Categories
English Roman

Colleen Hoover – It Starts With Us

CN: Beziehungsgewalt, Gewalt von Eltern an ihren Kindern, sexuelle Handlungen


Die Fortsetzung zu Colleen Hoovers BookTok-Hit It Ends With Us. Um etwas Feuer Konflikt in die wieder aufflammende Romanze zwischen Lily und Atlas zu bringen, stellt die Autorin Atlas einen unbekannten kleinen Bruder zur Seite, was auch zu Begegnungen mit der abwesenden Mutter führt. Lilys Beziehung zu ihrem nun Ex-Mann Ryle und Vater der gemeinsamen Tochter Emerson wird durch die Entwicklungen zwischen Lily und Atlas natürlich auch nicht einfacher. Im Vergleich zum ersten Roman haben Lily und Atlas jedoch eine deutlich einfachere Zeit, die dominante Beziehungsgewalt von Ryle an Lily findet in deutlich abgeschwächter Form Ausdruck. Es bleibt jedoch das Wissen, dass Ryle als Vater von Emerson immer Teil von Lilys Leben sein wird und ein Auskommen irgendwie ermöglicht werden muss. Atlas bleibt „zu gut, um wahr zu sein“, er macht einfach alles richtig. Wie die beiden sich anhimmeln, ist manchmal schwer zu ertragen, es ist einfach irgendwie zu viel. Das war jedoch im Prinzip erwartungsgemäß und ich hatte mir das Buch genau deshalb ausgeliehen, weil ich gerade einen Eskapismus brauchte, also hat es schon gepasst.


Während meiner Reise nach Antibes im April 2025 besuchte ich auch das Musée de la Carte Postal. Es befand sich in der Nähe unseres Apartments und ich hatte es auf dem Heimweg vom Supermarkt zufällig entdeckt. An einem regnerischen Nachmittag ließ ich also den Hund in der Obhut des Fotografen zurück, um mir die Geschichte der Postkarten anzusehen. Als ich ankam, waren die Räume dunkel, ein älterer Herr saß am Eingang und überreichte mir auf meine Anfrage einen Audioguide (ein Android-Handy mit einer App darauf), betätigte die Lichtschalter und wies mir den groben Weg durch die zwei Räume der Ausstellung.

räumliche Ansicht des Postkartenmuseums, im Vordergrund steht ein Tisch mit einem Glaskasten darauf, in dem auf vier Ebenen spezielle Postkartenexponate betrachtet werden sollen, im Hintergrund sind die Wände mit hohen Schaukästen verkleidet, in denen reihenweise verschiedenste Arten von Postkarten ausgestellt sind

Am Anfang der Ausstellung werden einige Fakten zur Entstehung der Postkarte in nicht ganz chronologischer Reihenfolge präsentiert. Als Ursprung sieht die Ausstellung Telegrammkarten, die mittels Rohrpost zwischen Postämtern versandt wurden, diese enthielten jedoch weder Fotos noch Illustrationen. Als Erfinder der Postkarte gilt der Österreicher Emmanuel Hermann. Er soll die 1. Postkarte (betitelt mit „Correspondenz-Karte“) überhaupt im Jahr 1869 aus Wien versandt haben. In späterer Folge verhandelte er mit der Post einen Sondertarif für diese Karten, die ohne einen Briefumschlag auskamen und zum selben Preis unabhängig von der Entfernung im gesamten österreich-ungarischen Reich verschickt werden konnten („kurze schriftliche Mitteilungen nach allen Orten der Monarchie ohne Unterschied der Entfernung gegen eine Gebühr von zwei Neukreuzern“, Wikipedia). In der Ausstellung ist außerdem eine Karte mit der Einladung zum Begräbnis des Autors Victor Hugo aus dem Jahr 1885 zu sehen. Aus dem Jahr 1889 stammt die erste Postkarte mit einer Illustration, nämlich dem Eiffelturm. Es handelte sich um eine Karte anlässlich der Pariser Weltausstellung. Die erste Postkartenausstellung wurde 1899 in Nizza abgehalten. (Bei der Recherche habe ich in einem Auktionshaus eine Souvenirkarte von dieser Ausstellung gefunden. Der Rufpreis ist 40 Euro.)

Weiter wird erzählt, wie die Postkarte in den Jahren 1900 bis 1920 rasant populär wurde. Als Sammelobjekte wurden sie auf der Straße verkauft und in Alben gesammelt. Daraus entwickelte sich eine regelrechte Industrie, denn die Produktion von Postkarten schuf Arbeitsplätze für etwa Fotograf:innen, Illustrator:innen und Drucker:innen. Einzig die Briefträger:innen sollen nicht so begeistert gewesen sein von der zusätzlichen Arbeit. Die ersten Werbepostkarten kamen von den Druckereien selbst, die mit ihrem eigenen Produkt die Qualität ihrer Ware anpreisten.

Ab hier zeigt die Ausstellung viele Highlights der damaligen Postkartenkultur in einer groben zeitlichen Einordnung. Es folgen einige Beispiele, die mich besonders beeindruckt haben:

1905: Eine unbekannte Person hat Ansichtskarten mit Porträts von damaligen Celebrities (zB Kaiser Franz Joseph I. oder der Komponist Richard Wagner) im Archimboldo-Stil (Porträts aus Früchten und Pflanzen) gestaltet (davon konnte ich wegen der Spiegelungen im Glas leider kein ordentliches Foto machen).

2 Reihen von Postkarten, oben links die Vorder- und Rückseite einer Postkarte, auf der Vorderseite ein französischer Text und eine Schwarz-Weiß-Illustration eines Phonographen, aus dem Sprache erklingt, die Rückseite enthält den Schriftzug „CARTE POSTALE“ und Textfelder zum Eintragen der Adresse, rechts daneben drei Karten, bei denen eine schwarze Scheibe mit einem Loch in der Mitte das zentrale Element bildet, auf der Postkarte ganz rechts ist der Titel „NINA ROSA“, darunter Illustrationen von Katzen und Hunden, die in die Öffnung eines Grammophons hineinhören oder hineinbellen

Bereits im Jahr 1905 konnten auch Audioaufnahmen als Postkarte verschickt werden! Es gab sowohl Scheiben mit aufgenommener Musik (wie es heute noch bei Geburtstagskarten vorkommt) als auch die Möglichkeit, mit einem Phonograph eigene Sprachnachrichten aufzuzeichnen, um sie anschließend zu verschicken.

Postkarte anlässlich der totalen Sonnenfinsternis (Eclipse Total de Sol) am 30. August 1905, in der linken Textspalte sind die Uhrzeiten aufgelistet, an denen die Sonnenfinsternis an verschiedenen Orten zu sehen ist, in der rechten Spalte eine Auflistung von prognostizierten Eklipsen in späteren Jahren, der Hintergrund ist ein Text in Schreibschrift auf grauem Papier, rechts oben ein runder Ausschnitt mit einem Filter, durch den die Sonne betrachtet werden kann

Am 30. August 1905 war eine Sonnenfinsternis zu beobachten. In der Ausstellung findet sich eine Postkarte mit einem runden Ausschnitt und einem violetten Filter zum Durchschauen. Ich fühlte mich sehr erinnert an das große Sonnenfinsternis-Ereignis meiner Lebenszeit: die totale Sonnenfinsternis, die über Zentraleuropa am 11. August 1999 zu beobachten war. Obwohl dem Ereignis natürlich eine wochenlange Berichterstattung und Analyse vorangegangen war, war es trotzdem überraschend, als es finster wurde und tatsächlich die Vögel leiser wurden und auch sonst kaum Geräusche zu hören waren, weil alle einfach nur auf der Straße standen und zum Himmel schauten. Wir beobachteten von einem Parkplatz aus und auch die Mitarbeiter:innen des Supermarkts standen vor dem Eingang und schauten zu.

Ab 1907 durften Frauen in Paris beruflich Taxi fahren (also mit Pferdekutsche). Eine Serie an Fotografien dokumentiert diese Pionierinnen, die es sicher nicht leicht hatten in diesem vormals ausschließlich Männern vorbehaltenen Beruf.

3 Reihen von Postkartenmotiven, oben verschiedene menschliche Gestalten, die vor einem Weltallhintergrund abgebildet sind und auf dem Mond stehen oder sitzen, mittig querformatige Illustrationen von Menschenmengen auf Planeten, die das Ende der Welt feiern, unten hochformatige Ansichten, die Menschen in der Luft schwebend zeigen, einer reitet auf einem übergroßen Vogel, rechts schweben drei Personen an Schirmen über einem Stadtbild mit Fluss

Der Halley’sche Komet versetzte 1910 Menschen in Angst und Schrecken: Wieder einmal wurde das Ende der Welt erwartet und verkündet. Künstler:innen reagierten darauf mit surrealistischen Darstellungen von durchs All fliegenden Menschen, zum Beispiel mit Regenschirmen wie bei Mary Poppins. Auch Illustrationen aus anderen künstlerischen Stilen wie zB Art Nouveau (auch Jugendstil) wie etwa von Alphons Mucha sind auf Postkarten der Sammlung zu finden.

Mich hat der Besuch des Postkartenmuseums sehr inspiriert. Ich habe dort etwa zwei Stunden verbracht und den kompletten Audioguide durchgehört, obwohl mir das Format Audioguide eigentlich nicht so liegt. Seit ich dort war, habe ich Ideen für das Design von Postkarten(serien) im Hinterkopf und warte darauf, bis sich die eine oder andere klar materialisiert. Ausgestellt waren auch Serien von Postkarten zu Jahreszeiten, Monaten, Wochentagen oder sogar Uhrzeiten. Das passt zu einer anderen kreativen Idee, die ich seit einiger Zeit ausbrüte, vielleicht kommt da demnächst etwas heraus.

Categories
English Roman Science Fiction

Adrian Tchaikovsky – Alien Clay

CN: autoritäres Regime, Dystopie, Folter, Gewalt, Tod, Arbeitslager


Das zweite Buch unseres Minibuchclubs aus der Reihe der Hugo Award Nominees (das erste war Calypso).

Sometimes in order to escape the bad place you’re in, you have to go through trauma and hardship. Sometimes letting go of the barbed wire means tearing your skin some more, before you’re free.

Das Buch beginnt mit der Landung des Protagonisten Arton Daghdev auf dem Planeten Kiln, auf dem er als politischer Gefangener in einem Arbeitslager sein Dasein fristen soll. Schnell wird klar, dass die menschliche Welt von einem autoritären Regime beherrscht wird, dass nur The Mandate genannt wird. Als Akademiker war Daghdev auf der Erde Teil einer Widerstandsgruppe, die sich dem Regime entgegenstellte. Dabei störte ihn hauptsächlich die intellektuelle Unehrlichkeit des Regimes, das von der Wissenschaft einfache Antworten auf komplexe Fragen verlangt und Forschungsergebnisse, die nicht in ihr Weltbild passen, gnadenlos unterdrückt.

[…], but it was the intellectual dishonesty of the whole orthodox thing that galled me into action. 

Der Autor zeigt an verschiedensten Beispielen, wie ein oppresives Regime die Menschen unterdrückt. Kontinuierliche Überwachung, Manipulation von Geschehen und Geschichte, niemand kann dem anderen noch trauen, jede:r fragt sich ständig, wer ihn oder sie an das Regime verraten hat. Auch für treue Diener:innen des Systems bietet es keine Sicherheit. Ein bürokratischer Fehler kann genauso zur Verbannung ins Arbeitslager führen wie tatsächliche Revolutionsaktivitäten. Auch der Bias in Algorithmen und künstlichen Intelligenzen, der aktuell so häufig thematisiert wird, wird angesprochen: Wenn du einen Computer so programmierst, dass er etwas Bestimmtes erwartet, dann wird er es auch finden (selbst, wenn es nicht existiert). Dieser Faktor erscheint mir als zentral in der Debatte um Überwachung, die alle paar Jahre immer wieder aufflammt: Selbst wenn du dir nichts zuschulden kommen lässt, kann die Auswertung von Überwachungsdaten etwas finden, das dir dann zum Vorwurf gemacht wird. Anlasslose Massenüberwachung macht die Welt nicht sicherer. Es gibt keine Person, die nichts zu verbergen hat.

A blameless cog in the Mandate’s machine, until a bureaucratic error pointed the wrong finger at him. […] If you program your computers to expect wrongdoing, then they’ll most certainly find it.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der speziellen Beschaffenheit der Flora und Fauna auf dem Planeten Kiln. Ziel ist die Erforschung der Ruinen, die eine schriftliche Dokumente enthalten, die jedoch noch nicht entziffert werden konnten. Das Regime erwartet die Lüftung des Geheimnisses der Entstehung dieser Ruinen, es wird nach den Erbauer:innen geforscht. Gefunden wurde bisher jedoch nur eine sehr angriffslustige Biosphäre, von der aufgrund bisheriger Präzedenzfälle angenommen wird, dass sie Menschen in kürzester Zeit tötet oder verrückt macht. Mit den ausführlichen Beschreibungen von Pflanzen und Tieren konnte ich nicht so viel anfangen, irgendwie konnte ich mir die beschriebene Natur nicht bildlich vorstellen.

Bei ungefähr 70 Prozent des Buchs war ich mir vollkommen unsicher, wo die Geschichte noch hinführen könnte. Die Situation von Arton und den anderen Gefangenen wurde ständig hoffnungsloser, ein weiterer Revolutionsversuch scheitert aufgrund von Verrat, Artons Exkursionsgruppe verliert ihr Fluggerät und wird im Dschungel zurückgelassen. Ohne zu spoilern möchte ich sagen, dass mich das Ende sehr überrascht hat. Der Weg dorthin war vielleicht etwas länger als nötig, aber die Auflösung war sehr überraschend.

Weitere Erkenntnisse aus unserer Buchclub-Besprechung trage ich demnächst nach.

Categories
English Roman

Kaouther Adimi – A Bookshop in Algiers

CN: 2. Weltkrieg, Gewalt, Revolution, Kolonialismus


You will be alone; you have to be alone to get lost and see everything. There are some cities, and this is one, where any kind of company is a burden. You wander here as if among thoughts, hands in your pocket, a twinge in your heart.

Während ich darauf wartete, dass endlich das zweite Buch für unsere kleine Buchclubgruppe für mich frei würde, suchte ich nach einem Zwischenbuch, das kurz und noch dazu leicht zu lesen sein sollte. Bei der Suche nach einem Bookshop-Buch fiel mir dieses ins Auge. So leicht zu lesen war es dann gar nicht, aber dafür umso interessanter.

Auf zwei Zeitebenen wird die Geschichte eines fiktiven Buchgeschäfts in Algier erzählt. Gegründet von Edmond Charlot im Jahr 1935 wurde das Geschäft und der Verlag ein Ort der Zusammenkunft für Literat:innen und freie Denker:innen der damaligen Zeit. Der echte Edmond Charlot hat zwar einen Verlag gegründet, das Buchgeschäft ist aber soweit ich herausfinden konnte, eine Erfindung der Autorin Kaouther Adimi.

In Tagebuchform geben Charlots (fiktive) Texte Einblick in die algerisch-französische Politik vor und während des 2. Weltkriegs. Von 1830–1962 wurde Algerien von Frankreich besetzt und beherrscht. In kurzen Einträgen werden die politischen Veränderungen in dieser turbulenten Zeit beschrieben, unter anderem die Schwierigkeit, überhaupt an bedruckbares Papier zu gelangen.

Die moderne Zeitebene erzählt von der Demontage des fiktiven Orts im Jahr 2017. Protagonist Ryad kommt aus Paris nach Frankreich, um im Auftrag eines Investors das Geschäft auszuräumen und für sein neues Leben als Beignet-Shop vorzubereiten. Mit Büchern hat Ryad nichts am Hut. Das ändert sich auch im Verlauf der Geschichte nicht wirklich. Ryad lernt die Nachbarschaft und den früheren Hüter des Buchgeschäfts kennen, die im Klappentext angekündigte Veränderung (he begins to understand that a bookshop can be much more than just a shop that sells books) seiner Sichtweisen konnte ich jedoch nicht nachvollziehen.

Obwohl das Buch völlig anders war als von mir erwartet/erhofft, habe ich es gern gelesen. Auch die schwärmerischen Beschreibungen der heutigen Stadt Algier (siehe obiges Zitat) haben mir sehr gut gefallen. Letztendlich zeichnet die Autorin ein Bild eines Orts, an dem Gedanken und Wörter einen Platz haben und sich darauf eine Gemeinschaft gründet. Bücher können Menschen verändern. Und Menschen können die Welt verändern. Wenn sie sich zusammentun und an ein gemeinsames Ziel glauben. Ein hoffnungsvoller Ausblick.

Categories
English Sachbuch

Janetta Rebold Benton – How To Understand Art

CN: Es wird von den Lebenserfahrungen verschiedener Künstler:innen berichtet, dazu gehören auch (chronische) Krankheiten, Gewalt und Suizid. Im Blog Post kommen diese Themen aber nicht weiter vor.


Dieses Buch habe ich 2022 bei meinem letzten Besuch in London gekauft, im Museumsshop des National Maritime Museum. Gerne hätte ich das Museum auch besucht, aber das Wetter war einfach zu schön und es gab zu viel zu sehen. Mit Kunst habe ich mich also vor drei Jahren schon befasst und spezifisch hatte mich offenbar die Frage im Titel dieses Buchs beschäftigt. Ich hatte schon einmal begonnen, es zu lesen, dann allerdings gemerkt, dass ich nichts mitnehmen konnte. Dann stand es eine Zeitlang im Regal, bis ich es nun in meinen Alltag und auf Reisen mitnahm und mir in meinem Notizbuch viele Zitate und Erkenntnisse aufgeschrieben habe.

Die Autorin Janetta Rebold Benton ist Kunsthistorikerin und beginnt mit einer Abgrenzung der in diesem Buch behandelten Kunst: Sie befasst sich mit den visual arts (bildnerische Kunst?) mit einem Fokus auf Gemälde und Skulptur und nimmt sich zum Ziel, die Fundamente zu analysieren, die allen Arten der bildnerischen Kunst zugrundeliegen. Dazu zählt sie ästhetische Prinzipien und Stile sowie Materialien und Techniken. Das Buch soll die Leser:in anleiten, einen Referenzrahmen zu entwickeln, der es ermöglicht, die in bildnerischer Kunst ohne Worte transportierten Konzepte zu verstehen. Der Kontext des jeweiligen Kunstwerks – die Epoche, die Lebensumstände des Künstlers/der Künstlerin, die vielfältigen Einflüsse, die das jeweilige Leben prägen – ist dabei essentiell, um die künstlerisch verarbeiteten Themen zu verstehen.

But is his Bull’s Head in a museum because it is art, because it is clever, or because it is by Picasso?

Wie viele andere bin auch ich schon vor Kunstwerken gestanden (oder habe sie in Medien gesehen), bei denen ich mir dachte: Das könnte ich aber auch und warum ist das Kunst und wer entscheidet überhaupt, was Kunst ist und was nicht? Dennoch sind meine Berührungspunkte mit Kunst in meinem Leben immer noch kaum mehr als ein Eintauchen des kleinen Zehs ins weite Meer. Meine eigene grafische Arbeit, die ich sowohl als Erwerbsarbeit als auch in ehrenamtlicher Form ausübe, habe ich immer ganz klar als Handwerk und nicht als Kunst bezeichnet und empfunden. Meine Werke hatten immer eine Funktion, die über purer Ästhetik oder kreativer Expression steht. Ich habe auch mit Künstler:innen zusammengearbeitet, deren kreative Expression im Widerspruch zu meinem persönlichen Empfinden von Ästhetik und/oder Funktionalität standen. Auf manche dieser Konflikte Meinungsverschiedenheiten blicke ich heute mit Interesse zurück.

Der Unterscheidung zwischen Kunst und Handwerk widmet auch die Autorin einige Gedanken. Laut ihren Angaben wurde das Konzept fine art im Europa des 18. Jahrhunderts definiert. Dabei wird auf eine hohe ästhetische Qualität wertgelegt. Angewandte Kunst (applied arts) wird mehr mit dem Erschaffen und Dekorieren von funktionellen Objekten in Verbindung gebracht.

In European academic traditions, fine art (or, fine arts) is made primarily for aesthetics or creative expression, distinguishing it from popular artdecorative art or applied art, which also either serve some practical function (such as pottery or most metalwork) or is generally of limited artistic quality in order to appeal to the masses. (Wikipedia)

Eine anderer Zugang zur Definition von Kunst betrifft die Intention, die hinter einem (Kunst-)Werk steht:

If the person who created the work did not consider it art, can it nevertheless legitimately be proclaimed to be art by curators and critics at a later date?

Spoiler: Diese und viele andere Fragen bleiben im Großen und Ganzen unbeantwortet, weil es wohl auch keine einfachen Antworten darauf gibt. Für mich bleibt die Erkenntnis, dass sich Kunst einfach nicht bis ins kleinste Detail erklären lässt. Müssen Kunstwerke schön sein? Sind sie mehr oder bessere Kunst, wenn sie bei der Betrachter:in starke Emotionen auslösen? Soll ein Kunstwerk der Betrachter:in alles sagen, alles klar und deutlich zeigen oder versteht die betrachtende Person mehr davon, wenn sie sich tatsächlich mit dem Werk intensiver befassen und auseinandersetzen muss? Dazu gibt es auch ein Zitat von Edgar Degas, das mir in einem anderen Umfeld während der Lektüre dieses Buchs über den Weg gelaufen ist (The Socratic Method analysiert dieses Zitat von einem philosophischen Standpunkt her, ich könnte diesen Text immer wieder lesen):

Art is not what you see, but what you make others see.

Schon relativ zu Beginn des Buchs war mir aufgefallen, dass klassische Kunst schon gehörig eurozentristisch bzw. westlich daher kommt. Später im Buch betont die Autorin konkret, dass Menschen „open-minded“ an die Werke herangehen und sich auch mit unbekannten Kulturen, Zeiten und Ideen einlassen sollen. In diesem Zusammenhang erklärt sie auch, dass die Bewertung von „craft“ oder „folk art“ als weniger wertvoll eine rein westliche Einstellung ist, die in den Kulturen, auf die diese Bewertung angewandt wird, unbekannt ist. Auch wenn der Fokus der in diesem Buch gezeigten und erläuterten Kunstwerke auf den Werken europäischer Männer liegt, wird zumindest versucht, den Blick zu öffnen und auch weniger bekannten Kulturen einen Raum zu geben.

Im Anschluss folgen noch ein paar Zitate, die ich für mich selbst hier zum Nachschlagen aufheben möchte (jedes Zitat stammt aus dem Buch):

  • “[…] art is not a science.” (Seite 38)
  • Renaissance: “Now believing that artistic inspiration was divine in origin, society regarded artists as favoured by God and thus different from other people.” (Seite 24)
  • Tradition vs. innovation: “Is ist possible to create art according to rules and theories, […]?” (Seite 27)
  • Basic elements of visual art: colour, line, texture, light, space, composition (made up of balance, proportion, unity), emotion (Seite 38)
  • “If line pleased the mind, while colour pleased the eye, was the purpose of painting to educate and elevate our intellect or to provide visual pleasure?” (Seite 43)
  • Mosaic: “The mosaicist varied the size of the tesserae, using smaller pieces for the faces then for the background.” (Seite 72)
  • “The term decorative arts refers to items that have both aesthetic beauty and practical purpose. Included are enamel work, stained glass, tapestry, ceramics, jewelry and furniture.” (Seite 85)
  • “The French term for still live is nature morte, literally ‘dead nature’” (Seite 107)
  • Pop Art does not oppose or criticize. Instead, Pop Art encourages the viewer to look at ordinary things with fresh eyes.” (Seite 160)

Über abstrakte Kunst:

  • “[…] abstract art has no connection to the visible world” (Seite 62)
  • “The viewer’s role in interpreting non-representational art is personal and cerebral, for without definite clues from the artist, each individual’s understanding of the artwork will vary. The viewer must make an effort to arrive at an interpretation and may therefore get more out of participating in the process than by being a passive, unquestioning observer.” (Seite 122)
  • “Abstract art appeals to our emotions, memories and experiences – what is deeply moving for one person may be meaningless to another.” (Seite 122)

In meiner Leseliste habe ich übrigens auch ein Buch mit dem Titel How To Enjoy Art, das ich bisher immer vor mir her geschoben hatte, weil ich ja zuerst die Kunst verstehen müsste (dachte ich). Außerdem habe ich gerade einen neuen Versuch gestartet, mehr Kreativität (und vielleicht sogar Kunst?) in meinen Alltag zu bringen. Es ist also gut möglich, dass es hier bald mehr Erkenntnisse Gedanken über Kunst zu lesen gibt.

#12in2025: 5/12

Categories
English Fantasy Roman

N. K. Jemisin – The Stone Sky

CN: Rassismus, Ausbeutung, Gewalt, Tod


Normal gazes that avert or frown or ogle. With every glimpse of normalcy, the city teaches us just how abnormal we are.

Der dritte Teil der Broken-Earth-Trilogie hat mich nach dem eher enttäuschenden zweiten Teil wieder sehr mit der Serie versöhnt. Die Stone Eaters haben eine Vorgeschichte erhalten, die im zweiten Teil immer nur angedeutet wurde. Manche Fragen wurden beantwortet, viele sind jedoch offen geblieben. Der Radfahrer und ich waren uns einig, dass das Ende noch viele Möglichkeiten offen gelassen hat. Für mich hätte speziell Nassun ein etwas versöhnlicheres Ende verdient gehabt. Ich kann mich an wenige Bücher erinnern, wo ich so konkrete Ideen gehabt habe, was am Ende noch anders sein hätte können. Und doch bleibt es für mich eine sehr gelungene Fantasy-Reihe, die ich auch allen empfehlen kann, die sich für das Genre interessieren.

Categories
English Roman

Ruth Reichl – The Paris Novel

CN: sexueller Kindesmissbrauch, Essen (viel nicht-pflanzliches Essen)


Zur obigen Inhaltsinformation möchte ich ergänzen: Das Buch beginnt mit der Beschreibung einer schwierigen Kindheit, neben der Missbrauchserfahrung fehlt auch ein liebevolles Verhältnis zu den Eltern (die Mutter kalt und distanziert, der Vater unbekannt und abwesend). Der Großteil des Buchs beschreibt dann aber, wie sich die erwachsene Protagonistin von dieser Kindheit löst und zu sich selbst findet. Das hat mich mit dem bedrückenden Beginn der Geschichte versöhnt. Zuerst hätte ich das Buch fast weggelegt, weil ich zu diesem Zeitpunkt einfach dringend etwas Eskapismus und Komfort brauchte.

Der von mir erhoffte Eskapismus findet sich ab dem Kapitel 4, in dem die Protagonistin Stella in einem kleinen Laden in Paris ein Vintagekleid findet, das ihren weiteren Lebensweg verändern soll (eigentlich findet sie das Kleid in Kapitel 2, aber danach kommt noch eine Rückblende in die oben erwähnte schwierige Kindheit). Ab diesem Zeitpunkt ist das Buch voll von sinnlichen Erfahrungen und Begegnungen mit interessanten Menschen. Die Autorin lässt ihre Erfahrungen als Gastrojournalistin in die Beschreibung der vielen außergewöhnlichen Mahlzeiten einfließen. Ihr Memoir über ihren Aufstieg von der Rolle als Restaurantkritikerin zur Gestalterin eines renommierten Food-Magazins habe ich gern gelesen.

In diesem Roman verzichtet sie (fast) vollständig auf zu oft gelesene Winkelzüge und bringt ihre Protagonistin Stella in Kontakt mit vielen interessanten Menschen (darunter Zeitzeugen wie James Baldwin und Allen Ginsberg). Als Kulisse dient das Buchgeschäft Shakespeare & Company. Noch spannender sind aber ihre erfundenen Figuren wie der gutherzige Jules Delatour oder der spröde Chef Django. Die aufwändige Suche nach der nahezu vergessenen Malerin Victorine-Louise Meurent bildet den Hintergrund für viele Exkursionen und Streifzüge durch das Paris der 1980er-Jahre.

Categories
English Fantasy Roman

Terry Pratchett – Small Gods

CN: Inquisition, Folter, Gewalt, Krieg


Belief, he says. Belief shifts. People start out believing in the god and end up believing in the structure.

Vielleicht der beste Scheibenwelt-Roman, den ich je gelesen habe. Wie sich Sir Terry gleichzeitig über Philosophie, Religion, Wissenschaft und Politik lustig macht und in jedem dieser Bereiche genau die Schwächen herauspickt, ist einfach großartig. Ein einst großer Gott, den es aus einem unbekannten Grund in den Körper einer Schildkröte verschlagen hat. Ein streng gläubiger junger Mönch, der als Einziger noch tatsächlich an den Gott glaubt, der nun als Schildkröte zu ihm spricht. Wie sich dieser junge Mönch durch seine Erfahrungen von der Kirche (der im obigen Zitat benannten Struktur) emanzipiert und seine eigenen Moralvorstellungen verfolgt.

Angesichts der aktuellen politischen Ereignisse ist es vielleicht nicht ganz der Eskapismus gewesen, den ich mir üblicherweise von Fantasy (und spezifisch von der Scheibenwelt) verspreche. Nichtsdestotrotz eine große Empfehlung von mir, ich musste immer wieder laut lachen. Ein Meisterwerk.

‘He’s muffed it,’ said Simony. ‘He could have done anything with them. And he just told them a lot of facts. You can’t inspire people with facts. They need a cause. They need a symbol.’

#12in2025: 3/12

Categories
English Novelle Roman

John Steinbeck – The Pearl

CN: Armut, Gewalt, Tod eines Kindes


For every man in the world functions to the best of his ability, and no one does less than his best, no matter what he may think about it.

Kino und Juana sind ein ärmliches Paar mit einem Baby. Sie leben in einem Dorf von Perlenfischern (vermutlich in Mexico, wie ich später aus Hinweisen zusammenkombiniert habe). Sie sind arm, aber sie lieben einander. Als das Baby von einem Skorpion gestochen wird, beten beide um ein Wunder. Kino findet eine gigantische Perle. Was zuerst beiden als Glück ihres Lebens erscheint, erweist sich als das genaue Gegenteil. Gier und Neid schlägt ihnen entgegen und auch Kino selbst verändert sich unter dem gefährlichen Gesang der Perle, der den Rhythmus seines Familienlebens überdeckt. Eine zeitlose Parabel.

#12in2025: 2/12

Categories
English Fantasy Roman

N. K. Jemisin – The Obelisk Gate

CN: Rassismus, Gewalt, Tod, Mord, Folter


Die Fortsetzung von The Fifth Season, auf die ich mich so gefreut hatte. Leider wurde diese Freude nicht vollständig erfüllt, der zweite Band fällt nach meiner Meinung deutlich schwächer aus. Unsere Protagonistin Essun findet auf ihrer Reise neue Gesellschaft, verliert aber die Spur ihrer Tochter und landet in einer kommunistisch angehauchten Untergrund-Community namens Castrima, die sich dem friedlichen Zusammenleben unterschiedlicher Menschen verschrieben hat. Hier sollen Stills (gewöhnliche Menschen ohne besondere Kräfte), Orogene und Stoneeaters zusammenleben können, ohne sich ständig gegenseitig zu bekämpfen.

Manches wird erklärt, das im ersten Teil offen geblieben ist, aber insgesamt werden noch mehr Fragen aufgeworfen. Das rassistische System, das die Guardians zur Ausbeutung der Orogenen etabliert haben, wird durch die mutmaßliche Beteiligung der Stoneeaters an dem Konflikt nur noch komplizierter. Die Geschichte ist gut, aber nicht so gut wie im ersten Teil. Einen Hugo Award hätte ich dem zweiten Band jedenfalls nicht verliehen. Der Radfahrer liest noch am dritten Band (und findet den deutlich besser als den zweiten, daher habe ich Hoffnung).

Categories
English Roman

Madeline Miller – The Song of Achilles

CN: sexuelle Gewalt, Krieg, Mord, Abwertung von Weiblichkeit, Menschenopfer

You were given a choice and you chose. You must live by it now.

2018 gab es einen großen Hype um Madeline Miller und ihren damals erschienenen Roman Circe (meine Besprechung aus dem September 2020), der griechische Mythologie aus der Sicht der Hexe Circe erzählt, die Männer in Schweine verwandelt haben soll. Dies war jedoch bereits der zweite Roman der Autorin, ihr erster Roman The Song of Achilles ist bereits 2011 erschienen.

Meine Kenntnis der griechischen Mythologie ist sehr überschaubar. Während des Lesens fühlte ich mich immer wieder an den Film Troy (dt.: Troja) aus dem Jahr 2004 erinnert, in dem die Rolle des Achilles von Brad Pitt verkörpert wird. In diesem Film ist Achilles ein erfolgreicher Krieger, gelangweilt vom Töten und kaum interessiert an der Eroberung Trojas. Bis sein Freund Patroclus in Achilles’ Rüstung in die Schlacht zieht und dabei zu Tode kommt …

As I ran, I promised myself that if I ever saw him again, I would keep my thoughts behind my eyes. I had learned, now, what it would cost me if I did not.

Ob wesentliche Elemente der Geschichte originalgetrau erzählt werden, kann ich mangels Kenntnis der alten Geschichten nicht beurteilen. Der Autorin ist es jedenfalls gelungen, eine bekannte Geschichte mit einem vollständig neuen Hintergrund zu erzählen. Achilles und Patroclus sind hier ein Liebespaar, bedroht von der ständigen Missgunst von Achilles’ Mutter Thetis, den Prophezeiungen, die ihm entweder Ruhm und einen frühen Tod oder ein langweiliges Leben in Vergessenheit versprechen, und den Erwartungen der Gesellschaft (die eine Liebesbeziehung zwischen zwei Burschen noch tolerieren würde, jedoch erwartet, dass die Jungen irgendwann erwachsen werden, eine Frau heiraten und Nachwuchs produzieren).

As for the goddess’ answer, I did not care. I would have no need of her. I did not plan to live after he was gone.

Berührende Momente – wie zum Beispiel der alte König Trojas, der sich ins Lager der Griechen schleicht, um Achilles um den Leichnam seines getöteten Sohnes Hector zu bitten – werden in diesem Buch ähnlich erzählt wie ich sie aus dem oben genannten Film schon kannte. Viele andere Aspekte waren mir natürlich völlig neu. Gerade die Entwicklung der Beziehung zwischen Achilles und Patroclus bietet Raum für eine Erzählung, die Bereiche erforscht, die von den Mythen nicht abgedeckt werden. So entwickelt sich eine differenzierte Beziehung zwischen dem Halbgott und seinem Gefährten. Das (eigentlich traurige) Ende bietet eine Versöhnung an: das lange ersehnte Verständnis der Mutter für die Liebe ihres Kindes zu einem von ihr verhassten Sterblichen.