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Roman

Hannu Raittila – Canal Grande

CN: Alkoholmissbrauch, Andeutung sexueller Handlungen


Ein dem Leben völlig entfremdetes wissenschaftliches Erkenntnisinteresse führt einen solchen Wissenschaftler dazu, sogar den eigenen Tod interessiert zu betrachten.

Ein weiterer Ausflug in die finnische Literatur, angestoßen durch einen weiteren Literatur-Geocache. Eine Gruppe von Expert:innen aus Finnland besucht Venedig. Über den Zweck dieser Reise herrschen unter den Beteiligten unterschiedliche Annahmen vor. Der Ingenieur Marrasjärvi fühlt sich berufen, die Strömungen der Kanäle und der Lagune zu untersuchen, um so herauszufinden, wie Venedig vor dem Versinken gerettet werden kann. Dabei stets an seiner Seite steht der wackere Dozent Heikkilä, der aus kunsthistorischer Sicht auf die Stadt – und das gesamte Leben – blickt. Kulturrätin Snell sieht ihre Aufgabe hauptsächlich darin, in Italien die finnische Lebensart bekannter zu machen (unter anderem verschenkt sie praktikables finnisches Geschirr, mit dem die Italiener:innen nichts anfangen können). Vierter im Bunde ist Saraspää, der eigentlich nur von Bar zu Bar taumelt und generell nur seine eigenen Ziele (die allerdings der Leser:in verborgen bleiben) verfolgt.

Unterhaltsam ist das hauptsächlich deshalb, weil die geradlinige finnische Lebensart mit der italienischen Leichtigkeit immer wieder in Konfrontation gerät. Des Öfteren fragt sich der Ingenieur, wie denn hier jemals etwas zustande gebracht werden kann und warum sich die Italiener:innen nicht ein Beispiel am skandinavischen Vorbild nehmen. Eine großartige Szene ist auch, als Marrasjärvi und Heikkilä verhaftet werden, weil die vom Ingenieur angebrachten Strömungsmesser für Terrorismus gehalten werden. Im Rahmen der Aufklärung dieses Missverständnis muss unverhältnismäßig viel Espresso aus winzigen Tassen getrunken werden, was aus der Sicht des Ingenieurs völlige Zeitverschwendung darstellt.

Ich fühlte mich erinnert an Die große Hitze, einen Roman, der die österreichische Bürokratie aufs Korn nimmt und köstlich parodiert. Ein literarisches Werk finnischer Herkunft, das Kulturdifferenzen als Grundlage nimmt und darauf aufbauend eine interessante Geschichte konstruiert.

Jeder vernünftige Mensch begreife, dass das Leben unmöglich wäre, wenn man die Gesetze wörtlich nähme.

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Erfahrungsbericht Memoir

Julia Berger – Ein Jahr in Tokyo. Reise in den Alltag

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Als ich das letzte Mal in der Hauptbücherei war, lockten mich spontan die Regale mit Reiseliteratur. Nachdem ich einige Bücher aus dem Regal gezogen und nach kurzer Inspektion wieder zurückgestellt hatte, entschloss ich mich schließlich für diesen Japan-Bericht. Die Erwähnung des Alltags im Untertitel ließ mich hoffen, tiefere Einsichten in die fremde Kultur zu erhalten. Solche, die sich nur dann ergeben können, wenn Menschen längerfristig in einer fremden Kultur leben und tatsächlich darin Fuß fassen wollen.

Wie die Autorin (und anhand ihres Berichts auch ich) erfahren musste, ist das in Japan besonders schwierig. Selbst mit den Sprachkenntnissen, die sie sich bereits vor der Reise angeeignet hatte, waren ihr organisatorische Aktivitäten wie das Anmieten einer Wohnung nur durch Unterstützung von Einheimischen möglich. Diese Kontakte sind deutlich geprägt von der unterschiedlichen Mentalität der Autorin und ihrer japanischen Bekanntschaften. Sie erzählt von einer Arbeitsmoral, die keinen Platz mehr lässt für andere Aktivitäten; die das Denken dermaßen vereinnahmt, dass kein Platz mehr bleibt für irgendetwas anderes außer die anstehende Prüfung oder Beförderung. Dieser Fokus auf ein Ziel kann natürlich einerseits als bewundernswert und andererseits als übertrieben angesehen werden. Doch das Bewusstsein über die „Pflichten gegenüber Land, Arbeitgeber und Familie“ ist ein zentraler Bestandteil der japanischen Kultur und Gesellschaft.

Generell fand ich diesen Reisebericht leider eher langweilig. Vielleicht ist es gerade die „Reise in den Alltag“, die den Spannungsfaktor rausnimmt. Fürs Erste halte ich mich jetzt wieder an meine lange Liste an Büchern, die ich aus diversen Quellen zusammengesammelt habe. Sicher finde ich auch da wieder was, was meine Reiselust etwas befriedigt.

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English Sachbuch

Peter Mendelsund and David J. Alworth – The Look of the Book: Jackets, Covers and Art at the Edges of Literature

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Comics and graphic novels, for instance, make full use of the book as a visual object, which is why designing their covers can be especially tricky. Does the story begin on the cover? Is the cover designer, in this case, a sort of coauthor?

Hin und wieder spült mir Lithub besonders interessante Exemplare in die Liste. Dieses wollte ich wirklich dringend meiner Bibliothek hinzufügen und ich wurde nicht enttäuscht. Schon beim ersten Öffnen inhalierte ich tief den Papiergeruch. (Gerade bei Fachbüchern bemerke ich immer wieder, dass ich sie lieber in der Hand halte als digital lese. Bei Romanen ist mir das völlig egal.) Die Aufmachung ist elegant und gibt dem Thema Buchcover ausgreifend Raum. Wobei ich dann doch wiederum kleine Kritikpunkte anbringen muss (bei einem Buch, das sich mit dem Design von Buchcovern beschäftigt, darf ich auch besondere Maßstäbe an das Design anlegen):

  • Viele Bildbeschreibungstexte waren von unten nach oben zu lesen. Das ist beim Lesen einfach unpraktisch, wenn du das Buch drehen oder die Augen verrenken musst, um einen Text lesen zu können.
  • Ein dickes Hardcover-Buch hat natürlich den Nachteil, dass im Bund so einiges verschwinden kann. Grafische Darstellungen, die über den Bund gehen, sollten daher vermieden werden (was hier nicht konsequent umgesetzt wurde).
  • Für Bildbeschreibungs- und Zitattexte wurde ein Monospace-Font verwendet, dessen fi-Ligatur mir persönlich ein Dorn im Auge ist. Das ist allerdings purer persönlicher Geschmack.

If, as Nietzsche famously proclaimed, our writing tools shape our thoughts, then our design software shapes how our thoughts look. The affordances of a particular design tool make themselves visible in the trends that characterize cover design in a particular season, year, or historical moment.

Abgesehen von diesen Kleinigkeiten finde ich das Buch allerdings sehr toll. Es setzt sich mit der sich verändernden Bedeutung des Buchcovers auseinander (früher mussten Bücher hauptsächlich im Geschäft hervorstechen, heute müssen Buchcover auch und manchmal primär als Thumbnails ihre Wirkung entfalten). Unterschiedliche Gestaltungsstile werden miteinander verglichen, es wird deutlich gemacht, dass nicht nur die jeweils gerade aktuellen Weltgeschehnisse beeinflussen, ob ein bestimmtes Cover gerade als passend empfunden wird oder nicht. Auch die zur Verfügung stehenden Designtools haben eine Auswirkung darauf, welche Arten von Gestaltungen sich die Designer*innen überhaupt vorstellen können. Unsere Technologie beeinflusst also unsere Vorstellungskraft.

A book cover must tell you what kind of book you’re holding in your hands, and we all carry assumptions about how certain books should look. Many of the most successful covers, however, subvert our expectations. Such covers calibrate accuracy and surprise. They push us to see something in a new way without falsely representing it.

Obwohl ich selbst noch nie Buchcover erstellt habe (der Markt dafür ist eher schwierig), habe ich mich in vielen Überlegungen wieder gefunden. Ein Buchcover muss bestimmten Standards entsprechen. Es soll das Genre vermitteln, ohne abzuschrecken. Es soll ein klares Bild davon bieten, worum es in dem Buch geht. Gleichzeitig sind aber oft die besten Cover jene, die die Leser*innen herausfordern; die einen zweiten Blick erfordern. Dabei wird auch der Spagat zwischen Kunst und Werbung offensichtlich: ein Buchcover ist Werbung für das Buch selbst. Es soll gleichzeitig aber auch die Essenz des Buches, des Inhalts zwischen den Buchdeckeln in künstlerischer Form wiedergeben.

Indeed, a cover should pose some questions. Often the best design is simple, but simple is not the same as simplistic. When a cover forces you to look again, to think twice, to stop and wonder, it’s respecting your intelligence, especially when it depicts sensitive subject matter.

In meinen (Non-Profit-)Designprojekten stellt sich immer wieder die Frage, wieviel Unklarheit können wir unserer Zielgruppe zumuten. Gerade haben wir uns in der Gruppe gegen einen Designentwurf entschieden, der laut Feedback der anderen „schwer auf einen Blick zu erfassen war“. Mir war das beim Entwurf durchaus bewusst, ich hatte nur das Gefühl, dass es manchmal eben auch einen zweiten Blick erfordert. Weil möglicherweise erst der zweite Blick überhaupt die Aufmerksamkeit fesselt. Das Buch beinhaltet auch mehrere Fallstudien (zB verschiedene Coverentwürfe für Klassiker wie Ulysses, Moby Dick und Lolita), die einen Einblick in die unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten der einzelnen Jahrzehnte und unterschiedlichen Interpretationen der Designer*innen ermöglichen.

Schließen möchte ich mit diesem Zitat von Autor David Sedaris (im 3 Books Podcast von Neil Pasricha hat er über seine three most formative books gesprochen). Er vergleicht das Erstellen eines Buchcovers mit einem Akt der Übersetzung. Eine sehr schöne Beschreibung dieser herausfordernden Tätigkeit:

“A great book cover is, for me, like a great Spanish edition. The designer takes the manuscript and deftly translates it into a language I understand, but am unable to speak. How on earth did you do that? I think when I’m given the finished product. To take 70,000 words, and turn them into a single image. How is that not a miracle?”

 

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English Jugend Roman

Lois Lowry – Gathering Blue

CN dieses Buch: Tod, Sterben
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Suddenly  Kira knew that although her door was unlocked, she was not really free. Her life was limited to these things and this work.

Meta: Gerade ist mir wieder aufgefallen, dass die Linsen, durch die wir unsere Buchauswahl treffen, einen großen Einfluss darauf haben, welche Bücher wir auswählen. Hin und wieder blättere ich durch die Neuerscheinungen oder die populären Bücher in der OverDrive eLibrary und da muss mir irgendwie Lois Lowry entgegen gesprungen sein. Obwohl in meiner Papierausgabe von The Giver bereits am Ende des Buches angegeben war, dass es sich um ein Quartett handelt, muss ich das übersehen haben. In der Anzeige der OverDrive eLibrary war allerdings der Vermerk #1 in Series nicht zu übersehen. Mir ist auch aufgefallen, dass ich in letzter Zeit hauptsächlich auf englisch gelesen habe. Der Komfort der OverDrive eLibrary hat mich ziemlich im Griff. Ich versuch jetzt, bewusst auch zu den Altlasten zu greifen, die schon ewig auf dem Regal der ungelesenen Bücher stehen (San Miguel war auch eins von denen).

Vorerst ist unklar, ob eine Verbindung zwischen der Welt von The Giver und der Welt in diesem Roman besteht. Kann das eine eine Vergangenheit oder Zukunft des anderen sein? Ich hoffe sehr, dass sich das in den weiteren Büchern noch auflöst … ohne eine Verbindung zwischen den Welten wäre es wohl kaum als Quartett zu bezeichnen?

Jedenfalls hat es die Leserin auch hier mit einer eher dystopischen Welt zu tun, in der „beschädigte“ Menschen kein Lebensrecht haben und in der mit Zähnen und Klauen um jeden Vorteil gekämpft wird. Die Oberen schüren Angst vor den Bestien im Wald, um die Bewohner*innen im Zaum zu halten. Frauen ist es bei Strafe verboten, lesen zu lernen. Die Geschichte dieser Gesellschaft wird allein durch einen Gesang bewahrt, den ein speziell dafür ausgebildeter Sänger einmal im Jahr bei einer großen Versammlung vorführt.

Der Plot Twist am Ende hat mich dann nur mäßig überrascht, irgendwie war der Pfad schon deutlich zu erkennen. Der Kapitelauszug des nächsten Bandes am Ende lässt hoffen, dass wir erfahren, was die Zukunft dieser Gemeinschaft bringen wird.

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Sachbuch

Felix Stalder – Kultur der Digitalisierung

In diesem Buch analysiert Felix Stalder, Professor für Digitale Kultur an der Zürcher Hochschule der Künste, gesellschafliche Veränderungen, die ihren Ursprung in einer Erweiterung des kulturellen Lebens auf der Basis technologischer Veränderungen haben. Eine Folge der Digitalisierung ist eine Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten. Immer mehr Menschen haben nun die Möglichkeiten, sich an kulturellen Prozessen zu beteiligen; dadurch erweitert sich auch das Themenspektrum, das in kulturellen Auseinandersetzungen verhandelt wird.

Als Kultur werden im Folgenden all jene Prozesse bezeichnet, in denen soziale Bedeutung, also die normative Definition der Existenz, durch singuläre und kollektive Handlungen explizit oder implizit verhandelt und realisiert wird.

Kultur ist heterogen, hybrid und nicht statisch. Kultur ist kein symbolisches Beiwerk, sondern handlungsleitend und gesellschaftsformend. Sie gibt uns einen Referenzrahmen, an dem sich unser Handeln orientiert. Dieser Referenzrahmen ist einerseits historisch gewachsen und andererseits wandelbar. Veränderungen, die sich aufgrund wachsender technologischer Möglichkeiten in kulturellen Prozessen entwickeln, sind das Thema dieses Buchs. Als wesentliche Ausdrucksformen der Kultur der Digitalität nennt der Autor Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität.

Referentialität beschreibt die vielfältigen Verbindungen, die im digitalen Raum zwischen unterschiedlichen Inhalten gezogen werden. Digitale Güter können kopiert und verändert werden ohne das Original dadurch zu entwerten oder zu zerstören. Dadurch ergeben sich neue Möglichkeiten, kulturelle Güter zu erschaffen und zu verändern.

Bedeutung wie auch Handlungsfähigkeit können nur im Austausch mit anderen stehen, sich festigen und wandeln.

Unter dem Begriff Gemeinschaftlichkeit werden viele Formen der Kommunikation verstanden, die erst durch technologische Unterstützung möglich werden. Die Kultur der Digitalität manifestiert sich zu einem wesentlichen Teil in digitaler Kommunikation. Kommunikation ist ein konstitutives Element der sozialen Existenz. Bedeutung kann von einzelnen Personen zwar behauptet werden; damit sie aber Kultur werden kann, muss sie von anderen bestätigt werden. Als Paradebeispiel wird die Enzyklopädie Wikipedia genannt. Das gemeinschaftliche Arbeiten an einem Projekt dieser Größenordnung ist erst durch die weltweite Vernetzung mittels Internet möglich geworden. Der Autor sieht aber auch eine Gemeinsamkeit der Kultur der Digitalität mit der traditionellen Volkskultur:

Die aktive Teilnahme verlangt zwar eine gewisse Fertigkeit, ein gewisses Interesse und Engagement, meist aber kein außergewöhnliches Talent.

Algorithmizität beschreibt die Tatsache, dass viele dieser kulturellen Prozesse überhaupt nur möglich werden, weil Daten durch Algorithmen analysiert werden. Menschen sind dazu entweder nicht in der Lage oder es würde viel zu lange dauern, die wesentlichen Informationen aus den angehäuften Datenbergen zu extrahieren. Die Rolle der Algorithmen hat eine helle und eine dunkle Seite (und ein unendliches Spektrum an Grautönen dazwischen). Algorithmen helfen uns, wesentliche Informationen zu extrahieren und diese weiterzuverarbeiten; sie können aber auch zu Benachteiligungen führen, die kaum noch nachvollziehbar sind (Einen interessanten Talk dazu gab es bei der Privacyweek 2018: Bias in Algorithmen von pascoda).

Für jede Person wird eine andere Ordnung erstellt und nicht mehr nur ein Ausschnitt einer vorgängig bestehenden Ordnung angezeigt.

Als Beispiel dafür wird im Buch der Google-Suchalgorithmus und seine Veränderungen seit der Entwicklung besprochen. Der aktuelle Suchalgorithmus stützt sich auf die analysierten Präferenzen der Nutzer*innen, die aus vorherigen Suchanfragen abgespeichert wurden. Das „verbessert“ einerseits subjektiv gesehen die Ergebnisse, schließt aber andererseits Ergebnisse aus, die ebenfalls interessant sein könnten, aber nicht zu den bisher gesuchten Dingen passen. Daraus entsteht ein Tunnelblick, der die Nutzer*innen in ihrer eigenen Welt einsperrt und den Blick über den Tellerrand unmöglich macht. Für jede*n individuelle*n Nutzer*in wird eine eigene, singulare Welt erschaffen.

Die Welt wird nicht mehr repräsentiert; sie wird für jeden User eigens generiert und anschließend präsentiert.

Dieses Phänomen bezeichnet Stalder als „Daten-Behaviorismus“. Algorithmen erfassen Menschen rein aufgrund ihrer messbaren Reiz-Reaktions-Beziehungen (damit ist das Online-Verhalten gemeint). Der Mensch selbst ist dabei eine Black Box im Sinne des klassischen Behaviorismus. Bewusstsein, Wahrnehmung oder Intention spielen für Algorithmen keine Rolle. Diese Theorie lässt sich auch auf die gesamte Gesellschaft ausweiten, die somit zu einer „Black-Box-Gesellschaft“ wird:

Immer mehr soziale Prozesse werden mithilfe von Algorithmen gesteuert, deren Funktionsweise nicht nachvollziehbar ist, weil sie systematisch von der Außenwelt und damit von demokratischer Kontrolle abgeschirmt werden.

Einerseits können wir also zunehmend von den vielfältigen Möglichkeiten der digitalen Kultur profitieren. Andererseits sollten wir uns aber nicht von der Netzwerkmacht dazu zwingen lassen, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht tun wollen. Die Open-Source-Bewegungen gehen dabei seit Langem ihren eigenen Weg. Nur wenn Algorithmen öffentlich einsehbar sind, können sie auch einer demokratischen Kontrolle unterzogen werden. Einen wichtigen Beitrag leisten auch die Open-Access-Angebote. Nur, wenn wir auch Zugriff auf Daten und Informationen haben, können wir informierte Entscheidungen treffen und uns als mündige Menschen in der Kultur der Digitalität bewegen:

[…] der freie Zugang zu Daten ist eine notwendige Bedingung für autonomes Handeln in der Kultur der Digitalität.

Fun Fact: Ich hätte das aus meinem Erststudium wissen können, kann mich aber nicht erinnern, vorher jemals gehört oder gelesen zu haben, woher der Begriff „Algorithmus“ stammt:

Der Begriff »Algorithmus« geht auf den im heutigen Usbekistan geborenen Mathematiker, Astronomen und Geografen Muhammad Ibn-Mūsā al Ḥwārizmī zurück. Sein um 825 in Bagdad verfasstes Lehrbuch Über das Rechnen mit indischen Ziffern wurde in lateinischen Übersetzungen im Mittelalter breit rezipiert […]. Das Buch beginnt mit der Formel dixit algorizmi … (»Algorismi hat gesagt …«). Im Mittelalter wurde algorizmi oder algorithmi bald zu einem allgemeinen Begriff für avancierte Rechenoperationen.

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Kurzgeschichten Roman

Tove Jansson – Fair Play

In fact, it felt good having things unfinished, a little as if she had just moved in and didn’t have to take the thing so seriously.

Beim Lesen dieses Buchs wurde mir wieder einmal klar, wie wenig ich mit dem Konzept der Kunst bzw. der Rolle der Künstler*innen anfangen kann. Mein persönliches Arbeiten ist geprägt von dem Wunsch, Dinge zu erledigen, To-Dos abzuhaken und das soll in der effizientesten Weise wie möglich geschehen. Der künstlerische Ansatz, der in diesem Buch (und im obigen Zitat) beschrieben ist, ist ein mir völlig fremdes Konzept. Ich fühle mich immer unwohl angesichts der vielen halbfertigen Dinge, die sich für mich wie unerledigt anfühlen. Es fällt mir schwer, angefangene Projekte als Möglichkeiten zu sehen, als Konzepte, die sich noch entwickeln können, die mehr Zeit erfordern. Zeit meint in diesem Fall nicht Arbeitszeit, die gefunden und in das Projekt investiert werden muss und dann ist das Projekt irgendwann erledigt, sondern Entwicklungszeit, um andere Inspirationen zu finden, die dann das Konzept verfeinern und ein klareres Bild von einer zuerst diffusen Idee ergeben.

This novel is about creativity from the very start – about how you take a day, the same as all the other old one-after-the-other days, and make it really new and fresh, no matter what age you are, what life you’re in.

Das Buch beschreibt in kurzen Geschichten die Beziehung von Mari und Jonna, Freundinnen, Partnerinnen (?), die zusammen leben und jede für sich künstlerisch arbeiten. Das beinhaltet so vieles, das in wenigen Worten beschrieben wird, die unheimlich viel Raum für Interpretation lassen.

Mari sat down and wrote. When she was done, she went into the studio and asked if she could read it aloud.

Manche dieser Geschichten lassen so viel Raum, dass ich für das, was zwischen den beiden Protagonistinnen passiert, keine Erklärung finden konnte. Das obige Zitat stammt aus einer Geschichte, in der Mari über einem schwierigen Brief brütet. Eine Frau fragt sie nach dem Sinn des Lebens und Mari weiß nicht, was sie antworten soll. Nun könnte die Geschichte die verschiedenen Sinnmöglichkeiten, die uns das Leben anbietet, untersuchen; sie zeigt uns aber stattdessen, dass es Momente gibt, in denen eine Beziehung frustrierend sein kann, in denen die Menschen, die uns am nächsten stehen, uns gewissermaßen mit unseren Problemen und Entscheidungen allein lassen. Laut der Einleitung sind Liebe und Arbeit die großen Themen der Autorin. Beides beinhaltet schwierige und frustrierende Momente und gleichzeitig so viel Potential, das wir an manchen Tagen ausschöpfen können und an anderen nicht.

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Roman

Shida Bazyar – Nachts ist es leise in Teheran

Dieser Roman erzählt die Geschichte einer deutsch-iranischen Familie auf vier unterschiedlichen Zeitebenen und aus vier verschiedenen Perspektiven. 1979 in Teheran lernt der Leser zuerst Behsad kennen, einen jungen Mann, der an die Möglichkeit glaubt, sein Land verändern zu können und dafür auch große Risiken eingeht. Schließlich muss er politische Verfolgung, Gefängnis und Folter fürchten und entschließt sich schweren Herzens, mit Frau und Kindern nach Deutschland zu fliehen. Eltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen bleiben zurück.

Diese Entwicklung erfährt der Leser aber erst aus dem Blickwinkel von Behsads Frau Nahid, die die Situation in Deutschland, 1989 vor der Wende beschreibt. Nahid versucht, sich anzupassen, sich in Deutschland zu integrieren, sie erzählt von den Beziehungen zu deutschen Bekannten, ihren Versuchen, an der deutschen Universität ein neues Studium zu beginnen, ihren Schwierigkeiten mit der unbekannten Sprache.

Auf der Rückfahrt im Bus, als die Kinder erschöpft eingeschlafen waren, flüsterte Behsad, um sie nicht zu wecken, Nahid, sie haben es nicht verstanden, sie denken, der Schah wäre besser gewesen, sie haben nicht verstanden, dass vergossenes Blut nie besseres oder schlechteres, gerechteres oder ungerechteres Blut ist, Nahid, sie haben es einfach nicht verstanden.

Die Kinder wachsen als Deutsche auf, die älteste Tochter Laleh war bei der Flucht im Kindergartenalter und erinnert sich noch an ihre iranischen Wurzeln. Sie erzählt aus dem Jahr 1999 über ihre eigenen Schwierigkeiten, herauszufinden, wer sie eigentlich ist. Generell kämpfen Jugendliche mit dieser Frage, für Laleh wird dies noch erschwert durch einen mehrwöchigen Urlaub in der Heimat ihrer Eltern. Iran ist inzwischen eine islamische Republik, Laleh, deren Eltern nicht religiös sind, die in Deutschland nie ein Kopftuch tragen musste, wird plötzlich in Mantel und Kopftuch gesteckt und leidet darunter, mit ihren falschen Bewegungen unter den anderen Frauen und Jugendlichen aufzufallen. Und die Verwandten stellen ihr immer wieder dieselbe Frage: Ist es in Deutschland besser als hier? Wo gefällt es dir besser? Für Laleh gibt es nur eine Antwort, die sie jedoch aus Höflichkeit nicht aussprechen kann.

Laleh beschreibt auch ein Erlebnis, das mich an eine Podcast-Episode erinnert hatte, die ich kürzlich gehört habe: CRE212 Saudi Arabien. Die Islamwissenschaftlerin Miriam Seyffarth hat einige Zeit unter anderem in Saudi Arabien gelebt und erzählt im Gespräch auch, dass dort einheimische Männer Ausländerinnen weniger Respekt entgegen bringen als den „zugehörigen“ Frauen. Man muss lernen, sich abzugrenzen, dabei ist die Kleidung ein Schutzschild, lange Ärmel und Kopftuch sind wichtig, aber man muss sich auch als Frau behaupten und respektloses Verhalten sofort entsprechend kontern.

Weitere 10 Jahre später erfährt der Leser, wie Lalehs jüngerer Bruder Morad in Deutschland lebt. Er studiert (mehr oder weniger), ist politisch interessiert bzw. hat das Gefühl, es sein zu müssen und spürt wenig Verbindung zu seinen Verwandten im umkämpften Iran. Täglich neue Protestvideos auf YouTube, Nachrichten aus dem Internet, Kontakt zur Verwandtschaft über Facebook, wenn Telefonieren gerade nicht funktioniert. Morad fragt sich, was er mit seiner Herkunft noch anfangen soll, er kennt die fernen Verwandten kaum und sucht trotzdem nach seinen Wurzeln.

Die Autorin hat ein beeindruckendes Zeitdokument geschaffen, das auch illustriert, wie gelebte Integration über mehrere Generationen hinweg Menschen und Familien verändern kann. Jahrzehnte der politischen Instabilität reißen Familien auseinander. Der undatierte Epilog ist ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft.

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Thriller

Trevanian – Shibumi

Weil ich noch einmal die Schreibweise des Namens des Autors nachschlagen wollte, habe ich mir gerade die Amazon-Webseite zum Buch geöffnet. Die Kurzbeschreibung der deutschen Übersetzung ließ mich stutzen:

Frankreich 1979: Der Berufskiller Nikolai Hel hat sich in ein Pyrenäenschloss zurückgezogen, um sein altes Leben hinter sich zu lassen. Da erhält er einen Hilferuf: Die junge Hannah ist auf der Flucht vor einer übermächtigen Geheimbehörde. Für Hel, der in ihrer Schuld steht, beginnt eine mörderische Odyssee um die halbe Welt, bei der er noch einmal seine tödlichen Fähigkeiten unter Beweis stellen muss.

Diese Beschreibung verzerrt die Wahrheit in meinen Augen schon sehr.

  1. Der Großteil des Buches spielt weder in Frankreich noch im Jahr 1979.
  2. Gefühlt mehr als die Hälfte des Buches erzählt die Lebensgeschichte von Nikolai Hel, bevor er überhaupt zum Attentäter wurde.
  3. Nikolai Hel fühlt sich nicht in Hannahs Schuld, jedenfalls nicht so sehr, dass er sich deshalb in ihre (bis hierher gescheiterten) Machenschaften involvieren würde. Erst als die Geheimbehörde Hannah tötet, entscheidet sich Nikolai Hel zum Gegenangriff.

So viel zu den unmittelbaren Fakten. Spannend an dieser Geschichte ist, dass der Protagonist bereits zu Beginn von den Vertretern der Mother Company als gefährlicher Attentäter geoutet wird. Trotzdem identifiziert sich der Leser Stück für Stück mit ihm, der Attentäter Nikolai Hel ist nicht der oder das Böse in dieser Geschichte. Der heutige Nikolai Hel ist ein sich selbst völlig beherrschender Mensch, der kaum Gefühle zeigt und seinen Verstand über alles stellt. In seiner Jugend von einem japanischen Lehrer in der Kunst des Spiels Go unterwiesen, wendet er dessen Spielprinzipien auch auf das Machtgefüge der Welt an.

Erst nach dem Ende hatte ich entdeckt, dass der Roman aus dem Jahr 1979 stammt und damit schon beinahe 40 Jahre alt ist. Der in leuchtenden Farben beschriebene Supercomputer Fat Boy gibt zwar einen Hinweis darauf, dass der Roman nicht dem 21. Jahrhundert entstammt, aber dass er schon so alt ist, hätte ich nicht erwartet. Rückblickend betrachtet hat die Art, wie die Geschichte erzählt ist, etwas James-Bond-Artiges, speziell die ausführliche Beschreibung der Höhlenexpedition von Nikolai Hel und seinem Freund Le Cagot könnte ich mir auch gut in einem James-Bond-Film vorstellen. Zu diesem Thema gab es übrigens eine sehr interessante CRE-Ausgabe.

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Sachbuch

Holm Friebe, Sascha Lobo – Wir nennen es Arbeit

Stromkugel im Technischen Museum Wien, made with Cam+

Ihre Sprache und ihre E-Mails orientierten sich am Stil des Beat-Poeten Jack Kerouac. Wie nachhaltig der Eindruck der Hippie-Revolte sogar auf die Welt der Hochfinanzen durchgeschlagen hat, zeigt auch ein aktuelles und anekdotisches Beispiel aus England, wo rund 4.000 Investmentbanker und Manager von Hedgefonds sich alljährlich auf einer Wiese bei Knebworth zum „Hedgestock“-Festival treffen. Unter dem Motto „Make money, not war“ feiern sie dort drei Tage lang in Batikgewändern und Blumenkostümen zu Original-Woodstock-Musik.

Ich bin nicht up-to-date. Dieses Buch, diese Hommage an die Internetgesellschaft des neuen Jahrtausends, erschien erstmals 2006, hat also bereits 5 Jahre auf dem Buckel. Im Netz entspricht das wohl eher Jahrzehnten. Heute würde so ein Werk seine Verbreitung vermutlich nur mehr werbefinanziert als eBook finden.

Gerade die deutsche Bloglandschaft spiegelt diese digitale Bohème, die Friebe und Lobo portraitieren, ausführlich wieder. Obwohl nur die wenigsten Mitglieder dieser Gesellschaft tatsächlich von ihren Internetaktivitäten leben können, sympathisieren große Gruppen von Angestellten (speziell in technikaffinen Branchen) mit dem Freiberuflerdasein der Bohèmians. Damals wie heute. Somit findet sich eine ausreichend große Zielgruppe, die sich dieser neuen (?) Subkultur zugehörig oder zumindest verbunden fühlen.

In den ersten Kapiteln erörtern die Autoren die Merkmale dieser Gesellschaft bzw. ihrer Mitglieder und beschreiben mitreißend, wie Lebensmodelle abseits der Norm aussehen können. Im Internet kann jeder seine 15 Minuten Ruhm finden und manchmal entsteht daraus sogar eine erfolgreiche Karriere, von der die Protagonisten sogar leben können. Dazu muss man sagen, dass die Möglichkeiten in diesem Bereich sich in den fünf Jahren, die seit dem Erscheinen vergangen sind, die Vorzeichen doch gravierend geändert haben. Die Geschäftsmodelle ändern sich, die Finanzierung durch Werbung hat signifikant den sauren Beigeschmack verloren. Gerade der iTunes App Store trägt weiter dazu bei, die Gratiskultur zu fördern. Wo sich User manchmal über Spiele beschweren, die für 99 Cents oder 0,79 Euro ohnehin beinahe geschenkt sind, und lieber auf werbefinanzierte Gratisangebote zurückgreifen.

Machen wir uns keine Illusionen über die maximale Reichweite der digitalen Bohème. Es könnten vielleicht ein paar Leute mehr nach ihren Regeln leben und arbeiten, als sich derzeit trauen, aber nicht alle. Wie die alte Bohéme nicht ohne das Bürgertum und seine Mäzene denkbar war, so braucht auch die digitale Bohème ein prosperierendes wirtschaftliches Hinterland, sonst kann sie einpacken.

Beruhigenderweise verkünden die Autoren kein Evangelium (wäre auch sehr unpassend in der zunehmend religionsfeindlichen Zielgruppe der digitalen Bohèmians). Der Müllmann wird niemals freiberuflich tätig sein und frei entscheiden können, ob er den Müll im Stadtteil am Montag oder Donnerstag abholt (oder mal eine Woche gar nicht, wenn er keine Lust hat). Die Prinzipien, die Lebenswelten, die Möglichkeiten, die sich den Angehörigen der Internetkultur bieten, lassen sich nicht auf alle Lebens- und Arbeitsbereiche übertragen, eine funktionierende Infrastruktur wird weiterhin von Firmen- und öffentlichen Strukturen gewährleistet werden müssen. Greifen Sie zu, es sind nur wenige Plätze frei in diesem Boot …

Was Ansätze wie der von Bergmann demonstrieren, ist aber vor allem, dass die Landkarte der zukünftigen Arbeit noch viele weiße Flecken aufweist und mehr Dinge zwischen Himmel, Erde und Internet machbar sind, als sich Politiker trauen, ins Parteiprogramm zu schreiben. Das Wechselspiel aus Technologie, Stadtentwicklung, Kultur, sozialem Wandel und Politik wird Lebens- und Arbeitsformen ermöglichen und hervorbringen, die uns heute noch utopisch erscheinen.

Nach fünf Jahren wäre bereits ein Update, nein, sogar ein völlig neues Werk möglich, das beispielsweise die technischen Aspekte der Cloud-Technologie, politischer Themen wie Datenschutz und Vorratsdatenspeicherung oder wirtschaftlichen Faktoren wie die Weltwirtschaftskrise im Internetkontext behandelt. Aufruf an die Autoren der digitalen Bohème: Es gibt noch viel zu tun.

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Sachbuch

Clotaire Rapaille – Der Kultur Code

Stark amerikanisch geprägtes Buch über Codes in der Werbung, mit Erklärungen, warum Amerikaner so viel arbeiten und so viel essen. Durch Studien mit Probanden aus verschiedenen Ländern untersucht Rapaille, wie unterschiedlich Amerikaner und Franzosen beispielsweise Essen sehen, was Amerikaner mit Familienessen verbinden und warum dies in Japan überhaupt nicht gebräuchlich ist.

Unterhaltsam zu lesen, mit Beispielen erläutert, teilweise auch auf aktuelle Werbungen anzuwenden, wenn man näher darüber nachdenkt. Schade ist, dass es so stark amerikanisch geprägt ist, für den Europäer wäre eine stärkere Ausrichtung in Richtung der Unterschiede zwischen Frankreich, Italien, Deutschland und anderen europäischen Ländern interessant.