreitet. Im Literaturkurs wird James Text kritisiert. Um nicht zu sagen von den anderen Schülern vernichtend auseinander genommen. James rastet aus.

Es ist schwierig, die Geschichte irgendwie zusammenzufassen, weil es eigentlich die Erkenntnisse sind, die zwischen den Zeilen stehen, die die Geschichte so faszinierend machen. Erst im letzten Drittel des Buches wurde mir klar, wie gefinkelt der Autor das alles angelegt und geplant hat. James ist ein totaler Gutmensch. Er hält sich selbst für besser und schaut auf seine Schulkollegen herab. Und ist deshalb ein arroganter Arsch. Und tatsächlich ist er gar nicht so viel anders als seine Schulkollegen, denn als seine Gefühle verletzt werden, schlägt er wild um sich und lässt seinen Rachegelüsten freien Lauf.

Mir missfiel, dass ich Chlors frühere Einstellung gegenüber Sweeney verraten hatte, was eine Kränkung Chlors und nicht gentlemanlike war. Er sorgte dafür, dass ich unter mein Niveau sank. Wie ich ihn hasste. … Das Gesicht eines Knaben, der wahrscheinlich Hass auf seine Eltern empfand, es war der Gesichtsausdruck eines Menschen, dessen Psyche in einer Art dauerhaftem Freitagabend feststeckte.

Der Leser hört James immer wieder darüber nachdenken, wie schlecht seine Kollegen nicht sind, wie niedrig ihre Sprache ist, wie er ihre niveaulose Musik und alle ihre niedrigen Aktivitäten verabscheut. Als Erwachsener kann man stückweise mit ihm mitfühlen, erkennt aber gleichzeitig, dass diese Einstellung zwangsläufig zu einer Katastrophe führen muss. James erkennt schließlich, dass er seine Mitschüler ständig be- und verurteilt, ohne ihre persönlichen Lebensumstände zu kennen.

Am Ende des Tages kommt es zu einem versöhnlichen Gespräch zwischen James und Chloe, in dem sie ihm diese Frage stellt:

Willst du denn nicht, dass die Leute frei sind?

Mit dem Unterton, dass die Menschen frei sein sollten, um auch schlechte Entscheidungen zu treffen. Mit der Botschaft, dass Menschen nur dann denken und selbständig leben können, wenn sie die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, und mögen es noch so schlechte Entscheidungen sein, die sie den Großteil der Zeit treffen. Gute Entscheidungen können genauso nur aus Freiheit entstehen.

Reading Challenge: A book set in high-school

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Roman

Elfriede Vavrik – Nacktbadestrand

Mir ist es egal, warum diese Männer mich begehrten. Ich wollte nur begehrt werden. Und was war schon dabei? Jeder Mann hat bestimmte Vorlieben. … Wer legt den Rahmen fest, was normal ist? Normal ist doch, was niemandem schadet. Wenn Männer, die alte Frauen mögen, mit ihnen schlafen, wem schadet das? Und wenn eine Frau mit achtzig in der Liebe nachzuholen versucht, was sie in mehr als einem halben Jahrhundert versäumt hat, wem sollte das schaden?

An der Oberfläche: die 79-jährige Elfriede Vavrik entdeckt ihre Sexualität. Nach zwei gescheiterten / lieblosen Ehen hat sie 40 Jahre lang allein gelebt. Nun macht sie sich auf, die Männer zu entdecken. Über Kontaktanzeigen, zuerst in der Zeitung, dann auch im Internet, lernt sie Männer unterschiedlichsten Alters kennen und macht dabei ihre Erfahrungen. Nebenbei schreibt sie erotische Kurzgeschichten und wehrt sich gegen die Anwürfe der eifersüchtigen Nachbarin.

Ich war etwas zu kurzsichtig, um sie genauer ins Auge zu fassen, aber über allem lag eine Atmosphäre von Freiheit, und es war eine, die mich miteinschloss. Ich war wirklich frei, schon die ganze Zeit über, aber ich hatte es bei all der Aufregung, die mein neues Leben brachte, noch nie in dieser Intensität gespürt. Ich tat, was ich wollte. Ich genoss meine Zeit. Ich nahm mir, was sie mir bot.

Unter der Oberfläche: Nach langen Jahren, die sich die Protagonistin (die Autorin?) kein eigenes Leben, kein eigenes Wollen, keine eigenen Sehnsüchte gestattet und hauptsächlich für ihre Kinder gelebt hat, entdeckt sie die Freiheit, sich selbst etwas Gutes zu tun und auf ihre eigenen Bedürfnisse zu schauen. Die Nachricht ist auch: für selbstbestimmtes Leben ist es nie zu spät. Es bringt nichts, darüber zu jammern, was man verpasst hat. Mensch kann sein Leben jeden Tag ändern. Auch, wenn sie bereits das stolze Alter von 79 erreicht hat. Es wird immer Hindernisse und Fehlschläge geben, aber es ist nie zu spät, es zu versuchen. Und natürlich: Toleranz. Jedem zugestehen, sein Leben zu leben, wie er es will, solange dabei niemand anderer verletzt wird.

Randnotiz

Vor einem Kaffeehaus wartend und durch mein Instapaper scrollend, kam mir ein Gedanke zu einem Thema, dass mich immer wieder beschäftigt, das ich aber bisher nie so recht in Worte fassen konnte: wenn ein Begriff von einer Mehrzahl von Personen (inkl. Medien) nicht mehr ursprungsgemäß verwendet wird, welche Bedeutung gilt dann? Seit Jahren verschlucke ich mich regelmäßig an der Verwendung des Wortes realisieren. Das PONS-Online-Wörterbuch dazu: verwirklichen. Einen Plan / ein Projekt verwirklichen. Immer wieder fällt mir jedoch auf, dass nicht mehr nur im Trash-Fernsehen der Begriff im Sinne des englischen “to realize” (etwas erkennen, sich etwas klar machen) verwendet wird.

Als weiteres Beispiel ist mir im Rahmen der #nowkr Debatte auf Twitter entgegengeflogen (und war letztlich der Auslöser für diese Randnotiz): der schwarze Block. In der Wikipedia kann man dazu nachlesen, dass es sich um eine „Demonstrationstaktik von Gruppierungen, die nach außen hin aufgrund von Verhalten und meist schwarzer Kleidung und Vermummung homogen wirken“ handelt. In den Medien wurde der Begriff jedoch häufig als Bezeichnung für eine Gruppe autonomer Randalierer verwendet, unter anderem auch bei dem von mir für seine scharfen Analysen geschätzten @martinblumenau in seinem Nachtrag zur Akademikerball-Berichterstattung (der erste Teil der Berichterstattung).

Wenn nun ein Großteil der Menschen – die Medien haben hier in meinen Augen eine richtungsweisende Wirkung – einen Begriff nicht mehr im ursprünglichen Sinn verwendet, müssten dann nicht beide Sichtweisen zulässig sein? Die ältere Bedeutung zu eliminieren, fände ich weder richtig, noch durchführbar. Lebende Sprache ist ein sich veränderndes Konstrukt, das zeigen uns schon die mit großem medialen Radau jährlich gekürten Jugendwörter des Jahres. Sollte man nicht das Oberlehrer-hafte etwas beiseite lassen? Natürlich ist ein Verweis auf die ursprüngliche Bedeutung eines Wortes immer zulässig. Aber eine neue Bedeutung für einen Begriff kann doch nicht zwangsläufig falsch sein?

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Roman

Arno Geiger – Alles über Sally

Vielleicht stimmte es, dass alles Friedliche eine unruhige Vergangenheit besitzt. Vielleicht wussten sie es nur nicht, weil wie so dumm waren wie das Leben selbst.

Wenn der Weihnachtsstress hereinbricht, kann einem diese Onlinebücherei ganz schön Stress verursachen … gerade hab ich’s noch geschafft, das Buch zu beenden, bevor es vorweihnachtlich verschimmelt. Und das noch mit einem unerwarteten Bug. Die Erstdatei mit allen meinen Bookmarks hat sich vor der Zeit selbst zerstört und daher sind meine ganzen Notizen und Highlights weg. Immerhin konnte ich es nochmal runterladen und wenigstens noch die letzten 15 Seiten lesen. Ich sah mich schon in der Buchhandlung stehen und dort zu Ende lesen …

Also … alles über Sally. Arno Geiger ist auch einer dieser österreichischen Autoren, die in den vergangenen Jahren so gehypt wurden, dass ich schon mal prinzipiell skeptisch bin, sie könnten abgehoben und metaphorisch sein, sodass man nichts versteht (mit Clemens J. Setz’ Söhne und Planeten konnte ich beispielsweise überhaupt nichts anfangen). Bei „Alles über Sally“ ist sich der Einstieg bei weitem nicht so kompliziert und auch wenn sich Sally oder ihr Mann Alfred manchmal in etwas zu ausgedehnten Grundsatzmonologen verlieren, wird es doch selten langweilig.

Arno Geiger zeichnet die Ehe von zwei gealterten Menschen, die in ihrer Jugend aus dem Establishment ausbrechen wollten (wollten wir das nicht alle?), die dann aus einem niemals thematisierten Grund den traditionellen Weg Heirat-Haus-Kinder einschlagen und 20 Jahre später ernüchtert feststellen, dass ihre Ehe unter der Last der Zeit zerbröselt. Während Alfred sich selbst versichert, alles nochmal genauso machen zu wollen, träumt Sally von Freiheit und fragt sich, ob sie nicht mehr vom Leben haben hätte können. Beide haben Affären, beide wissen von den Affären des anderen, beide wähnen sich in Sicherheit, beide schweigen.

Bedrückend ist die Realitätsnähe, die man auf jeder Seite spüren kann. Dieses Paar könnten unsere Nachbarn sein, dieses Paar könnten wir aber auch selbst noch werden, dieses Paar könnten wir gewesen sein (je nach Alter). Dieses junge, lebensfrohe Paar könnten wir gewesen sein wollen. Und doch steht niemals eine Trennung von Sally und Alfred wirklich im Raum. Sie hängen aneinander, an der Sicherheit, die sie sich gegenseitig geben. Vielleicht ist es diese Sicherheit, die eine Ehe ausmacht, die viele Ehen am Leben hält, während andere auseinandergehen. So schenkt ihnen der Autor auch zum Abschluss einen versöhnlichen, nachweihnachtlichen Moment der Stille.