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Krimi Roman

Bernhard Aichner – Totenhaus

CN dieses Buch: Mord, Folter, Verstümmelung, Suizid
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Es war alles zu viel. Auf die Euphorie, dass er mit ihr sprach, folgte die Ernüchterung. Blum hatte ihre eigene Geschichte, die sie in die Knie zwang und nach unten zog, da war kein Platz mehr für Mitgefühl, für das Leid der anderen. Viel zu viel alles.

Es ist knapp über fünf Jahre her, dass ich den ersten Roman über die Bestatterin und Mörderin Blum gelesen habe. Warum ich jetzt gerade zu diesem dicksten Buch auf dem Regal gegriffen habe, kann ich auch nicht recht sagen. Es fällt mir gerade schwer, aus den ganzen Optionen (das Regal der ungelesenen Bücher, die Wishlist in Libby, die Wishlist in Onleihe, die Tabelle, in der ich mir interessante Bücher notiere) etwas auszuwählen, das ich gerade wirklich lesen möchte. Möglicherweise ist nach über einem Jahr Pandemie der Moment gekommen, an dem ich tatsächlich genug gelesen habe. Wobei der Mai halt bisher wetterbedingt auch einfach sehr lese-intensiv war …

Die rachsüchtige Blum zeigt in diesem zweiten Roman andere Seiten. Sie verfolgt einen zufällig entdeckten Hinweis auf ihre Vergangenheit und gerät damit in eine ganz andere Familiengeschichte, die nicht die ihre ist, jedoch bei näherer Betrachtung um nichts besser. Sie lässt sich von ihren Gefühlen leiten, bis zu dem Punkt, wo nichts mehr zusammenpassen will. Sie steht vor dem Abgrund und will nur noch ihre Kinder retten. In diesem Buch erschien mir ihre Gewalt mehr als Notwehr und weniger als Rache, wobei das natürlich nicht in allen Situationen stimmt. Das Bild der mörderischen Protagonistin wird jedenfalls differenzierter. Es ist nicht bloß eine Fortsetzung mit einer neuen Mordgeschichte, es ist ein vertiefter Einblick.

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Krimi Roman

Simone Buchholz – Blaue Nacht

CN dieses Buch: Mord, Drogensucht
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Ein ungewöhnlicher Krimi. Eine Staatsanwältin ermittelt (interessante Perspektive) gegen die unbekannten Täter sowie über das unbekannte und schweigsame Opfer. Ein Kommissar in Pension, ein Kommissar im Dienst. Vermeintlich oder tatsächlich geläuterte Verbrecher. Unmengen von Alkohol. Ein scheinbar unbefriedigendes Ergebnis. Ein buchstäblicher Knalleffekt am Ende.

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Krimi Roman

Volker Kutscher – Marlow

CN dieses Buch: Mord, Nationalsozialismus
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In der Fortsetzung der Krimi-Reihe um Gereon Rath, seine Frau Charly und seine Kolleg*innen und Feind*innen geht es weiter mit dem immer wachsenden Einfluss des Nationalsozialismus auf alle Gesellschaftsbereiche. Wie ich bestimmt schon in einem der früheren Posts geschrieben habe, gelingt es Volker Kutscher sehr eindrucksvoll, die unterschiedlichen Einstellungen der Menschen zu den Veränderungen zu verdeutlichen. Während Charly von Anfang an gegen die neue Regierung eingestellt ist (ihr wird nicht nur die Polizeikarriere sondern auch der Anwaltsberuf verwehrt), steht Gereon der politischen Veränderung lange abwartend neutral gegenüber. In diesem Buch aber erfährt die Leserin eine Änderung in der Einstellung von Fritze, dem Pflegesohn der Raths. Zu Beginn geht er in der Gemeinschaft der HJ auf:

Ein deutscher Junge weint nicht! Was ihn tröstete, war die Kameradschaft der Hitlerjungen. Wie stark er sich fühlte, wenn sie gemeinsam marschierten und sangen. Es war ein gutes Gefühl, ein erhebendes Gefühl.

Gegen Ende des Marsches zum Nürnberger Parteitag merkt Fritze allerdings, dass es ausschließlich die Gemeinschaft, das Marschieren und Singen sind, die ihn mit den anderen verbinden. Mit den Aussagen und Gesetzen, die am Nürnberger Parteitag verkündet werden, kann er nichts anfangen, er fragt sich, was eigentlich an den aus seiner Schule verbannten jüdischen Schüler*innen falsch sein soll.

Der Zauber war verflogen, es war, als erblicke er hinter jeder schönen Fassade eine hässliche Wahrheit, selbst das Feuerwerk gestern Abend hatte seine Stimmung nicht aufhellen können. Wo die anderen bunte Feuerblumen am Himmel sahen, da war für ihn nur Blitz und Rauch, Lärm und Gestank.

Auf dem gleichen Parteitag (Gereon nutzt den Vorwand, seinen Sohn zu besuchen zu einer Recherche in einem Fall, den er eigentlich gar nicht mehr betreut) lässt sich Gereon von der allgemeinem Aufregung mitreißen:

Die Heil-Rufe schwollen an, je näher der schwarze Mercedes kam, und Rath spürte, dass er, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben und ohne dies bewusst zu wollen, dabei war, mit den anderen den rechten Arm zu heben, weil hier niemand war, der nicht den Arm hob, weil alles taten; und er merkte, dass er nicht dagegen ankam. […] Er verstand die Welt nicht mehr. Und hatte sich noch nie in seinem Leben so sehr gehasst.

Der Gedanke daran, dieses sich immer mehr verändernde Land hinter sich zu lassen, wird erstmals zu einer konkreten Idee. Wobei das überraschende Ende eher darauf hindeutet, dass es dazu nicht kommen wird. Das Buch enthüllt außerdem viel von der Vorgeschichte des titelgebenden Gangsters Marlow und seinem Begleiter, dem Chinesen Liang. Marlow wird die Raths in den nächsten Büchern wohl kaum weiter erpressen können. Allerdings hat sich Rath in die Fänge von wesentlich gefährlicheren Gegnern begeben. Die Spannung der politischen Situation wird mit jedem Jahr erdrückender. Und dabei hat der Krieg noch nicht einmal begonnen …

Dann muss man sich eben irgendwann entscheiden: Will man sich von den Nazis bis zur Unkenntlichkeit verbiegen lassen oder will man der bleiben, der man ist. Das heißt dann aber auch: Konsequenzen ziehen.

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Krimi Roman

Thomas Glavinic – Der Kameramörder

CN dieses Buch: Mord, Sterben, Gewalt an Kindern
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Heinrich stellte fest, es sei widerlich. Er fragte, ob ich etwas einzuwenden hätte, wenn er die Aufnahme kurz anhalte, da er sich aus der Küche noch eine Portion Vanilleeis zu holen beabsichtige.

Ein kurzer Krimi als Lückenfüller (und ein kurzer Post, um Spoiler zu vermeiden). Thematisiert wird neben dem offensichtlichen Mord aus dem Titel die Sensationsgeilheit, mit der viele Menschen auf einen Aufsehen erregenden Mord direkt in ihrem Umfeld reagieren. Kritisiert werden dabei außerdem die Medien, die es sich nicht nehmen lassen, Sensationsvideos zu veröffentlichen, egal wie traumatisierend sich das auf das Publikum auswirken kann.

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English Krimi Roman

Stephen King – The Gunslinger

CN dieses Buch: Mord, Totschlag, Gewalt, sexuelle Handlungen
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What hurt you once, will hurt you twice. This is not the beginning but the beginning’s end. You’d do well to remember that … but you never do.

Nachdem die aktuelle Situation leider noch immer zu viel Zeit zum Lesen lässt (ja, doch, das gibt es wirklich, zumindest für mich) und ich mit A Song of Ice and Fire fast schon durch bin (für den fünften Band bin ich auf der Warteliste), habe ich eine weitere Reihe ausgegraben, die ich vor vielen Jahren (vor der Entstehung dieses Blogs) schon mal gelesen habe: Stephen Kings Saga The Dark Tower. Es muss irgendwann zwischen 2005 und 2010 gewesen sein. Sieben Bände waren bereits erschienen und gerade sehe ich, dass es nun einen achten Band gibt, der zwischen Band 4 und 5 einzusortieren ist, den ich definitiv noch nicht gelesen habe.

Im Vorwort beschreibt Stephen King selbst, dass er einen Western schreiben wollte, eine Geschichte über eine epische Reise, aber in einem bestimmten Setting. Ich hatte richtig in Erinnerung, dass viele Hintergründe nur angedeutet werden, die mir nahestehende Person, die mir die Bücher damals empfohlen und geborgt hat, erzählte auch von den vielen Referenzen auf andere Bücher des selben Autors (Orte, Personen, etc.), für die es eine eigene Community gibt, die sich damit beschäftigt (unter anderem auf der Webseite des Autors selbst).

Der erste Band macht die Leserin mit dem Protagonisten Roland und dem Antagonisten, dem Mann in Schwarz bekannt. Roland verfolgt den Mann in Schwarz durch die Wüste, durch eine Höhlenlandschaft bis zu einem Kraftort, wo die beiden sich schließlich zum Palaver treffen. Der Turm ist im ersten Band nur eine Art Legende, mehr eine Fantasie als ein tatsächliches Ziel, das erreichbar scheint. Wir wissen, dass Roland noch eine lange Reise vor sich hat. Wie ich nun lernte, sind es sogar sieben weitere Bücher …

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English Krimi Roman Thriller

Daniel Suarez – Change Agent

CN dieses Buch: Mord, Totschlag, Gewalt, Folter
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I’m arguing that what can happen will happen, but that it’s better that the research take place in the light of day rather than in the dark corners of the world.

Daniel Suarez schreibt ganz ausgezeichnete Technologiethriller (bisher gelesen: Daemon, FreedomTM, Kill Decision, Influx). Es ist erstaunlich, wie er sich immer wieder etwas ausdenkt, das einerseits gerade noch nicht möglich ist, aber andererseits mit aktuellen Thematiken dermaßen verknüpft ist, dass sich viele moralische und ethische Fragen zwischen den Zeilen verstecken lassen. Die Basis-Prämisse dieser Geschichte ist die Entdeckung einer Substanz, die die DNA von erwachsenen, lebenden Menschen verändern kann. Somit besteht die Möglichkeit, mit dem DNA-Profil einer anderen Person einen optischen und genetischen Klon zu erstellen. Was in erster Linie die Frage aufwirft, was eine Person eigentlich ausmacht. Kann die Veränderung von DNA und Physiognomie zu verändertem Verhalten führen? Oder ist es die extreme Situation, die den Protagonisten Kenneth Durand zu Handlungen treibt, die ihm vor seiner DNA-Veränderung vollkommen unmöglich erschienen?

He suddenly wondered what Kenneth Durand was doing here. […] The Kenneth Durand he’d thought he was would never have considered this.

Womit wir bei der Technologie wären: wenn von einer Technologie, von der du denkst, dass es sie eigentlich gar nicht geben dürfte, dein eigenes Leben abhängt, was wirst du dann tun? Kenneth Durand bekämpft Verbrechen im Bereich der illegalen Genetik. Als er durch die neuartige Substanz genetisch und optisch in einen anderen Menschen verwandelt wird, gibt es für ihn jedoch keine Möglichkeit, sein altes Ich zurückzubekommen, ohne selbst diese Technologie zu nutzen und dadurch seine Werte in Frage zu stellen.

Beaming imagery directly onto a viewer’s retinas instead of spraying photons all over the place had many advantages – authentic augmented reality being one. Environmental sustainability another. Privacy another still.

Neuartige Technologien beamen nun Informationen direkt in die Retina der Menschen, die Datenbrille hat ausgedient. Sehr interessant fand ich auch die Nennung von Privatsphäre als Aspekt hier. Wenn dir die Inhalte direkt in die Augen gebeamt werden, kann dir auch niemand mehr über die Schulter schauen, wenn du zum Beispiel auf deiner Tastatur ein Passwort eintippst. Bei konkreterem Nachdenken würden uns vermutlich auch dabei Sicherheitslücken auf- bzw. einfallen, die unsere Privatsphäre wiederum gefährden.

Frey smirked. “You know what they say: when privacy is criminalized, only criminals will have privacy.”

Das obige Zitat beschreibt ein oft thematisiertes Problem bei der Einschränkung von Privatsphäre. Werden beispielsweise sichere Messenger verboten und somit kriminalisiert, schadet das allen. Menschen, die tatsächlich nichts Kriminelles vorhaben, werden nun anlasslos überwacht. Menschen, die Kriminelles vorhaben, werden Wege finden, die Überwachungskanäle zu umgehen.

Privatsphäre wird auch noch in einem anderen Zusammenhang genannt. In einer Welt, in der wir bei jedem Schritt überwacht werden, in der jeder Informationsabruf irgendwo gespeichert und zu Geld gemacht wird, wer würde da nicht eine neue Identität annehmen wollen? Wenn du morgen ein anderer Mensch werden kannst, ist es dann egal, was du heute tust?

DNA is DNA. Merely information. Which means that human beings are merely information. And there is a long-established legal precedent that information can be owned.

Firmen wie 23andme haben in den letzten Jahren bereits unzählige genetische Profile gesammelt. Der Nutzen für die Kund*innen wird mit einer genetischen Analyse beschrieben. Kund*innen erhalten Informationen über ihre genetischen Risiken für besondere Krankheiten und können unbekannte genetische Verwandtschaften finden. Dafür bezahlen sie den Konzern. Wodurch dieser aber eigentlich profitiert, sind die gesammelten genetischen Daten, die ausgewertet und verkauft werden. Dieser Artikel in Scientific American beschreibt diesen Prozess und die Problematik dahinter sehr ausführlich.

“Does one’s identity come from within our hearts or our DNA?”
Durand murmured, “Within our hearts.”
“And what is DNA?”
“Data.”

Ein anderes Buch, das sich ebenfalls in Krimiform mit dem Thema Genmanipulation auseinandersetzt, ist Helix von Marc Elsberg.

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Krimi Roman

Colin Cotterill – Briefe an einen Blinden

CN dieses Buch: Mord, Pathologie, Geschlechtsteile
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„[…] Man misst seinen Erfolg nicht daran, ob man die Welt verändert hat, sondern an dem, was man in seinem unmittelbaren Umfeld hat bewirken können. […] In unserem Alter“, sagte sie, „konzentriert man sich auf die kleinen Dinge und versucht, sie möglichst gut zu machen.“

Da ich etwas Unterhaltsames lesen wollte, griff ich als Nächstes zur Reihe um Dr. Siri Paiboun, Pathologe in Laos. Obwohl in diesem Buch eigentlich drei Fälle gelöst, drei verschiedene Geheimnisse entfaltet und untersucht werden, hat es mich erstaunlich unberührt gelassen. Es fühlt sich irgendwie mehr wie Donna Leon an als wie Henning Mankell.

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Krimi Roman

David Lagercrantz – Verfolgung

Aber diese Forscher – und allen voran ein gewisser Professor der Soziologie namens Martin Steinberg – waren der Meinung, dass wir mehr oder weniger zwangsläufig von äußeren Umständen beeinflusst würden. Ein bestimmter Muttertyp, bestimmte soziale und kulturelle Faktoren sollten mehr oder weniger automatisch einen bestimmten Menschenschlag hervorbringen. Aber so ist es nicht – bei Weitem nicht. Der Mensch ist viel komplexer.

Der Start in den zweiten Teil der Fortsetzung der Millenium-Reihe von David Lagercrantz nach Stieg Larsson ist überraschend, die Leserin findet die Protagonistin Lisbeth Salander im Gefängnis wieder. Diese Geschichte erweist sich als erstaunlich dicht, sie enthält eine Vielzahl gesellschaftlicher und sozialer Probleme und zusätzliche Protagonist*innen, die mit Lisbeths Kindheit und Jugend in Zusammenhang stehen.

Im obigen Zitat nehme ich Bezug auf ein soziologisches Experiment, dem Lisbeth, ohne es zu wissen, angehörte. Ich musste dabei darüber nachdenken, wie viel ich in meinen 6 Semestern Bildungswissenschaft über die ethischen und moralischen Schwierigkeiten mit soziologischen Experimenten gelernt habe. Es ist im Prinzip unmöglich, das Verhalten von Menschen unbeeinflusst zu beobachten: Es ist ethisch nicht vertretbar, Menschen ohne ihre Einwilligung zu beobachten. Sobald Menschen allerdings wissen, dass sie beobachtet werden, reagieren sie anders, als sie es ohne das Wissen, dass sie beobachtet werden, getan hätten. Unterschiedliche Formen von Bias wurden hierbei untersucht und definiert.

In der Gestalt der Familie Kazi wird auch ein religiöser Aspekt zum Thema; ein Bereich, der in meiner (kürzlich aufgefrischten) Erinnerung in den ersten drei (bzw. vier) Bänden keine Rolle spielte. Wobei eher die Kritik an der fundamentalistischen Auslegung des Korans durch die männlichen Familienmitglieder und die damit in Zusammenhang stehende Unterdrückung von Lisbeths Gefängnisnachbarin Faria Kazi im Vordergrund steht.

Jedenfalls handelt es sich hier um eine gelungene Fortsetzung der Reihe, die auf deutlich weniger Seiten als der vierte Band (in meinem Fall in der Onleihe-App mit angepasster Schriftgröße: Band 4: ~830, Band 5: –530) eine sehr dichte Kriminalgeschichte präsentiert, die (Achtung, es folgt ein Minispoiler) die Auflösung von Lisbeths Konfrontation mit ihrer Schwester Camilla in den 6. Band verschiebt.

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Krimi Roman

David Lagercrantz – Verschwörung

Und wer weiß, vielleicht verleitete der Wunsch, anderen zu gefallen, die Menschen ja genauso oft zu Verbrechen und moralischen Grenzverletzungen wie Tücke oder Gier.

Knappe zehn Jahre ist es her, dass ich Stieg Larssons Millenium-Trilogie (Verblendung, VerdammnisVergebung) das erste Mal gelesen habe. Der Autor war leider damals bereits verstorben, er starb 2004 an den Folgen eines Herzinfarkts. Seine Buchreihe war angeblich auf zehn Bücher ausgelegt. Der Verlag Norstedts beauftragte schließlich den schwedischen Autor David Lagercrantz mit der Fortsetzung der Reihe, die allerdings nicht auf dem bereits vorliegenden Material von Stieg Larsson basiert.

„Ist es wirklich so weit gekommen, Sonja?“

„Was meinst du?“

„Dass man nichts mehr schreiben oder sagen kann, ohne das Risiko einzugehen, dass man dabei überwacht wird.“

Bevor ich mich also der Fortsetzung der Millenium-Reihe widmete, wollte ich mir die ersten drei Bücher wieder ins Gedächtnis rufen und war überrascht, wie schlecht die Romane gealtert sind. Die häufigen Verweise auf bestimmte Produkte bekannter Computerhersteller, verankern das Buch ganz deutlich am Beginn dieses Jahrtausends. Was damals frisch und spritzig wirkte, fühlt sich zehn Jahre später angestaubt an. Schlecht gealtert fand ich auch die ersten Beschreibungen der Hackerin Lisbeth Salander, die sich massiv auf ihre körperlichen Eigenschaften und die Vorurteile, die oft auf Äußerlichkeiten basieren, konzentrieren. Aus heutiger Sicht erscheint mir diese anfängliche Darstellung dieser komplexen Persönlichkeit nahezu frauenfeindlich.

„Dass heißt also, im selben Moment, in dem wir eine solche Superintelligenz erschaffen, verlieren wir die Kontrolle darüber.“ 

„Es besteht das Risiko, dass alles, was wir über unsere Welt wissen, seine Gültigkeit verliert, und das könnte das Ende unserer menschlichen Existenz bedeuten.“

„Machen Sie Scherze?“

David Lagercrantz setzt sich natürlich der Gefahr aus, die beliebten Protagonist*innen Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist in andere Richtungen laufen zu lassen, als Stieg Larsson das ursprünglich vorgesehen hatte. Andererseits werden wir nie erfahren, welche Zukunft Stieg Larsson erfunden hätte und beim Lesen dieses 4. Teils der Millenium-Trilogie war ich dann schon eher froh, noch mehr Zeit mit den bekannten Figuren verbringen zu können.

Die Themen Hacking, Überwachung und Korruption stehen weiterhin im Vordergrund, dazu kommt eine Beschäftigung mit den unterschiedlichen Formen von Autismus, die für Menschen, die sich intensiver mit diesem Thema auskennen, sicher sehr oberflächlich ausfällt. Trotzdem finde ich es nicht schlecht, dafür auf diese Weise Bewusstsein zu schaffen. Ein weiteres Thema, das wiederum diese Bücher in ihre Zeit einbetten dürfte, ist die Forschung bezüglich Künstlicher Intelligenz (Automatisierung intelligenten Verhaltens und maschinelles Lernen), die gerade sehr in Mode ist. In zehn Jahren werden uns diese Anfänge der Künstlichen Intelligenz möglicherweise ebenso veraltet vorkommen wie ICQ, das irgendwo in den ersten drei Teilen der Millenium-Reihe erwähnt wird. Auch die philosophische Auseinandersetzung mit der Bedeutung von künstlicher Intelligenz bleibt an der Oberfläche, kann aber hoffentlich bei Leser*innen eine weitere Beschäftigung mit dem Thema anregen.

Während die ersten drei Bände Lisbeths Verhältnis zu ihrem Vater und ihre schwierige Kindheit auflösten, wage ich zu prognostizieren, dass sich die Bände 4 bis 6 mit der abtrünnigen Schwester Camilla befassen werden. Zum Glück kann ich alle drei hintereinander lesen ;-)

Vielleicht hat er sein Lebenswerk wirklich zerstört. Vielleicht hat er erst am Ende seine ganze Widersprüchlichkeit offenbart und ist zu einem wahren Menschen geworden, im besten Sinne des Wortes.

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Krimi Roman

Thomas Raab – Still

Wo suchen? War es immer ein und derselbe Täter? Welches Täterprofil verfolgen? Und vor allem, welches Opferprofil? Jeden hätte es treffen können, jeden, der im Verborgenen dunkle Seiten aufzuweisen hatte. Nur, wer hatte das nicht?

Von Thomas Raab habe ich bereits zwei Romane aus der Metzger-Reihe gelesen (Der Metzger muss nachsitzen und Der Metzger sieht rot). Bei Still handelt es sich ebenfalls um einen Krimi, allerdings mit ganz anderem Schreibstil und Aufbau der Geschichte. Der Autor zeichnet ein differenziertes Profil einer verstörten Persönlichkeit. Er lässt seinen Protagonisten Karl Heidemann ein Moralempfinden entwickeln, das auf logischen Grundlagen basiert, aber trotzdem dem in unserer Gesellschaft anerkannten Ideal diametral entgegensteht. Während Karl ein völlig eigenes Empfinden dem Phänomen Sterben und Tod gegenüber entwickelt, leiten ihn in anderen Fragen von Recht und Unrecht rein seine Gefühle. Beides verwebt sich zu einem spannenden Bild mit einem überraschenden Ende.