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Roman

T.C. Boyle – Die Frauen

Olgivanna erkannte die Mopsnase, das feste Kinn, den zusammengekniffenen, unersättlichen Mund und den überdimensionalen Turban, der ihr über die Augenbrauen gerutscht war – und dann die Augen selbst, schreckhaft geweitet, als würde sie schon ihr Leben lang wieder und wieder mit einer Nadel gestochen.

Da stocherte ich wieder mal in der Onlinebibliothek der Büchereien Wien um, diesmal mit den Suchkriterien „Bestleiher“ und „verfügbar“. Stieß auf diesen Roman und dachte mir, bei T.C. Boyle kann ja nichts falsch sein. Und lag richtig und auch falsch. Falsch war an dieser Stelle jedoch nur der Zusammenhang von 560 Seiten und nur zwei Wochen Leihfrist, was mich einigermaßen ins Schwitzen brachte …

„Geh doch!“ schrie sie und rannte zur Tür, in der erhobenen Hand den Teller mit dem Bries, den sautierten champignons de laforêt und der Sherrysauce, die sie persönlich zubereitet hatte. „Geh doch, du Scheißkerl!“ Und dann flog der Teller ihm hinterher und beschrieb über dem mondbeschienen Vorgarten eine tropfende Parabel, bis er auf dem Bürgersteig zerschellte und das, was darauf gewesen war, den Vögeln und Eichhörnchen und Kreaturen der Nacht zum Fraß diente.

Als Hauptfigur erwählt T.C. Boyle den amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright und dessen Frauenbeziehungen sind das Thema des Romans. Er erzählt allerdings nicht chronologisch, sondern beginnt mit Wrights dritter Frau Olgivanna. Aus ihrer Sicht können wir auch bereits einen Blick auf ihre Vorgängerin Miriam werfen. Eine Drama Queen vom Feinsten, die wir schließlich noch näher kennenlernen und so etwas besser verstehen können, was Frank an dieser morphiumsüchtigen Verrückten finden konnte.

Ihm stand der Sinn vor allem nach Harmonie, und er war entschlossen, sie diesmal herzustellen und nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben, denn er hatte die lange, zermürbende Qual ihrer Abwesenheit ertragen müssen. Wenn er sie verwöhnen musste, wenn er hier und da ein Kissen oder hin und wieder ein französisches Essen ertragen musste – na, wennschon.

Doch der wahre Höhepunkt ist schließlich die Geschichte von Mama. Nach mehr als zwei Jahrzehnten Ehe lässt Frank seine erste Frau Kitty sitzen (ihre Geschichte erschien dem Autor offenbar nicht interessant genug), um mit seiner Seelenverwandten Mama ein neues Leben zu beginnen. Zu diesem Zeitpunkt weiß der Leser bereits, dass diese Liebe in einer Katastrophe enden wird, kennt jedoch nicht die Details.

Und sie versicherte ihnen, dass er zurückkehren werde, sobald es ihm gelungen sei, sich zu bezwingen und die Schlacht zu gewinnen, die er nun heldenhaft schlagen werde, für sie und seine Kinder. Und dass, wenn er erst zurückgekehrt war – und sie glaubte tatsächlich, ganz unabhängig von der Leidenschaft des Augenblicks, an seine Rückkehr –, alles sein werde wie zuvor.

Allen Frauen, die mit Frank Lloyd Wright in Verbindung stehen, ist der Terror der Presse sicher. Die prüden Amerikaner verurteilen ihn wegen seiner Vorstellungen der Liebe, die über der Ehe steht. Sowohl Mama, als auch Miriam und Olgivanna erwarten zuerst, mit ihrer wahren Geschichte Verständnis von Presse und Bevölkerung zu ernten und werden doch nur durch den Schmutz gezogen und der Lächerlichkeit preisgegeben. Ein harter Preis, den sie für die Beziehung zu Frank zahlen müssen.

Die Geschichte nicht chronologisch zu erzählen erweist sich nicht nur als zufälliger Glücksgriff, sondern geradezu als eine sich aufdrängende Idee. Was könnte sich für den Schluss besser eignen als das flammende Inferno, das einen entscheidenden Wendepunkt im Leben des berühmten Architekten darstellt? Der Roman lehnt sich nur lose an die Lebensgeschichte des berühmten Architekten, zu ergründen, welche Teile nun Fakten darstellen, erscheint müßig. Wie so oft hat T.C. Boyle einen packenden Roman geschrieben, der die Menschen in den Mittelpunkt stellt und das Leben an sich in allen seinen Facetten feiert.

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Roman

Molly McCloskey – Wie wir leben

Aber natürlich war genau das ihr Problem. Sie wusste nicht, wie sie sich fühlte. Sie wusste lediglich, dass sie nicht länger beurteilen konnte, wie glücklich oder unglücklich sie war, wie glücklich sie sein sollte oder wie glücklich alle anderen waren.

Alltag in allen seinen Facetten. Dieser Roman beleuchtet das Leben einer irischen Familie, Mutter Gillian, Vater Damien und Tochter Heather. Die Ehe von Gillian und Damien kriselt, Gillian hatte eine Affäre, Damien weiß davon, hat jedoch nichts unternommen. Heather hingegen erkundet mit ihren jugendlichen Bekanntschaften die erste Liebe und Sexualität.

Neben diesen banalen Liebesangelegenheiten werden aber auch schwierigere Lebensabschnitte thematisiert. Gillian hat nicht nur als Kind ihre Eltern bei einem tragischen Unfall verloren, ihre Tante Grace, bei der sie danach aufwuchs, erkrankt an Alzheimer und vergisst sich Stück für Stück selbst. Als sie stirbt, erkennt Gillian ihre eigene Angst vor dem Vergessen und sucht Zuflucht bei einem umstrittenen Medikament, das das Gedächtnis stärken soll.

Damien arbeitet an einem kritisierten Tourismusprojekt. Es beinhaltet die Erhaltung eines „authentischen“ irischen Dorfes durch Bewohnen desselben von Laiendarstellern, die sich teils selbst spielen, teils den „authentischen“ irischen Dorfbewohner darstellen sollen. Daraus ergibt sich für Damien schließlich selbst eine Identitätskrise.

Die drei Protagonisten suchen sich inmitten ihres Alltags selbst und wissen nicht, was sie glücklich macht und wie sie mit ihrem Leben weiter verfahren sollen. Immer wieder stellt sich ein warmes Gefühl des Verständnisses ein, denn wer zweifelt nicht hin und wieder an seinen eigenen Entscheidungen und Lebensrealitäten? Einerseits langweilig, weil man alles aus seinem eigenen Leben zu kennen meint. Aber dann auch wieder tröstlich, weil ein Solidaritätsgefühl in harten Zeiten wärmt. Und schließlich die Erkenntnis: Jeder gestaltet sein Leben selbst.

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Roman

Angelika Hager – Venus im Koma

Die Dienstags-Intensivauseinandersetzung bei der Plätscher-Tante konnte sie jetzt einmal getrost aus dem Wochenplaner streichen. So hatte doch jede Katastrophe irgendeine Form von Bonustrack. Und jetzt?

Die Polly Adler-Kolumne in der Kurier-Freizeit-Beilage lese ich nun schon seit Jahren, konnte mir allerdings nicht vorstellen, wie sich ein Roman in derartiger Wuchteldichte schreiben und vor allem lesen lässt. Beim Stöbern in den verfügbaren Neuzugängen in der Onlinebibliothek der Büchereien Wien fiel es mir dann zum richtigen Zeitpunkt entgegen. Tatsächlich erwies es sich dann als überraschend kurzweiliges Lesevergnügen. Aber …

Innerhalb einer halben Woche hatte ihre Work-Life-Balance eine kopernikanische Wende genommen. Die Chinesen betrachteten den Zustand der Verliebtheit als eine Form der Geisteskrankheit. Und womit? Mit Recht! Sie stand vor einer Bombengeschichte, der sich bei Anatol wieder auf Schiene bringen würde, und wälzte die Probleme eines verwirrten Teenagers.

… wenn ihr zu ihrer Wuchtelschlacht doch nur ein etwas originellerer Plot eingefallen wäre … der abgelebte und widerspenstige Ehemann, der schwule Kollege und Freund, der abgehobene Chef, die nervige Aufsteigerkollegin, der attraktive Polizist. Die Charaktere wirken wie Scherenschnitte, die mit aller Gewalt dem Reißbrett entsprungen sind und langweilen teilweise schon beim ersten Auftritt. Stück für Stück hat man das Gefühl, schon zu wissen, in welche Peinlichkeitskatastrophe die resolute Polly Adler als nächstes stürmen wird.

Und doch entspringen der Geschichte dann doch einige überraschende Wendungen, die die Gesamtstory zwar nicht origineller, aber den Lesefluss immerhin spannender machen. Wenn man als Maßstab herkömmliche Frauenromane von der Carly-Philipps-Stange anlegt (ich habe noch immer die Schwestern-Trilogie im Kopf, die dermaßen vorhersehbar war, dass man nach jeweils 10 Seiten alles weiß), kann man sich mit Polly Adler und ihrem Fortpflanz (deren Rolle zu klein ist) dann doch um einiges besser amüsieren. Dank Lokalkolorit und Wuchtelschlacht ergibt sich ein witziges Leseerlebnis. Zur Entspannung sozusagen perfekt.

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Krimi Roman

Michael Dibdin – Vendetta

I wandered off, neither knowing nor caring where I went. All places were equal now. My feet brought me here, like a horse that knows its own way home. He would be far away, I thought, speeding through the corridors of light in his big white car.

Nur sehr langsam kommt die Geschichte um Aurelio Zen in Gang. Da es sich dabei wiederum um eine Reihe handelt, langweilt sich vermutlich der Leser, der mit der Person bereits bekannt ist, noch mehr während der langen Beschreibungen der Arbeitskollegen, der Situation von Zens Mutter und seiner hoffnungslosen Verliebtheit in Kollegin Tania.

Erst als Zen in korrupten, politischen Untiefen zu versinken droht und schließlich allein nach Sardinien geschickt wird, obwohl ihm ein Mordkommando auf den Fersen ist, kommt etwas Schwung und Dynamik in die Handlung. Eine erste Klimax ergibt die herrlich bewerkstelligte Demaskierung von Zens Inkognito (er ist als Schweizer Reto Gurnter unterwegs). Der tatsächlich Höhepunkt folgt auf dem Fuß, wobei sich hier schließlich das Gefühl durchsetzt, der Autor hätte es „zu Ende bringen wollen“. Die Einzelheiten erklärt Zen seiner Kollegenschar, hier wäre eine etwas raffiniertere Auflösung wünschenswert gewesen.

Alles in allem nicht das schlechteste Werk, das Amazon letztes Jahr zu Weihnachten verschenkt hat. Wird sich zeigen, ob ich noch schaffe, alle zu lesen, bevor dieses Jahr wieder Weihnachten vor der Tür steht …

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Roman

Jostein Gaarder – Die Frau mit dem roten Tuch

Die alleeeinfachste Erklärung dafür, dass wir zur selben Zeit wieder an dem Ort aufgetaucht sind, der damals zum schönsten und bittersten in unserem Leben geworden war, ist meiner Ansicht nach die Telepathie. Deine Erklärungen oder Ausflüchte sind viel komplizierter, und deine Berechnungen sind ein einziger verzweifelter Krampf.

Es ist schwer, die Faszination und Genialität dieses Buchs zu beschreiben, ohne zuviel zu verraten. Es handelt sich um einen Briefroman. Solrun und Steinn haben sich nach jahrelanger Trennung zufällig an einem Ort wieder getroffen, der für die Beziehung der beiden schicksalhaft wurde. Nach diesem Anlass schreiben sie sich E-Mails und arbeiten somit auf, was seit Jahren zwischen ihnen steht.

Natürlich habe ich im Zug geweint. Ich habe mich nach Hause geweint, nach Bergen. Ich verstand gar nichts mehr. Ich wusste, dass wir mit einem Schlag vollkommen unterschiedlich dachten, aber ich konnte nicht begreifen, warum wir damit nicht leben können sollten. Wir waren doch nicht das erste Paar auf der Welt, das in Glaubensdingen unterschiedlicher Meinung war.

Erst Stück für Stück wird enthüllt, was diese Glaubensdifferenzen ausgelöst hat. Ein einschneidendes Erlebnis verändert die Beziehung zwischen den beiden. Während Solrun mit einem gestärkten Glauben an ein Leben nach dem Tod weiter durchs Leben geht, hängt Steinn sich an die Wissenschaft. Aber was wirklich passiert ist, lässt sich nicht eindeutig beschreiben, denn nicht beide haben dasselbe gesehen und gehört.

So denke ich. Es ist eine lineare, aber auch logisch klare Gedankenreihe, die ich hier konstruiere. Vielleicht bin ich an diesem Vormittag der Einzige auf unserem Planeten, der sich Gedanken über die Entstehung seines eigenen Bewusstseins macht. Oder wer weiß, vielleicht bin ich in dieser Sekunde sogar der Einzige im ganzen Universum. Dann säße ich unauffällig in meinem gelben Zugabteil und erfreute mich eines großen Privilegs.

Der Klimaforscher Stein erklärt sich das Universum durch Wissenschaft und kann nicht verstehen, wie Solrun an übernatürlich Phänomene glauben kann. Viele Argumente wechseln die Seiten, man fühlt sich an Gareres Einführung in die Philosophie Sofies Welt erinnert. Mit Zeit und Geduld nimmt sich der Autor dieses schwierigen Themas an und lässt durch seine beiden Protagonisten die unterschiedlichen Standpunkte aufeinander wirken, ohne sich für eine Seite zu entscheiden.

Ich glaube das genaue Gegenteil! Unsere Seelen werden den materiellen Schlamm überleben, ganz sicher. Denn in einer Hinsicht sind wir uns ja wohl einig, nämlich dass alle Natur irgendwann in Auflösung übergehen wird.

Und auch das Ende hält Überraschungen bereit, das möchte ich nun wirklich nicht verraten, um das Lesevergnügen nicht zu stören. Ein Glückstreffer für mich, zufällig aus der Onlinebibliothek der Büchereien Wien gefischt. Wobei Jostein Gaarder eigentlich wie Anna Gavalda immer für ein sinnbringendes Lesevergnügen steht. Empfehlung.

Für mich war der Weg zum Glauben an die Unsterblichkeit der Seele jedenfalls sehr kurz.

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Roman

Bernard Cornwell – Der sterbende König

Einst war ich im Land der Dänen gewesen und hatte eine Gegend aus Sand und karger Erde gesehen, und obwohl ich nicht daran zweifle, dass die Dänen auch besseres Land als das haben, was ich sah, bezweifle ich sehr wohl, dass es sich mit dem messen könnte, durch das wir nun auf unserer stillen Fahrt mit der Tyrs Tochter glitten. Der Fluss trug uns zwischen üppigen Feldern und dichten Wäldern dahin.

Ich kann nicht ganz verhehlen, dass sich ein gewisser Gewöhnungseffekt bei Cornwells Uthred-Romanen einstellt. Ich hatte „Der sterbende König“ schon im Frühjahr vorbestellt mit dem Gedanken, mich im Herbst dann von der Amazon-Lieferung überraschen zu lassen (was Amazon vereitelt hat, indem sie mich vorher per Mail informierten, dass sie die Bestellung jetzt versenden …). Gefreut hab ich mich natürlich trotzdem und das Buch relativ schnell verschlungen …

Manchmal liege ich wach in den langen Nächten des Alters und denke an die aberwitzigen Dinge, die ich getan habe, an die Gefahren, weil ich mit dem Schicksal gewürfelt und die Götter herausgefordert habe.

Der Fokus liegt hier auf dem lange erwarteten Tod des Königs Alfred. Natürlich ist damit Uthreds Krieg nicht zu Ende, inzwischen drängt sich der Gedanke auf, dass er Bebbanburg vielleicht nie zurück erobern wird. Mit kreativen Kriegslisten versucht Uthred die Dänen aus der Reserve zu locken und schließlich kommt es auch zur nur knapp gewonnenen Schlacht im Schildwall.

Im Nachwort erklärt Cornwell seine Faszination für diese Zeit und warum er sich so intensiv mit der Geschichte beschäftigt:

Das ist die Geschichte, die hinter den Erzählungen von Uthred steht: die Geschichte von der Entstehung Englands. Es hat mich immer erstaunt, dass wir Engländer so wenig an der Entstehung unserer Nation interessiert sind. In der Schule scheint es manchmal so, als würde die Geschichte Britanniens AD 1066 beginnen, und alles, was vorher geschah wäre bedeutungslos, dabei ist die Geschichte von der Entstehung Englands groß, aufregend und nobel.

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Krimi Roman

Volker Kutscher – Goldstein

Schlossbergstollen, Graz

Er schaute Rath an. „Glaub mir, ich war nicht immer so kaltblütig. Das lernt man mit der Zeit. Ein kleiner Eispanzer rund ums Herz, der hilft, weißt du, ein Panzer wie nach einem Eisregen.“ Er machte eine Pause und schaute in die Ferne, hinaus auf den westlichen Horizont, über dem der letzte kleine Rest des Tageslichts noch zu sehen war, bevor die Nacht das Regiment endgültig übernehmen würde.

Mit seinem dritten Roman rund um den unterweltnahen Kommissar Gereon Rath gibt Volker Kutscher seiner Geschichte eine interessante Wendung. Der titelgebende jüdische Gangster Abraham Goldstein erweist sich zwar als Nazischreck und nicht ganz harmlos, doch die richtig bösen Buben finden sich diesmal in den eigenen Reihen: Ein Geheimbund von Polizisten, die die Justiz selbst in die Hand nehmen. Gleichzeitig lässt Kutscher die Nazis aufmarschieren, noch auf hintergründige, aber doch bedrohlich wirkende Art.

Auch die Beziehung zwischen Gereon und seiner mehr oder weniger angebeteten Charly nimmt eine überraschende Wendung: Obwohl Rath den Verlobungsring bereits mit sich herumträgt, scheint stets etwas dazwischen zu kommen und es findet sich nicht der richtige Moment für einen Antrag. Und dann reist Charly auch noch für 6 Monate beruflich nach Paris …

Ein weiterer spannend geschriebener Krimi aus der Reihe um Gereon Rath aus dem Berlin der 20er.

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Roman

Fabio Volo – Einfach losfahren

Eibe Macro made with Cam+ & Olloclip

Etwas Außergewöhnliches, das befreit werden musste. Ich, der im Käfig Gefangene, wollte hingehen und die Leute befreien. Vielleicht war es ein Automatismus. Da ich mich nicht selbst befreien konnte, versuchte ich die anderen zu befreien, nur dass mir das geeignete Handwerkszeug dazu fehlte.

In diesem Roman beschreibt Fabio Volo den Entwicklungsprozess eines jungen Mannes, der seinen Platz im Leben sucht. Scheinbar leichtfüßig hüpft er zuerst wie ein Grashüpfer durchs Leben. Erst durch den Tod seines Freundes Federico, der sein Leben auf den Kopf gestellt und auf Reisen das Glück gefunden hatte, wacht Michele auf und entdeckt die Leere in seinem Leben.

In dieser Zeit war ich Rassist, ich hasste alle, denen es schlechthin. Nur mein Leid war echt und real, glaubte ich, während Leute mit Liebeskummer zum Beispiel nicht das Recht hatten, auch nur den dicken Zeh ins große schwarze Meer des Schmerzes zu tauchen.

Aus den Trümmern seines bisherigen Lebens bricht Michele nun aus, um die Frau kennenzulernen, die Federiges Leben verändert hat. Mehrere Monate hilft er Sophie beim Aufbau ihrer Posada und lernt dadurch ein anderes Leben kennen. Einfache Arbeit, einfaches Leben, Glück in der Natur finden, Gemeinschaft und schließlich Zufriedenheit mit sich selbst. Dabei geht Michele durch unterschiedlichste Phasen der Trauer um Federico, des Zweifelns an den eigenen Werten und an seinen Beziehungen. Einziger Wermutstropfen aus meiner Sicht ist die beinahe zu perfekte Beziehung, die Michele schließlich mit Francesca findet. In meinen Augen kann niemand ständig so ausgeglichen sein und niemals an seinem Leben oder seiner Liebe zweifeln. Aber lassen wir das Happy End einfach mal so stehen und nehmen wir mit, was uns auf unserem eigenen Weg helfen kann: Manchmal muss man aussteigen, um den Durchblick zu bekommen.

If you don’t know where you are going, any road will take you there.

Lewis Carroll (Alice’s Adventures in Wonderland)

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Roman

Jonathan Tropper – Mein fast perfektes Leben

Radieschen

Ich benenne sie nach ihren Artgenossen aus irgendwelchen Kinderbüchern. Anschließend tue ich alles in meiner Macht Stehende, um ihnen den Schädel einzuwerfen, denn sie führen mir vor Augen, wo ich selbst gerade bin: gestrandet in diesem Leben, das ich niemals geplant hatte.

Wir steigen an einem dunklen Punkt in Dougs Leben ein. Seine Frau Hailey ist bei einem Flugzeugabsturz umgekommen. Doug trauert. Er wirft mit Steinen nach frei laufenden Kaninchen, muss sich mit Haileys pubertierendem Sohn Russ herumschlagen und sich den Hilfsversuchen seiner Familie widersetzen. Zu viel für einen einsamen Witwer?

„Du hast deine Frau verloren, Douglas, und es bricht mir das Herz, mit ansehen zu müssen, wie schlecht es dir geht. Aber ich verliere meinen Mann jeden Tag aufs Neue. Und ich kann noch nicht einmal um ihn trauern.“

Wir verfolgen, wie Doug Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden muss. Seine Familienverhältnisse explodieren und lassen nicht mehr zu, dass sich Doug mit seiner Trauer allein in seinem Haus verkriecht. Er übernimmt die Verantwortung für Russ, als dessen Vater mit seiner neuen Frau nach Florida zieht. Seine Schwester Claire verkracht sich mit ihrem Mann Stephen und zieht bei Doug ein. Und schließlich muss er auch einsehen, das seine Mutter mit seinem demenzkranken Vater Tag für Tag leidet. Letztlich geht es um die Akzeptanz der eigenen Gefühle und Gedanken. Denn Doug fühlt sich auch noch schuldig, wenn er langsam wieder ins Leben zurückfindet.

Mein ganzes Leben wird richtig toll, und das alles nur, weil Hailey bei einem Flugzeugabsturz gestorben ist. Ich weiß nicht genau, wann es passieren wird, aber irgendwann wird der Tag kommen, an dem ich die Grenze überschreite. … Der Gedanke, dass ich dieser Mensch werden könnte, der die Zeit nicht zurückdrehen will, selbst wenn er sie dadurch retten könnte …

Das alles beschreibt Jonathan Tropfer mit beißendem Humor und ausreichend Sarkasmus, sodass aus der Trauergeschichte in Züruck ins Leben wird und man die Veränderung in Dougs Verhalten nicht nur liest, sondern sogar spürt. Und dann auch noch eine grandios verschriftlichte Datingkatastrophe, wie man sie sich nicht mal in den schlimmsten RomComs vorstellt … alle Facetten des Lebens und der menschlichen Gefühle spiegeln sich in diesem Roman und seinen detailliert gezeichneten Figuren wieder. Es gibt keine Statisten, selbst der gehörnte Ehemann Dave Potter erhält seinen großen Auftritt. Wie das Leben selbst.

„So ist das Leben nun mal. Es gibt keine Happy Ends, nur glückliche Tage, glückliche Momente. Das einzige Ende ist der Tod, und glaub mir, niemand stirbt glücklich. Solange man noch nicht sterben muss, zahlt man dafür eben den Preis, dass sich alles ständig ändert. Das Einzige, worauf man sich verlassen kann, ist die Tatsache, dass man sich auf nichts verlassen kann.“

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Roman

José Saramago – Alle Namen

Enten in Kaisermühlen

Der Grund ist sehr einfach, ich habe niemanden, mit dem ich sprechen kann. Sr. José betrachtete die Frau, sie betrachtete ihn, es lohnt nicht, Wörter zu verschwenden und den Ausdruck zu beschreiben, der in ihrer beider Augen lag, wichtig ist nur, dass er nach einer Weile des Schweigens sagen konnte, Ich auch nicht.

Wie dieses Buch auf meine Leseliste kam, weiß ich nicht mehr, solang stand es schon drauf. Die Schreibweise Saramagos macht dieses Buch anfangs etwas schwer zu lesen. Er benutzt wenig Satzzeichen, lange Sätze und trennt oft selbst in Dialogen die Aussagen zweier Personen nur durch Beistriche und Großbuchstaben. So muss man auch mal zurücklesen, ob man nun noch die richtige Personenverteilung im Dialog hat oder möglicherweise einen Wechsel verpasst hat. Die überlangen Sätze und fehlenden Absätze machen ein Pausieren zwischendurch außerdem schwer. Doch mit zunehmendem Eintauchen in die Geschichte wird der Schreibstil scheinbar zwingend, es gibt kaum eine Atempause in Senior Josés Suche nach der geheimnisvollen Frau.

Der arme Mann warf sich aufs Bett und fragte sich selbst, warum er nicht das tat, was der Apotheker ihm mit kaum verhohlenem Sarkasmus geraten hatte, Ich an Ihrer Stelle hätte das Problem längst gelöst, Wie, hatte Sr. José gefragt, Indem ich im Telefonbuch nachschlage, in diesen modernen Zeiten ist das der einfachste Weg, jemanden zu finden, Vielen Dank für diesen Vorschlag, …

Durch Zufall stößt Senior José auf die Karteikarte der unbekannten Frau. Dem Leser bleibt sie tatsächlich unbekannt, ihr Name wird nie genannt, auch ihre Geschichte wird nur bruchstückhaft enthüllt. So könnte man schnell entdecken, dass es um sie gar nicht geht, dass Senior José sie schließlich findet, wenn auch nicht so, wie er es sich zuerst vorgestellt hat, zerstört die Entwicklung nicht, es erscheint eine logische Folge. Denn in Wirklichkeit geht es um Senior José, seine Kontakte zur Außenwelt, die Überwindung seiner selbst, die er auf der Suche nach der unbekannten Frau Stunde um Stunde leistet. Einbruch in eine Schule, Übernachten auf dem Friedhof, Erkennen, dass seine Suche erfolgreich und doch erfolglos bleibt.

…, Es sind Millionen, murmelte er, dann denkt er an die riesige Menge Platz, die man hätte sparen können, wenn die Toten im Stehen begraben worden wären, Seite an Seite, dicht beieinander, wie ein Herr in Habachtstellung, und jeder hätte als einziges Zeichen seiner Anwesenheit dort einen Steinwürfel auf dem Kopf, auf dessen fünf sichtbaren Seiten die wichtigsten Daten aus dem Leben des Verstorbenen eingemeißelt wären, fünf Steinquadrate wie fünf Seiten, Resümee eines ganzen Buches, das nicht hatte geschrieben werden können.

Letztendlich bleibt es beim Fund der Aufgabe von Senior José: die Toten ins Leben zurückholen. Und auch das geschieht auf andere Art, als Senior José oder der Leser es sich vorher vorzustellen vermag. Inspiriert.